Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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feierten und auf ihren moralischen Lebenswandel achteten.169 Sie waren zudem der festen Überzeugung, dass die Sorge ums geistliche Wohl der Arbeiter auch im wirtschaftlichen Interesse der Unternehmer läge, denn «ein glaubensloser Arbeiter ist das ärmste Geschöpf; durch alle Mittel sucht er im Diesseits zu profitieren.»170 Des Weiteren stellten die Bekenntnistreuen einen direkten kausalen Zusammenhang her zwischen einer konsequent gelebten Frömmigkeit eines Unternehmers und seinem wirtschaftlichen Erfolg. Beispielsweise erklärte ein Aufsatz den Aufstieg eines Handwerkers zum Meister mit seiner tadellosen Moral und eifrigen Frömmigkeit: «Der Mann, von dem ich erzähle, der hat es erfahren und bei seinen Kindern bewährt sich’s auch, weil sie in gleichem Sinn und Geist fortfahren.» Zwischen den einzelnen Teilen dieser Erfolgsgeschichte wurde regelmässig festgehalten: «Der Segen Gottes blieb nicht aus.»171 Eindringlich betonten die Bekenntnistreuen, dass die soziale Frage nur durchs Evangelium gelöst werden könne und Gottes direktes Eingreifen dafür nötig sei: «Nicht die Natur |54| thut’s, nicht der Mensch thut’s, Gott thut’s.»172 Die Bekenntnistreuen wehrten sich vehement gegen eine Intervention des Staates zur Lösung der sozialen Frage,173 denn dieser könne sie nicht lösen: «Auch die staatliche Hebung der betreffenden Klassen und ihre Unterstützung durch Liebesthätigkeit sind diesem Feinde gegenüber ohnmächtig, ja sie vermehren nur die Begehrlichkeit, wenn nicht von innen ein anderer Grund gelegt wird. Mag ein Fabrikgesetz noch so luftige Räume vorschreiben, was hülfe ein kürzerer Normalarbeitstag zur Pflege des Familienlebens denen, welche ihre freie Zeit nie den Ihrigen schenken oder stets Streit mitbringen, wenn sie nach Hause kommen? Bringt das an sich so schöne Vereinsrecht der Mehrzahl wirklich geistige Bildung und Veredelung, oder befördert es bei ihnen die materielle Genusssucht?»174 Im sozialpatriarchalen Sinn stellten sie auch Karl Sarasin als Vorbild eines christlichen, patriarchalen Unternehmers hin und propagierten, ein solcher Unternehmer sei «eine tatsächliche Antwort» auf die soziale Frage: «Arbeiter, mit denen so gesprochen und gehandelt wird, werden sich schwerlich von den Socialisten verführen lassen; und wenn, so wäre es ihre Schuld und ihr eigener Schaden.»175 Die Bekenntnistreuen vertraten von allen theologischen Richtungen am entschiedensten die sozialpatriarchale Haltung und solidarisierten sich am unkritischsten mit den Unternehmern – beispielsweise mit Sarasin.

      Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Richtungswesen führte zu einer Pluralisierung des schweizerischen Protestantismus. Dies hatte bei den theologischen Parteien die Herausbildung unterschiedlicher sozialpolitischer Haltungen zur Folge. Die Reformer plädierten für eine staatliche Intervention zur Lösung der sozialen Frage und vertraten insofern die sozialkonservative Haltung. Die Vermittler und Bekenntnistreuen blieben beide in der sozialpatriarchalen Haltung verhaftet, wobei die Bekenntnistreuen vehement gegen jegliche staatliche Intervention kämpften und sich für eine Lösung der sozialen Frage durch christliche Unternehmer stark machten. |55|

      Innerhalb des Katholizismus – gerade auch im schweizerischen Katholizismus176 – fand im 19. Jahrhundert ebenfalls eine engagierte Auseinandersetzung mit der sozialen Frage statt.177

      Auch wenn in der Schweiz eine durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert ausgelöste Wanderungsbewegung innerhalb des Landes stattfand und sich dadurch die «geschlossenen konfessionellen Räume»178 zunehmend aufzulösen begannen, so lässt sich im schweizerischen Katholizismus dennoch eine eigenständige Auseinandersetzung mit der sozialen Frage beobachten.179 Schliesslich gab die päpstliche Sozialenzyklika «Rerum novarum» (1891) auch |56| in der Schweiz «neue Impulse für die Durchsetzung des sozialen Gedankengutes, wie die Rechte der Menschen auf Arbeit, gerechten Lohn, Eigentum, würdige Arbeitsbedingungen, Arbeitervereinigungen (Gewerkschaften) und Sozialversicherungen».180 Neben der päpstlichen Auseinandersetzung mit der sozialen Frage in dieser Sozialenzyklika, lassen sich aber auch im schweizerischen Katholizismus eine Vielzahl sehr heterogener wie auch praktischer Reaktionen auf die soziale Frage beobachten. Ein Beispiel für eine solche Reaktion zeigt sich beim Kapuzinerpater Theodosius Florentini (1808–1865), der versuchte, mit der «Idee der christlichen Fabrik und des christlichen Unter­nehmers»181 die soziale Frage durch klösterlich organisierte Fabriken zu lösen.182 In Florentinis Engagement zeigen sich viele Ähnlichkeiten zu Sarasins Ansatz, da beide die soziale Frage mit Hilfe des christlichen Glaubens lösen wollten.183 Die Ursache der sozialen Frage sah Florentini wie Sarasin in |57| der Sünde und er empfahl als Lösung ebenfalls den Patriarchalismus sowie eine Christianisierung der Industrie. Zur Christianisierung schrieb Florentini: «Es gibt kein anderes wirksames Mittel, als dass die Fabriken christianisiert werden, d. h. dass das Christentum die Fabrikbevölkerung – Fabrikherren und Fabrikarbeiter – durchdringe.»184 In Florentinis Einsatz für eine Rechristianisierung der Industrie zeigen sich deutliche Parallelen zum Konzept der Inneren Mission.185

      Mit der sozialen Frage werden die mit der Herausbildung der Industriegesellschaft einhergehenden Bewältigungsstrategien und Krisendiagnosen bezeichnet. Die Kirchen waren durch die soziale Frage grösstenteils überfordert, auch wenn es beispielsweise gerade in der Inneren Mission vielfältige Ansätze gab, innovativ auf die soziale Frage zu reagieren. Sozialpolitisch ­lassen sich im Protestantismus vier verschiedene idealtypische Haltungen – Sozial­­patriarchalismus, Sozialdiakonie, Sozialkonservatismus und Sozialliberalismus – beobachten, wobei der Sozialpatriarchalismus die vorherrschende Haltung war. Die soziale Frage kam in der Schweiz aufgrund besonderer Voraussetzungen anders zum Ausdruck als in Deutschland. So verhinderten beispielsweise die dezentrale Industrialisierung und das früh demokratisierte Staatswesen die Bildung eines Massenproletariats.

      Die Auseinandersetzung des schweizerischen Protestantismus mit der sozialen Frage verlief je nach Institution und theologischer Richtung unterschiedlich. Während die Zürcher Kirche mit ihrer sozialpatriarchalen Haltung die soziale Frage als Bedrohung empfand und lediglich den dürftigen Gottesdienstbesuch der Arbeiter bemängelte, versuchte die schweizerische Predigergesellschaft die soziale Frage theologisch zu beleuchten und engagierte sich auch in sozialkonservativer Weise, indem sie die Einführung eines Fabrikgesetzes auf eidgenössischer Ebene debattierte. Die SGG wiederum versuchte, die soziale Frage sozialstatistisch zu begreifen und diskutierte betriebliche und staatliche Wohlfahrtsbestrebungen, worin sich sowohl sozialpatriarchale, sozialkonservative wie auch sozialdiakonische Ansätze erkennen lassen. In |58| der SGG zeigt sich jedoch auch, dass seit den 1870er Jahren der sozialpolitische Konsens zunehmend erodierte und sich verschiedene, teilweise gegensätzliche sozialpolitische Haltungen zu etablieren begannen. Die theologischen Richtungen ihrerseits analysierten die soziale Frage wiederum anders. Die Reformer betrachteten diese primär als eine negative Begleiterscheinung der industriellen Revolution, die Vermittler als eine Konsequenz der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und die Bekenntnistreuen als eine Folge der sittlich-moralischen Verrohung der Unternehmer und Arbeiter. Als Lösung plädierten die Reformer sozialkonservativ für staatliche Interventionen, während die Vermittler und die Bekenntnistreuen sozialpatriarchal eine Lösung durch betriebliche Wohlfahrtsbestrebungen der Unternehmer und Fleiss und Strebsamkeit der Arbeiter anstrebten. Stärker noch als die Vermittler betonten die Bekenntnistreuen, dass die soziale Frage letztlich nur durch göttliches Eingreifen gelöst werden könne. Eine Möglichkeit für dieses göttliche Eingreifen sahen sowohl die Vermittler wie auch die Bekenntnistreuen in patriarchalen, christlichen Unternehmern, welche die soziale Frage innerhalb ihres Betriebes, also patriarchal, im christlichen Geist mit betrieblicher Wohlfahrt lösten.

      Ob, und wenn ja inwiefern, der schweizerische Protestantismus bezüglich der sozialen Frage versagt habe, ist in der Forschung umstritten.186 Es lassen sich zwei verschiedene Einschätzungen beobachten: Auf der einen Seite beklagen Autoren, meist religiös-sozialer Herkunft, die Entwicklung des sozialen Denkens habe den Kirchen abgerungen werden müssen, der schweizerische Protestantismus habe die soziale Frage zu wenig ernst genommen sowie deren Tragweite viel zu spät erkannt. Markus Mattmüller schreibt: «Die reformierten Christen der Schweiz haben sich, soviel man weiss, nur sehr langsam an die Bewältigung […] [der sozialen Frage] gemacht.»187 Auf der anderen, tendenziell eher konservativen Seite steht eine würdigende und apologetische Einschätzung der Leistungen des schweizerischen Protestantismus, wie sie beispielsweise von Albert Hauser formuliert wurde: «Kann man angesichts aller dieser