Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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denn häufig bereiteten sie indirekt eine sozialpolitische Lösung der sozialen Probleme vor.

      Für eine differenzierte Darstellung und Klärung der Debatte des schweizerischen Protestantismus über die soziale Frage wird im Folgenden die Auseinandersetzung in ihrer organisatorischen und theologischen Heterogenität dargestellt. Dazu wird der Umgang zentraler kirchlicher Institutionen mit der sozialen Frage nachgezeichnet und den vier sozialpolitischen Haltungen zugeordnet. Konkret wird diskutiert, wie sich die Zürcher Kirche, die schweizerische Predigergesellschaft und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft mit der sozialen Frage auseinandersetzten und welche sozialpolitischen Haltungen sie einnahmen. Wie bereits angesprochen, beschäftigte sich der |34| schweizerische Protestantismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich mit theologischen Richtungskämpfen. Um die sich anbahnende theologische Heterogenität in der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Frage ebenfalls zu beleuchten, soll deshalb auch die Debatte um die soziale Frage in den verschiedenen theologischen Richtungen (Reformer, Vermittler und Bekenntnistreue) dargestellt werden, wobei auch hier wieder nach den propagierten sozialpolitischen Haltungen gefragt wird.

      Wie der Bundesstaat so war auch der Protestantismus föderalistisch organisiert und die einzelnen Kantonalkirchen deshalb nur lose miteinander verbunden. Auch das Verhältnis von Kirche und Staat war in den einzelnen Kantonen unterschiedlich ausgestaltet. Dies hatte zur Folge, dass in den verschiedenen Kantonalkirchen viele unterschiedliche Interpretationsmuster und Lösungsansätze zur sozialen Frage nebeneinander existierten. Aus diesem Grund kam es weder zu einer gesamtschweizerischen Polarisierung noch lassen sich einheitliche Konfliktlinien erkennen. So ergab sich auch keine schweizweite Front mit der Staatsmacht, den Unternehmern und den Kirchen auf der einen und den Arbeitern auf der anderen Seite. Beispielhaft soll nun im Folgenden anhand der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich die Auseinandersetzung mit der sozialen Frage auf der Grundlage von Synodeprotokollen analysiert werden.71 Die Zürcher Kirche bietet sich als Untersuchungsgegenstand an, weil ihre Beratungen in den Synodeprotokollen gut zugänglich sind und ausserdem bereits eine gründliche Untersuchung vorliegt.72 Zudem ist der Kanton Zürich besonders interessant, weil er aussergewöhnlich stark durch die wachsende Industrialisierung geprägt war und Zürcher Unternehmer bei der Industrialisierung der Schweiz eine zentrale Rolle spielten.73

      Mitte des 19. Jahrhunderts liess sich in der Pfarrerschaft des Kantons Zürich eine erhöhte Sensibilität für die mit der sozialen Frage einhergehenden |35| Krisenphänomene beobachten. Zahlreiche Publikationen über den vermeintlich bedrohlichen sittlichen und religiösen Zustand geben davon Zeugnis. Im Januar 1848 thematisierte die Synode ein erstes Mal die um sich greifende Verarmung der Gesellschaft.74 Ein erstes Referat zum «Pauperismus»75 – wie damals die mit der sozialen Frage einhergehende Krisenphänomene genannt wurden – hielt der Zürcher Theologieprofessor Johann Peter Lange (1802–1884)76. Lange deutete den Pauperismus als eine Folge der Sünde, als eine zeichenhafte und prophetische Erscheinung, die, ebenso wie die Kometenerscheinungen, die Menschen zu «heilsam[er] Zucht des sündigen Lebens» rufe. Er forderte die Kirche zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema auf, denn die «Kirche ist zuvörderst ebenso stark verpflichtet, den Pauperismus zu studieren, als ihm abzuhelfen».77 Um dem Pauperismus «abzuhelfen», schlug Lange zehn Massnahmen vor. So machte er sich beispielsweise für eine Stärkung der Eigentumsrechte, die er bedroht fand, stark, schlug die Auswanderung grosser Bevölkerungsgruppen vor und verwies darauf, dass das Problem erst im Jenseits wirklich gelöst werde. Im Anschluss an Lange hielt Hans Rudolf Waser (1790–1878)78 von Bäretswil, der Dekan des Kapitels von Hinwil im Zürcher Oberland, das Korreferat. Er kritisierte seinen Vorredner scharf und betonte, dass es bei diesem Thema keinen Raum für wissenschaftlich abstrakte Studien gebe. Er propagierte dann aber denselben Lösungsansatz wie Lange. Nach Wasers Vorstellung sollte die Kirche den Feind namens Pauperismus durch einen steten Kampf eindämmen, denn «so – Hand in Hand – mit dem Hause, der Schule und dem Staate, und sie alle durchdringend mit dem Geiste von oben, dem Geiste des Christenthums, wirkt die Kirche dem Pauperismus entgegen».79 Zusätzlich zu diesem Kampf sollten die Geistlichen den Pauperismus durch ihr Vorbild eliminieren: «Wir, wir seien zunächst die Stadt, die auf dem Berge liegt [Mt 5,14], auf die jeder Vorübergehende freudig hinaufblicken darf; bei uns, in unseren Haushaltungen, |36| an uns selbst sollen sie Vorbilder finden jeder häuslichen, jeder bürgerlichen Tugend.»80 Mit der Rede von «wir» und «ihnen» machte Waser deutlich, dass die Kirche aus der Perspektive der Besitzenden und Privilegierten sprach. Dem Kommunismus und Sozialismus erteilte Waser eine entschiedene Absage. Im sozialpatriarchalen Sinn empfahl er zur Überwindung des Pauperismus Ehrlichkeit und Sparsamkeit des Arbeiters und väterliche Fürsorge des Arbeitgebers.

      Um das Problem der Verarmung besser verstehen zu können und um «häusliche und bürgerliche Tugenden zu stärken»81, wurde 1852 eine «Synodalkommission für innere Mission» ins Leben gerufen, die anhand eines von den Pfarrern beantworteten Frageschemas die «Nothstände unseres Volks­lebens»82 in einem Bericht zusammenstellen sollte und dem Regierungsrat Empfehlungen zur Linderung der «Nothstände» vorzuschlagen hatte. Dieser Bericht der Synodalkommission beanspruchte für sich, einen differenzierten Umgang mit der durch die Fabrikarbeit ausgelösten sozialen Frage zu pflegen: «Wir müssen uns hüten das Fabrikwesen für an sich und absolut schädlich zu betrachten; auch ist es ein Material, aus dem der fromme und gute Mensch Gutes und der böse Böses sich bildet […].»83 Als Ursache der Notstände bezeichnete der Bericht aber schliesslich nicht mehr nur die Moral der Arbeiter,84 sondern auch die Fabrikarbeit als solche.85 Zur Lösung der sozialen Frage wurden die Unternehmer in sozialpatriarchaler Tradition in die Pflicht genommen: «Die Fabrikherren könnten auf die Arbeiter sehr wohltätig wirken, wenn sie nicht bloss ihre Arbeit oder den Gewinn, den sie ihnen bringt, sondern auch das sittliche Wohl ihrer Untergebenen ins Auge fassten.»86 Das |37| Fabrikwesen wurde in den Vorschlägen der Synodalkommission nicht grundsätzlich kritisiert und es wurden auch keine grundsätzlichen Veränderungen gefordert. Um die «Nothstände unseres Volkslebens» zu beseitigen, unterbreitete der Kirchenrat dem Regierungsrat lediglich Vorschläge, welche die Moral betrafen. Diese Vorschläge reichten von Verminderung der Wirtschaften über Verhinderung leichtsinniger Eheschliessungen bis zu strikterer Handhabung des Sonntagspolizeigesetzes.87 Zwei Jahre später wurde an der Synode wiederum die fehlende Frömmigkeit der Arbeiter bemängelt, die Industrialisierung jedoch nicht als Grund der sozialen Frage angesehen: «Daher verhalten sich die Armen, allerdings mit einzelnen rühmlichen Ausnahmen, passiv gegen die Kirche und besuchen den Gottesdienst selten oder nie, ausser wo sie etwa als Bewohner eines Armenhauses dazu angehalten werden.»88

      Nach dieser ersten Auseinandersetzung der Synode mit der sozialen Frage wurde das Thema erst wieder 1868 aufgegriffen. Johann Ulrich Oschwald (1814–1886)89 trug eine Synodalproposition – eine Art Grundsatzrede vor der Synode – mit dem Titel «Das Christenthum und die soziale Frage» vor. Nach einem Schnelldurchgang durch die Weltgeschichte folgte ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile der «Grossindustrie». Die Nachteile der Industrialisierung, insbesondere diejenige des sozialen Ungleichgewichts, wollte Oschwald durch die drei Strategien Selbsthilfe, Staatshilfe und Mithilfe der Unternehmer lösen. Von den Unternehmern erhoffte er sich dabei am meisten, denn ein «grosser Theil dessen, was auf wirthschaftlichem Wege zur allmäligen Lösung des sozialen Problems zu thun ist, liegt sodann in den Händen der Arbeitgeber».90 Das anschliessende Korreferat hielt Heinrich Knus (1832–1897)91. Selbstkritisch ging er mit der Kirche ins Gericht und warnte vor einer Vereinnahmung der Kirche durch die Unternehmer: «Es herrscht bei den unteren Klassen der Verdacht, dass die Kirche in stillschweigendem Einverständnis mit der Klasse der Besitzenden das Werkzeug sei, die Massen zu zügeln, in Gehorsam, Botmässigkeit und Unterthänigkeit zu erhalten. Wenn wir als Diener der Kirche keineswegs gewillt sind, dieser Anschauung Vorschub zu leisten, im Gegentheil einmüthig und energisch dagegen protestieren, so dürfen wir nicht vergessen, dass bei der besitzenden Klasse die Neigung |38| vorhanden ist, der Kirche diese wenig beneidenswerthe Stellung eines Zuchtmeisters und Bändigers der Masse anzuweisen.»92 Die umsichtige Warnung Knus’ diskutierte die Synode jedoch nicht weiter.

      1874 wurde Oschwalds Synodalproposition von einer gewissen Haager Gesellschaft zur Vertheidigung der christlichen Religion93 als gelungene apologetische Preisschrift gekrönt