Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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die Industrie musste sich auf die maschinelle Weiterverarbeitung eingekaufter Rohstoffe konzentrieren.

      Ein weiteres Charakteristikum der Industrie in der Schweiz war die dezentrale Industrialisierung der vorwiegend ländlichen Gebiete.55 Die Rohstoffarmut und die damit einhergehende Spezialisierung auf die Weiterverarbeitung der Rohstoffe brachten es mit sich, dass sich die Industrien entlang von Flüssen in ländlichen Gebieten ansiedelten, um so die Wasserkraft zu nutzen. Die dezentrale Industrialisierung ermöglichte es den Menschen, in ihren angestammten Orten zu bleiben. Dies hatte den Vorteil, dass die Arbeiter neben dem Fabriklohn meist noch ein zweites Einkommen, ein sogenanntes Subsidiäreinkommen, in der Landwirtschaft hatten und somit nicht ausschliesslich von der wirtschaftlichen Konjunktur der Industrie abhängig waren. Durch diesen zusätzlichen Erwerb und die Beheimatung in den dörflichen Strukturen empfanden sich die Arbeiter in der Schweiz nicht als Proletarier, sondern als Kleinbürger.56 Aus diesem Grund erfolgten die Urbanisierung und die immense Ansammlung von Arbeitern auf kleinstem Raum in der Schweiz nur in abgeschwächter Form und es bildete sich kein eigentliches Massenproletariat.57 Weil sowohl die Arbeiter als auch die Unternehmer – trotz der fortschreitenden Industrialisierung an vielen Orten der Schweiz – weiterhin in die ländliche Sozialstruktur eingebunden waren, unterblieb eine Polarisierung der beiden Gruppen, wie sie beispielsweise in Frankreich oder Deutschland zu beobachten war, weitgehend.

      Ausserdem kennzeichnete die Schweiz ein relativ hohes Bildungsniveau. Um konkurrenzfähig zu sein, war die rohstoffarme Schweiz nämlich gezwungen, ihren Wettbewerbsnachteil durch Spezialisierung der Arbeit, Erfindergeist und konsequente Rationalisierung zu kompensieren.58 Dieses Bildungsniveau ermöglichte der Industrie den Einsatz qualifizierter Arbeitskräfte, was für die Spezialisierung der Arbeit eine wichtige Voraussetzung war.59

      Gesellschaftspolitisch charakterisierte die Schweiz ein früh demokratisiertes Staatswesen. Durch die radikalen und demokratischen Bewegungen sowie die Bundesverfassung von 1848 waren die Volksrechte bereits früh stark |30| entwickelt. Die Schweizer Arbeiter hatten daher nicht nur vielerorts einen bescheidenen Bodenbesitz, sondern besassen auch weitgehend demokratische Rechte.60 Aus diesem Grund entstanden in der Schweiz Arbeiterorganisationen erst vergleichsweise spät, um 1870. Da die soziale Frage jedoch bereits in den 1830er Jahren als Problem erkannt wurde, folgert Markus Mattmüller «dass die nichtsozialistischen Kreise eine Möglichkeit zur Besprechung der sozialen Frage und zu Lösungsversuchen hatten, bevor die Arbeiterbewegung selbst einsetzte. In diesem Zeitraum traten die ersten Bemühungen kirchlicher Kreise um die soziale Frage auf.»61

      Ein weiteres, diesmal politisches Kennzeichen war schliesslich der stark ausgeprägte Föderalismus der Schweiz.62 Die einzelnen Kantone der Eidgenossenschaft entwickelten bezüglich der sozialen Frage sehr unterschiedliche und voneinander unabhängige politische Umgangsformen, ein weiterer Grund, weshalb eine gesamtschweizerische Polarisierung der Arbeiter und Unternehmer weitgehend unterblieb. Im Vergleich zum umliegenden Europa unterschied sich die Schweiz politisch jedoch nicht nur durch den ausgeprägten Föderalismus, sondern auch durch die unterschiedliche Machtstellung der Konservativen. Der aufstrebende Bundesstaat der Schweiz war vom Radikalismus bestimmt, die Konservativen gerieten deshalb zunehmend in die Minderheit und Opposition.

      Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Betrachtung der sozialen Frage in der Schweiz ist die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung, die bis zur Bundesverfassung von 1874 in der Kompetenz der Kantone lag. Aufgrund der bereits angesprochenen dezentralen und föderalistischen politischen Organisation der Schweiz lagen die Anfänge der Arbeiterschutzgesetzgebung in den einzelnen Kantonen. So war auch die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung durch den ausgeprägten Föderalismus gekennzeichnet und markierte den Anfang des modernen, schweizerischen Wohlfahrtsstaates.63 Zusätzlich führte der unterschiedliche Industrialisierungsgrad der einzelnen Kantone zu sehr unterschiedlichen |31| Versuchen, die Fabrikarbeit zu regulieren. Die Anfänge dieser Versuche liegen im beginnenden 19. Jahrhundert und betrafen meist die Kinderarbeit. In der Fabrikgesetzgebung spielte der stark industrialisierte und auch politisch weitgehend demokratisierte Kanton Glarus eine Pionierrolle.64 Das «Gesetz über das Arbeiten in Spinnereien» (1848) sowie das «Gesetz über die Verwendung schulpflichtiger Kinder in industriellen Etablissements» (1856) verboten die Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder und setzten eine Maximaldauer eines Arbeitstages fest. 1858 wurde schliesslich in den Fabriken die Arbeit an Sonn- und allgemeinen Feiertagen verboten. Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)65 spielte in der öffentlichen Diskussion dieser Gesetze eine zentrale Rolle, wobei er sich jeweils für eine arbeiterfreundliche Regelung engagierte. In der Glarner Landsgemeinde von 1864 wurde schliesslich demokratisch – gegen den Willen der Kantonsregierung – eine allgemeine Normierung der Arbeitszeit auf 12 Stunden und ein Verbot der Nachtarbeit angenommen. Dieses Glarner Fabrikgesetz war ein Meilenstein in der schweizerischen Sozialpolitik. Die direkte Demokratie prägte damit die soziale Gesetzgebung wesentlich. 1872 wurde schliesslich die Länge eines Normalarbeitstages auf 11 Stunden reduziert. Viele andere Kantone, wie beispielsweise Aargau, Basel-Stadt und Schaffhausen, führten schliesslich ebenfalls kantonale Fabrikgesetze ein. Dank der frühen Entwicklung seines Fabrikgesetzes spielte Glarus eine Pionierrolle und hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Gesetzgebung dieser anderen Kantone und des Bundesstaates. Die ersten kantonalen Fabrikgesetze entstanden also vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Kantone versuchten anfangs durch interkantonale Regelungen andere Kantone ebenfalls für eine Fabrikgesetzgebung zu gewinnen, um eine Benachteiligung eines Kantons im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu verhindern. Die Initiative für eine interkantonale Gesetzgebung und die Schaffung eines Konkordates ging ebenfalls von Glarus aus. In den Jahren 1859, 1864 und 1872 fanden drei Treffen statt, die zwar zu keinem direkten Resultat führten, dafür aber das Anliegen eines eidgenössischen Fabrikgesetzes bekräftigten und wichtige Punkte der eidgenössischen Fabrikgesetzgebung bereits vorwegnahmen. Erst mit der Bundesverfassung von 1874 (Art. 34) erhielt der Bund schliesslich gesetzgeberische Kompetenz. Das eidgenössische Fabrikgesetz wurde am 21. Oktober 1877 mit 51,5 % und insgesamt 181 204 Ja-Stimmen angenommen.66 |32|

      Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus67 mit der sozialen Frage ist vielschichtig und uneinheitlich.68 Die Gründe hierfür liegen in den oben dargelegten Kennzeichen der sozialen Frage in der Schweiz sowie der organisatorischen, theologischen und personellen Vielfalt des schweizerischen Protestantismus. Organisatorisch war dieser ein Konglomerat aus unterschiedlich organisierten Kantonalkirchen, Vereinen und kirchlichen Gruppierungen. Theologisch charakterisierte den schweizerischen Protestantismus nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends der Kampf um das sich entfaltende sogenannte Richtungswesen. Je nach theologischer Richtung entwickelte |33| sich so eine unterschiedliche Diskussion und Deutung der sozialen Frage. Personell prägten einige Persönlichkeiten und Institutionen die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Glarner Pfarrer Becker, der sich unermüdlich mit der sozialen Frage beschäftigte und mit zahlreichen Publikationen versuchte, eine christliche Antwort auf die soziale Frage zu geben. Ob, und wenn ja inwiefern der schweizerische Protestantismus angesichts der sozialen Frage versagt habe, wird in der Forschung kontrovers diskutiert; Albert Hauser schreibt zum Forschungsstand: «Diese Meinung, das heisst die Auffassung, dass die Kirche nicht oder jedenfalls mit grosser Verspätung sich der sozialen Frage und Umwälzungen angenommen habe, ist noch heute weit verbreitet, und sie wird immer wieder verkündet, wenn es gilt, die wirkliche oder angebliche religiöse oder kirchliche Passivität der Arbeitermassen zu ergründen und zu erklären.»69 Verbreitet ist die kritische Einschätzung wie sie beispielsweise Christine Nöthiger-Strahm äussert: «Lange Zeit hatte die offizielle Kirche die gewaltigen Umbrüche im Sozial- und Wirtschaftsleben des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen, sie lehnte es ab, zu anderen als den bisher üblichen, nämlich karitativen Massnahmen zu greifen, um die soziale und wirtschaftliche Not grosser Bevölkerungsteile zu mildern.»70 Nach meiner Einschätzung hat im schweizerischen Protestantismus zwar tatsächlich – wie im Folgenden ausgeführt wird – eine frühe und intensive Debatte um die soziale Frage stattgefunden. Doch – und da spricht Nöthiger-Strahm einen zentralen Schwachpunkt an – in der Debatte bestanden die favorisierten Ansätze tatsächlich vielfach lediglich in «karitativen Massnahmen» und an Stelle eines reflektierten sozialpolitischen