Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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Arbeitsfelder auf, so schlug sie beispielsweise betriebliche Wohlfahrt oder praktische Liebestätigkeit in Vereinen vor. Gemäss Jähnichens Typologie vertrat die SGG sowohl die sozialpatriarchale wie auch die sozialdiakonische Haltung. Im Gegensatz zur Zürcher Kirche und zur Predigergesellschaft rezipierte die SGG auch die damalige theoretische Diskussion über die soziale Frage sehr genau. Aufgrund ihres optimistischen Fortschrittsglaubens und ihrer grossen Wertschätzung der Industrialisierung sah die SGG in der sozialen Frage lediglich eine Übergangserscheinung, die sich mit der Zeit von selbst lösen würde. Insofern zeichneten sich in der SGG bereits sozialliberale Ansätze ab.143

      Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der schweizerische Protestantismus zunehmend von der Herausbildung kirchlicher Parteien, dem sogenannten Richtungswesen, bestimmt.144 Selbst wenn gelegentlich die Hoffnung |49| geäussert wurde, die soziale Frage könne die zerstrittenen Richtungen einen,145 so widerspiegelten sich die theologischen Richtungskämpfe dennoch auch in dieser Diskussion.146 Die Dominanz dieser Richtungskämpfe führte dazu, dass die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage im Hintergrund blieb oder diese gar für die Richtungskämpfe instrumentalisiert wurde.147 Die Behandlung der sozialen Frage verlagerte sich deshalb in die theologischen Richtungen hinein und führte so zur Ausgestaltung unterschiedlicher sozialpolitischer Haltungen innerhalb des schweizerischen Protestantismus. Diese zunehmende Differenzierung lässt sich besonders anschaulich in den kirchlichen Zeitschriften beobachten.148 Bis Mitte der 1860er Jahre wurde in sämtlichen Zeitschriften auf die Wichtigkeit der sozialen Frage hingewiesen und die Untätigkeit der Kirche beklagt, konkrete Lösungsansätze wurden jedoch noch keine präsentiert.149 Ende der 1860er Jahre und Anfang der 1870er Jahre begannen |50| die theologischen Richtungen dann ihre je eigenen sozialpolitischen Ideen zu propagieren. Das Richtungswesen führte so bei den drei theologischen Richtungen – den Reformern, den Vermittlern und den Bekenntnistreuen –, zu einer unterschiedlichen Behandlung der sozialen Frage, wie im Folgenden dargestellt wird.

      Die Reformer bezeichneten ihre Theologie auch als «freisinnige, freie oder spekulative Theologie».150 Sie kämpften gegen den «Dogmatismus» in der Kirche und für eine Anpassung von Bekenntnis, Liturgie und Autorität der Heiligen Schrift ans Zeitverständnis.151

      Das Aufkommen der sozialen Frage deuteten die Zeitschriften der Reformer nicht moralisch, sondern als logische Folge der industriellen Entwicklung. Ein Artikel von 1866 beurteilte beispielsweise die industrielle Entwicklung äusserst positiv, die sozialen Probleme wurden lediglich als Übergangsphänomene angesehen: «Er [der Mensch] muss den industriellen Fortschritt der Zeit, statt bekämpfen, sich dienstbar machen, selbst ausbeuten.»152 Die Reformer benannten aber auch die negativen Folgen des industriellen Fortschrittes, welche die sozialen Probleme verursachten: «Der Uebelstand entspringt aus der Natur der neuern Industrie selbst.»153 Zur Lösung der sozialen Frage warnten sie anfänglich vor einem Staatsinterventionismus und favorisierten stattdessen die Selbsthilfe der Arbeiter.154 Die Armut deuteten die Reformer bereits sehr früh nicht mehr moralistisch und in sozialpatriarchaler Tradition als Folge der Sünde. Ebenso wenig erachteten sie Arbeit und Sparsamkeit als erfolgreiches Heilmittel dagegen: «Es gelingt bei Weitem nicht Allen, die arbeiten und sparen, reich zu werden und hinwiederum ist auch der vorhandene Reichthum nicht nur ein Produkt der Arbeit und der Sparsamkeit, vielmehr spielen Glück und Unglück dabei eine sehr grosse Rolle […].»155 Mit der Zeit |51| fand bei den Reformern jedoch ein Gesinnungswandel statt. Die soziale Frage wurde nicht mehr bloss als Übergangsphänomen angesehen, das mit dem Fortschritt automatisch verschwinden würde. Immer mehr begannen die Reformer in der Diskussion, beispielsweise auch bei der Revision der Bundesverfassung, ein eidgenössisches Fabrikgesetz zur Lösung der sozialen Frage zu begrüssen: «Vergesst, dass wir verschiedenen Kantonen, verschiedenen religiösen Parteien angehören, und ergreift die schöne Gelegenheit einer be­­vorstehenden Bundesrevision, vom Bund alles das zu verlangen, was zwar noch lange nicht die Lösung der sozialen Frage ist, wohl aber mit ein Grundstein zum gesunden, starken, kräftigen Bau, an dessen Aufrichtung alle warmen Herzen im eigenen Interesse des Arbeiterstandes arbeiten.»156 In ihrem Einsatz für ein planmässiges sozialstaatliches Handeln lassen sich bei den Reformern gemäss Jähnichens Typologie Ansätze einer sozialkonservativen Haltung ausmachen. Die sozialpatriarchale Haltung war weitgehend überwunden.

      Die Vermittler standen theologisch zwischen den Reformern und den Bekenntnistreuen. Wie die Bezeichnung bereits andeutet, wollten sie zwischen den beiden anderen Richtungen vermittelnd und ausgleichend wirken.157 Sie engagierten sich daher nicht nur in der Frage des Bekenntnisses, sondern auch in der sozialen Frage gegen jegliche Polarisierung. So waren sie der Auffassung, dass auch die soziale Frage ein Problem der Polarisierung sei: «Die soziale Frage, soweit sie Arbeiterverhältnisse anbelangt, beruht im wesentlichen auf der Kluft, welche Dienende und Herrschende, Arme und Reiche von einander trennt.»158 Die Vermittler plädierten dafür, diese «Kluft» durch versöhnliches und sozialpatriarchales Handeln der Unternehmer zu schliessen: «Es gibt nur ein Mittel die giftige Quelle zu schliessen, und diese Quelle heisst: Veredelung des Kaufkontraktes durch ein persönliches Verhältnis gegenseitigen Wohlwollens, ein Verhältnis, bei dem der Fabrikherr, der Leiter und Lenker des Geschäftes, seine Arbeiter zwar in ihrer Fabriktätigkeit als willenloses Werkzeug, in jeder anderen Hinsicht aber als befreundete Genossen |52| behandelt.»159 In diesem Sinn berichtete das Volksblatt dann auch euphorisch über einen Vortrag des «Grossindustriellen» Sarasin und begrüsste seinen Weg zur Lösung der sozialen Frage. Den Unternehmern sprachen die Ver­­mittler eine besondere Kompetenz bei der Lösung der sozialen Frage zu: «In­­zwischen will ich mein Referat schliessen, damit nicht am Ende der Leser meine, ich sei auch ein Grossindustrieller, der die Sache noch besser wissen sollte als Herr Sarasin.»160 Die Vermittler empfahlen auch das Büchlein161 des Unternehmers Johann Caspar Brunner zur Lektüre und betonten, es wäre viel gewonnen, wenn die Arbeiter mehr auf die Unternehmer hörten.162 Besonders hervorgehoben wurde von den Vermittlern, dass eine echte Lösung der sozialen Frage nur durch das Christentum geschehen könne, denn «ohne das Christenthum wird es nie eine dauernde Lösung der sozialen Frage geben».163 Aufgrund ihres Vertrauens in eine durch patriarchale Unternehmer herbeigeführte Lösung können die Vermittler der sozialpatriarchalen Haltung zugeordnet werden.

      Die Bekenntnistreuen, später meist mit dem Begriff «Positive» bezeichnet, setzten sich für ein traditionelles Verständnis des Christentums ein und kämpften für den Erhalt des traditionellen christlichen Glaubens sowie für «die Weckung und Pflege des religiös-sittlichen und kirchlichen Lebens in den Gemeinden».164 Die Bekenntnistreuen deuteten in ihren Zeitschriften die soziale Frage sozialpatriarchal als eine Folge der Sünde: «Die Ursache der Noth sucht man meistens im Aeussern, statt wo sie wirklich zu suchen ist in den Herzen, man vergisst, dass gerade die feineren Sünden des Hochmuths, der Gottentfremdung eine Quelle nicht nur der sittlichen Zerrüttung, sondern |53| auch des ökonomischen Verfalls werden können.»165 In Ergänzung zur weit verbreiteten Ansicht im Protestantismus, wonach die Sünde der Arbeiter die Hauptursache der sozialen Frage sei, vertraten die Bekenntnistreuen die Überzeugung, nicht nur der sündhafte Lebenswandel der Arbeiter, sondern auch derjenige der Unternehmer sei eine Ursache der sozialen Frage. Der deutsche Industrielle Carl Mez (1808–1877)166 brachte an einem Treffen der Bekenntnistreuen in Baden deren moralischen Zugang auf den Punkt, indem er selbst­kritisch die soziale Frage als Folge der schlechten Moral der Unternehmer bezeichnete: «Wir sind lieblos, unweise in Genüssen, z. B. Tabak.»167 Die Be­­kenntnistreuen waren jedoch durchaus auch der Überzeugung, dass die Arbeiter durch ihre Sünde und Gottlosigkeit die soziale Frage mit verursachten, denn «was hilft’s, wenn die Arbeiter ihre Freistunden und zwar bis spät in die Nacht hinein mit Vorliebe in Localen der denkbar schlechtesten Atmosphäre zubringen»?168 Sie propagierten die sozialpatriarchale Haltung zur Lösung der sozialen Frage: Die Unternehmer sollten ihre Arbeiter als Erweiterung ihrer Familie betrachten und sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistlich für sie verantwortlich fühlen.