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Hilfe in Katastrophenfällen hat der ÖRK mit der Gründung des Netzwerks Action by Churches Together (heute ACT Alliance) ausgelagert. Er beschäftigt sich heute mit Grundsatzfragen und Leitlinien des Teilens von Ressourcen und der weltweiten diakonischen Arbeit.

      Es kann nur vermutet werden, was die Deutschen in Ost und West zu dieser enormen Hilfsbereitschaft bewegte. Eine Antwort darauf kann das eigene Erleben des Flüchtlingsschicksals nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Die Bilder wiederholten sich: Viele Deutsche werden beim Anblick der Flüchtlingslager in Österreich an das eigene Überleben in Baracken der Nachkriegsjahre, den Nissenhütten, und das Flüchtlingselend im besetzten Deutschland erinnert worden sein. Eine weitere Erklärung für die deutsche Hilfe 1956 liegt in der angespannten politischen Situation des „Kalten Kriegs“ in Europa. Nur drei Jahre zuvor, am 17. Juni 1953, hatten Deutsche einen Aufstand gegen die Regierung der DDR gewagt – und ebenso dessen blutige Niederschlagung durch sowjetische Panzer erlebt. Über das humanitäre Motiv hinaus war die Spende für die Menschen hinter dem „eisernen Vorhang“, der sich nach dem Weltkrieg über Europa gesenkt hatte, auch ein politisches Zeichen. Dieser Kontext führte zu neuen Fragen innerhalb des Hilfswerks, denn genau das – ein politisches Zeichen – sollte die Unterstützung der Kirchen nicht sein. Sie distanzierten sich von jeglicher Politisierung ihrer Aktivitäten. Für die Katastrophenhilfe wurde damit ein weiteres Prinzip ihrer Arbeit begründet: Nicht Machtinteressen und Ideologien sollten ihr Handeln bestimmen, sondern einzig und allein die Not von Menschen. Nur unter dieser Maßgabe konnte die Idee der Katastrophenhilfe an Integrationskraft gewinnen, auch wenn daraus in den kommenden Jahrzehnten immer wieder Konflikte und Vereinnahmungsversuche mit politischen Interessengruppen entstanden. Im Schatten der Politik wuchs die Hilfe für die Ungarnflüchtlinge zu einer internationalen Aktion heran. Zusammen mit Spenden des Ökumenischen Rates der Kirchen, des Lutherischen Weltdienstes und anderer kirchlicher Organisationen Europas wurden kontinuierlich Hilfsgüter nach Österreich und Ungarn geliefert. Die internationale kirchliche Zusammenarbeit, so heißt es im Tätigkeitsbericht des Hilfswerks von 1956/57, habe der Ungarnhilfe „den Charakter einer neuen ökumenischen Tat“ verliehen.

       Die „Sonderaktion Babywäsche“

      Dass man beim Hilfswerk auch zu unkonventionellen Mitteln griff, illustriert das Beispiel der „Sonderaktion Babywäsche“. Den Säuglingen und Kleinkindern der ungarischen Flüchtlinge mangelte es im Dezember 1956 an Wäsche und Windeln. Das Evangelische Hilfswerk in Bayern und der bayerische Landesverband der Inneren Mission wandten sich daher in Kirchenblättern an Frauen und Mädchen: „Opfert doch als Zeichen christlichen Erbarmens und brüderlicher Hilfe nach Möglichkeit ein paar Tage oder Stunden, um die so dringend gebrauchte Säuglingswäsche eigenhändig zu stricken oder sonstwie zu beschaffen!“ Diese Aktion fand ungeahnten Widerhall: Wochenlang trug die Post tausende von Paketen mit Babywäsche in das Dienstgebäude des bayerischen Hilfswerks.

       Die „rollenden Einsatzgruppen“

      Die Ungarnhilfe zeigte vor allem eines: Das Hilfswerk konnte mit einem kleinen Mitarbeiterstab und unter Nutzung kirchlicher Strukturen schnelle und unkonventionelle Katastrophenhilfe leisten sowie Menschen in Deutschland und in ganz Europa mobilisieren. Lebensmittel, Decken und Medikamente waren ein Anfang. Doch was kam danach? Wenn man Verantwortung im Sinne der Nächstenliebe übernehmen wollte, konnte Katastrophenhilfe nicht nur heißen, schnell die Hilfssendungen abzuliefern und sich dann wieder zurückzuziehen. Wirkliche Hilfe musste weiter gehen, sie musste langfristiger gedacht werden. Ungarn wurde dafür zum Präzedenzfall. Gemeinsam mit dem Ökumenischen Rat und dem Lutherischen Weltdienst rief das Hilfswerk „rollende Einsatzgruppen“ ins Leben.

      In enger Zusammenarbeit mit den Leitern der Flüchtlingslager sollten auf diese Weise weitergehende Fürsorge und Seelsorge gewährleistet werden. Leiter der Aktion war Paul Laufer aus München, in der bayerischen Landeskirche für die Vertriebenenarbeit zuständig. Er erkannte, dass es in Katastrophenfällen einen Mechanismus gab, dem das Hilfswerk entgegenzusteuern hatte: „Die kirchliche Hilfe war ja nicht nur für die Wochen der ersten Begeisterung im Helfen und Geben gedacht“, so Laufer, „sondern bis hin zu jenem Zeitpunkt, an dem die Bereitwilligkeit erfahrungsgemäß abzuflauen beginnt.“ Die „rollenden Einsatzgruppen“ bestanden aus Hilfswerkmitarbeitern, einer Schwester und einem ungarischen Theologen, der Gottesdienste abhielt und Einzelgespräche anbot. Die Seelsorge spielte bei der Katastrophenhilfe anfänglich eine wichtige Rolle. Ab Dezember 1956 fuhren die Einsatzgruppen von Wien aus in Kombi-Volkswagen von Lager zu Lager. Wie es im Jahresbericht des Hilfswerks rückblickend heißt, galt es „zunächst einmal, die aus aller Welt so reichlich geflossenen Liebesgaben in die Lager zu bringen, sie aber gleichzeitig auch an die richtigen Leute auszugeben.“ Keines der zahlreichen Lager blieb über die Festtage ohne Gottesdienst.

       Neue Perspektiven nach der Flucht: Ungarische Jugendliche in der Obhut des Hilfswerks.

       Als die Weltöffentlichkeit sich schon abgewendet hatte

      Bis Juli 1957 hatte allein der Wagen der Gruppenleitung mehr als 36.000 Kilometer zurückgelegt. Die Aktion, die nur einen Bruchteil der Probleme lösen konnte, wurde bis September 1957 verlängert. Sie hatte ein Zeichen der Hoffnung gesetzt, wie eine Mitarbeiterin berichtete: „Wie oft standen wir ratlos da, ein Berg von Fragen vor uns, die einfach nicht überschaubar waren. Wo und wie diesen Menschen überhaupt helfen? Unsere Gaben waren zwar stets kleine Freuden in der Trostlosigkeit des Lagerlebens, die entscheidende Hilfe aber lag im regelmäßigen Wiederkommen, im Da-Sein für die Flüchtlinge.“

      Ab Mitte 1957 konzentrierte sich das Evangelische Hilfswerk auf die Betreuung der 11.000 Ungarnflüchtlinge in Deutschland. Die meisten von ihnen waren Jugendliche im Alter von 17 bis 22 Jahren. Ludwig Geißel und Christian Berg schrieben am 1. Juli 1957 an die Landesverbände und Hauptbüros des Hilfswerks: „Sie erleben nun Freiheiten, die sie nicht kennen. Wir dürfen sie nicht sich selbst überlassen, sondern müssen ihnen helfen, Wege zeigen und ihnen Rat und Hilfe gewähren.“ Das österreichische Hilfswerk erhielt zugleich weiterhin finanzielle Unterstützung zum Bau von Häusern für die dortigen Flüchtlinge. Nach der Soforthilfe verlegte sich der Schwerpunkt nun auf die Integration der geflohenen Ungarn.

       „Christliche Liebe mit den Augen gesehen“

      Im Mai 1957 fand der ungarische Bischof Ordass, der sich im Jahr zuvor über Radio Budapest hilfesuchend an die Ökumene gewandt hatte und nun die ungarische Diasporagemeinde in ganz Europa betreute, herzliche Worte des Dankes für die deutsche und österreichische Unterstützung: „Wir haben in den schwersten Tagen die christliche Liebe nicht bloß empfunden, sondern mit den Augen gesehen als ein Wunder.“ Bei einem Deutschlandbesuch 1957 fügte er hinzu: „Doch nicht die Not zu beschreiben ist nötig, sondern davon zu sprechen, was wir an christlicher Liebe zumal durch das Evangelische Hilfswerk in Österreich und Deutschland erfahren durften!“

       Der Lutherische Weltbund

      wurde 1947 in Schweden gegründet. Darin sind heute 136 Kirchen lutherischer Tradition aus 76 Ländern zusammengeschlossen. Sie repräsentieren den Großteil der lutherischen Christenheit. 1952 wurde der Lutherische Weltdienst als Unterabteilung gegründet. Dessen Sekretariat befindet sich in Genf. Von Beginn an arbeitete er eng mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen und anderen internationalen Organisationen zusammen. Die Not- und Katastrophenhilfe gehört zu seinen wichtigsten Aufgaben. Im Vordergrund standen damals lutherische Christen, die durch den Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg zu Flüchtlingen wurden. Heute umspannt die Nothilfe der Abteilung für Weltdienst die ganze Welt, unabhängig von ethnischen, nationalen, politischen oder religiösen Grenzen. Die Abteilung Weltdienst des Lutherischen Weltbundes gehört zu den wichtigen Partnern der Diakonie Katastrophenhilfe.

      Der Katastrophenhilfe außerhalb der Bundesrepublik hat die Ungarnhilfe zum Durchbruch verholfen. Das betonte Ludwig Geißel rückblickend in seinen Memoiren. 1957 fand diese Entwicklung ihren organisatorischen Niederschlag in der Gründung der Abteilung „Finanzen und Notstandshilfe“ innerhalb des im gleichen Jahr entstandenen Diakonischen Werks der EKD, das aus Hilfswerk und Innerer