Marcel Köppli

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts


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der Unternehmer und verwies zustimmend auf die in der Zwischenzeit erfolgten Bestrebungen der Bonner Konferenz. Oschwald führte zwar nicht konkret aus, worin die Anstrengungen der Unternehmer bestehen sollten, betonte aber an verschiedenen Stellen, was «der Grund und Boden» sei, auf dem das soziale Ungleichgewicht ins Lot gebracht werden könne: «Es ist kein anderes als die wahrhaft universelle, welterlösende Macht des Christenthums.»95 Der Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche Diethelm Georg Finsler (1819–1899)96, empfahl Oschwalds gekrönte Synodalproposition zur Lektüre und illustrierte die Qualität der Schrift damit, dass ein Industrieller gleich 30 Exemplare bestellt habe, um sie zu verteilen.97 Finsler brachte also die Solidarität der Zürcher Pfarrerschaft mit den Unternehmern zum Ausdruck und sprach ihnen bei der Lösung der sozialen Frage eine zentrale Rolle zu: «Ganz besonders begrüssen wir es, wenn die Arbeitgeber selber mit freiwilligen Leistungen vorgehen […].»98 Eine staatliche Intervention zur Lösung der sozialen Frage wurde in der Zürcher Kirche nicht diskutiert.

      Während also die Zürcher Kirche anfänglich die soziale Frage lediglich moralisch als eine Folge der Sünde deutete,99 sah sie diese mit der Zeit zusehends als eine Folge der Industrialisierung. Sie sträubte sich hartnäckig gegen jegliche Vorstösse mit kommunistischem und sozialistischem Gedankengut |39| und propagierte eine sozialpatriarchale Lösung durch die moralisch-sittliche Erneuerung der Arbeiter sowie eine vermehrte Fürsorge durch die Unternehmer. Eine Sozialpolitik wurde jedoch nicht entwickelt. Zu Recht notiert Robert Barth kritisch, die Zürcher Kirche habe «weder ein eigentliches Sozialprogramm noch eine grundsätzliche Definition der kirchlichen Aufgaben in der industrialisierten Umwelt erlassen»100. Die Unternehmer – und nicht die Arbeiter! – wurden im Kampf um eine Lösung der sozialen Frage ganz selbstverständlich als Verbündete angesehen.101 Eine sozialpolitische Lösung, beispielsweise mittels eines Fabrikgesetzes, wurde im untersuchten Zeitraum in der Zürcher Kirche nicht besprochen, obwohl man damals in Zürich über ein kantonales Fabrikgesetz debattierte. Vielmehr macht es den Anschein, dass die Pfarrer jener Zeit mehr über das Fernbleiben der Arbeiter vom Sonntagsgottesdienst besorgt waren als über deren teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Es muss deshalb der Schluss gezogen werden, dass sich die Zürcher Kirche nur aufgrund eines apologetischen Interesses um die soziale Frage kümmerte und erst dort ihre Stimme kritisch erhob, wo sie ihre eigene Existenz durch die Folgen der sozialen Frage bedroht sah. In Jähnichens Typologie kann das Verhalten der Zürcher Kirche lediglich der sozialpatriarchalen Haltung zugeordnet werden, auch sozialdiakonische Ansätze sind nicht zu beobachten.

      Die in der schweizerischen Predigergesellschaft organisierte evangelische Pfarrerschaft der Schweiz traf sich ab 1839 jedes Jahr für zwei Tage, um sich über aktuelle kirchliche, theologische oder soziale Themen auszutauschen.102 Diese jährlichen Treffen der Predigergesellschaft waren eine zentrale Institution für die theologische Meinungsbildung des schweizerischen Protestantismus des 19. Jahrhundert. Im Zentrum der Versammlungen standen jeweils Referate von Pfarrern, die als Diskussionsgrundlage dienten.

      Anlässlich der neunten Jahresversammlung (1847) befasste sich die schweizerische Predigergesellschaft erstmals mit der sozialen Frage. Pfarrer |40| Johann Peter Romang (1802–1875)103 sprach zum Thema «Bedeutung des Communismus».104 Das Referat, eingeteilt in die drei Abschnitte «Dar­stellung», «Würdigung» und «Folgerung», beleuchtete den Kommunismus gründlich und wies auf diejenigen Überzeugungen hin, die im Konflikt mit dem Christentum standen. Dabei betonte Romang aber, dass sich die Kirche deswegen nicht einfach ablehnend gegenüber dem Kommunismus verhalten solle, sondern die Anliegen, die dahinterstünden, ernst nehmen müsse: «Nichts ist unchristlicher, als die diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Gesinnung, doch die Bedürfnisse sind anzuerkennen. Und die Aufgabe wäre, durch Herstellung eines wahrhaft christlichen Zustandes diese hässliche Karikierung der christlichen Liebesgemeinschaft zu verdrängen.»105 Ähnlich wie Waser, der in der Zürcher Kirche den Pauperismus durch das Vorbild der Geistlichen überwinden wollte, schlug Romang vor, den Kommunismus durch eine überzeugende «christliche Liebesgemeinschaft» zu verdrängen. In der Predigergesellschaft wurde in der Folge immer wieder propagiert, die soziale Frage solle gelöst werden, indem die Kirche und insbesondere die Pfarrer als gute Vorbilder überzeugend auf die Arbeiter einwirkten.

      Selbstbewusst wirkt auch das Referat beim Treffen der Predigergesellschaft von 1853. Heinrich Hirzel (1818–1871)106 sprach im damals bereits stark industrialisierten Glarus zum Thema «Ueber die Wechselwirkung zwischen der protestantischen Kirche und dem sozial-bürgerlichen Leben mit besonderer Rücksicht auf die Fabrikindustrie».107 Einige Jahrzehnte vor Max Weber und Ernst Troeltsch stellte Hirzel stolz eine Verbindung zwischen dem Protestantismus und der wachsenden und «segensreichen» Industrie her. Euphorisch zeichnete er ein optimistisches Bild der Zukunft, in der die negativen Auswirkungen der Industrialisierung bald in den Hintergrund treten würden: «Nun – auch an vielfachen ganz direkten Beziehungen der Industriegeschichte und der Kirchengeschichte fehlt es keineswegs: wir mögen zurückblicken in vergangene Jahrhunderte, oder vorwärts schauen auf die gesegneten Einwirkungen, welche die grossen Ergebnisse der Industrie, schon den Zeichen der |41| Gegenwart nach zu schliessen, auf die Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden ausüben werden. Unser Thema betont mit allem Rechte das Protestantischsein unsrer Kirche, und unleugbar hat der Protestantismus so viel Lebenssaft aus der Industrie gezogen, noch viel mehr aber Lebenssaft ihr gegeben, dass er die Industrie als eine ihm nicht gar von ferne verwandte Lebensmacht wird anerkennen müssen.»108 Optimistisch sah Hirzel auch einer baldigen sozialpatriarchalen Lösung der sozialen Frage entgegen. Durch Predigt und Seelsorge sollten die Unternehmer zu humaner Fürsorge bewegt werden, damit aus der Fabrik eine christliche Gemeinschaft würde: «Der Fabrikherr soll seine Arbeiterschaft als die Erweiterung seiner Familie betrachten und Freud und Leid, das ihm in seinem Hause widerfährt, seine Arbeiter dadurch miterleben lassen, dass er bei Hochzeits-, Tauf- und Traueranlässen seiner Untergebenen mit Gaben in die Ersparnis- und Krankenkasse eingedenk ist.»109 In der Diskussion im Anschluss an das Referat wurde jedoch Hirzels Euphorie nicht geteilt. Heftig wurde gegen den Sozialismus geschimpft. Dabei wurde nicht, wie in Langes Proposition in der Zürcher Synode, die soziale Not, sondern der Sozialismus als Folge der Sünde angesehen. Einige Pfarrer stimmten jedoch auch versöhnliche Töne an und der Präsident der Predigergesellschaft setzte sich – sozialpolitisch durchaus fortschrittlich – für eine staatliche Arbeitszeitbeschränkung in den Fabriken ein: «Wenn auch Hr. Pfarrer Hirzel uns gewarnt hat, Fleisch für unseren Arm zu halten, so wird er doch damit einverstanden sein, dass der Staat durch seine Gesetze und Verordnungen da eingreifen muss, wo auf anderem Weg nicht geholfen werden kann.»110

      Beim darauffolgenden Treffen der Predigergesellschaft in Genf (1855) sprach Pfarrer Jean-Samuel Chappuis (1809–1870)111 zur sozialen Frage. In seinem Referat bezeichnete er den «Paupérisme» als eine Manifestation des Antichristen.112 Er führte zwar ekklesiologische Überlegungen an, wie der Pauperismus bekämpft werden solle, warnte die Kirche jedoch davor, in diesem Kampf ihre Kräfte zu sehr zu binden. Die Aufgabe der Kirche sei eine geistliche, |42| sie sei vor allem das Hoffen auf den Tag, an dem der Heilige Geist erneut ausgegossen und an dem das Problem des Pauperismus gelöst werde.113

      Nach dem Referat an der Genfer Tagung schwieg sich die Predigergesellschaft einige Jahre über die soziale Frage aus, theologische Richtungskämpfe begannen zunehmend die Verhandlungen zu dominieren. Beispielsweise werden in einem Referat über die Ursachen der Spannungen unter den Christen lediglich die theologischen Richtungskämpfe thematisiert, die zunehmenden sozialen Unterschiede bleiben jedoch unerwähnte114

      Erst 1871 thematisierte der bereits erwähnte Pfarrer Bernhard Becker (1819–1879)115 beim Treffen der schweizerischen Predigergesellschaft in Schaffhausen wieder die soziale Frage.116 Als Pfarrer des im Vergleich zu anderen Kantonen der damaligen Zeit weit industrialisierten Glarus hatte sich Becker sein Leben lang intensiv mit der sozialen Frage befasst und einige bis in die Gegenwart beachtete Aufsätze und Predigten dazu publiziert.117 Der Ton des Referates war pessimistisch. Für Becker bestand die soziale Frage darin, dass die politische Freiheit zwar realisiert sei, diese aber keine soziale Gleichheit nach sich gezogen habe. Er rief deshalb alle Christen auf, die soziale Frage anzupacken, und propagierte nicht mehr nur eine sozialpatriarchale Lösung, sondern diskutierte verschiedene