Wiglaf Droste

Auf sie mit Idyll


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man in der Schweiz nicht bestraft, sondern noch nach alter Christensitte »gebusst« wird, wusste ich schon. Der Schweizer Zeitschrift natürlich leben verdanke ich tiefere Kenntnis. Unter der Überschrift »Nieder mit dem Mieder« berichtete das Blatt darüber, dass im Kanton Appenzell sogar Nacktwanderer gebusst werden. Mir waren bislang nur Nachtwanderer begegnet, und meines Wissens schrieb Goethe auch kein »Wanderers Nacktlied«. Nun aber las ich: »Fertig lustig. Wer füdliblutt meint wandern zu müssen, wird in Appenzell künftig gebusst.«

      Das Wort »füdliblutt« war mir neu; es setzt sich zusammen aus »Füdli«, hochdeutsch »Hintern«, »Popo« oder schlicht »Arsch« und »blutt«: »bloß«, »blank«, »nackt«. »Füdliblutt« heißt also »nacktpöterig«, und das wäre ja auch ein schöner Name für einen Pilz: der samtene Nacktpöterich.

      Nacktpöterig aber soll man im Kanton Appenzell nicht mehr ungestraft wandeln oder wandern. Es geht dabei wohl eher ums unbedeckte Vornerum, um die Scham, die man seit Adams Biss in Evas Apfel bedecken soll, auch im Wald.

      Dies ist der Appenzeller Füdli-Schwur:

      Wandern darfst du, doch bekleidet nur.

      Bardiert und nappiert

      Ich saß draußen vor der Gaststätte Fischerhof in Rheinsberg, gleich am Ufer des Grienericksees. Das Wasser glitzerte in der Abendsonne. Es war still, ein paar Enten und Schwäne kurvten mit ihren jeweiligen Nachwüchsen auf dem See herum, ab und zu sprang platschend ein Fisch. Frieden waltete, alles war gut. Im Hinterkopf hörte ich Bob Dylans raspelnde Stimme singen, »It’s all good«, das letzte und mitreißendste Stück seines fantastischen Albums »Together through Life«, dem Soundtrack des Frühlings und Sommers 2009. Mit stoischer Energie hämmert die Band die Rhythmen durch, und Dylan singt wie unter dem Milchwald: alt, weise, stark, solitär, geradeaus treibend, rauh. Selbst das Echo der Erinnerung daran treibt die Mundwinkel den Ohrläppchen zu.

      Obwohl ich schon wusste, was ich bestellen würde, studierte ich die Speisekarte. Ich glaube an die Kraft des Wortes, sei es gesprochen oder geschrieben. Ist es wahrhaftig, entfaltet es biblische Macht. Auch aus Speisekarten kann das Wort sprechen und den Menschen ergreifen, warum denn nicht? Mein Dortmunder Freund und Kollege Fritz Eckenga las mir einmal aus einer Speisekarte vor. »Hömma! Hier gibbet Tolloni mit Pansemannkäse und Gonzolasoße!« Das hatte er sich zwar ausgedacht, aber die Wirkung war phänomenal.

      Auf der Speisekarte des Fischerhofs fand ich »bardierten und gebratenen Ziegenkäse«. Bardiert? Also von Barden angenölt und zum Hörbrett gemacht? Prötert Peter Maffay dem Käse, den er auf seiner mallorquinischen Finca Can Sureda herstellen lässt, jetzt auch die Ohren voll? Duzt Wolf Biermann unschuldige Milchprodukte an? »Du lass dich nicht verhärten, du Ziegenkäse frisch…«, nöddel nöddel bramm? Armer Käse! Vielleicht ist aber ›barbiert‹ gemeint? Barbierte Ziege gibt es: Im Grimm’schen Märchen »Tischchen deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack« wird eine verlogene Ziege, die drei Söhne bei ihrem Vater angeschmiert hat, am Ende »glatt wie eine flache Hand« rasiert. Oder handelte es sich um bombardierten Käse? Hatte die bombodromfixierte Bundeswehr ihre kulinarischen Vorlieben auf die Speisekarte dieses friedfertigen Ortes schmuggeln können?

      Ich ließ das Rätsel zwischen meinen Ohren zunächst offen und las weiter. Frischer Wels war im Angebot – »mit pikanter Meerrettichsauce nappiert«. Wie jetzt, nappiert? Nepp ist mir bekannt, zum Beispiel von der Ostsee her, wo manches Restaurant ›Neptun‹ heißt, dem dann allerdings hartnäckig ein ›p‹ fehlt. Aber ich befand mich im Fischerhof in Rheinsberg und nicht in der Tourismushölle deutsche Ostsee.

      Wer nicht unwissend ins Grab sinken möchte, kann lesen oder fragen. Zuhause wartete der Fremdwörterduden, das Lokal aber bot die Gelegenheit, die freundliche Kellnerin um Auskunft bitten. Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht? Und so erfuhr ich: Etwas ›bardieren‹ bedeutet, es mit Speck zu umwickeln. Wer dagegen ›nappiert‹, der überzieht etwas mit Sauce. Vielen Dank!

      Mit derlei frischem Wissen überhäuft, ja geradezu nappiert, warf ich einen weiteren Blick in die Speisekarte – in die kleine, aber auffällige rote Zettel eingelegt worden waren, auf denen in Handschrift zu lesen war: »Liebe Gäste! Hiermit weisen wir darauf hin, dass auch Fischfilets Gräten enthalten können!« So beschränkt können nur Touristen sein: Fisch bestellen und dann hocherstaunt darüber herumjabbeln, dass Fisch infamerweise Gräten hat. Wenn sie aber Richtung Ostsee weiterziehen, ist alles gut.

      Wenn der Berliner kommt…

      Am Wochenende und an kirchlichen Feiertagen überfällt den Berliner der Wunsch, ein Mensch zu sein. Zwar hat er vor lauter Wichtigkeit vergessen, was das ist und wie das geht, aber er nimmt es sich tüchtig vor und organisiert es mit der ihm eigenen Bedeutsamkeit. Mister Hyde möchte wieder Doktor Jekyll werden; zwar bleibt er immer Mister Hyde, egal wie humanoid er sich auch verkleidet, schminkt oder gibt, aber das weiß er nicht, ignoriert es also frohgemut, wirft sich in Freizeitschale, klemmt sich Mausi unter den Arm und knattert los.

      Sein Ziel ist das, was er ganz selbstverständlich als »Umland« bezeichnet; die Herablassung, die in diesem Wort steckt, ist ihm zwar nicht bewusst, aber durchaus so gemeint. Schließlich ist Berlin der Mittelpunkt der Welt, um den alles andere eben herumliegt und nur darauf wartet, mit dem Geschenk eines Besuchs beglückt zu werden.

      Der Berliner hat von nichts eine Ahnung, das aber laut und vernehmlich. Er muss auch nichts wissen; er ist ja schon da, das genügt ihm vollständig – und sollte auch jedem anderen ein hinreichender Grund zur Freude sein. So taucht er im Städtchen auf, gern in großer Schaumacherkarre oder auch auf dem heftig pött-pötternden Motorrad, jedenfalls dergestalt, dass man ihn optisch und akustisch wahrnehmen muss, ob man das nun möchte oder nicht. Hat er sein Sieht-mich-auch-jeder?-Vehikel abgestellt, walzt er in Zweier- oder in Viererreihe übers Trottoir wie ein gemächliches Breitwandgesäß, lässt niemanden passieren und hat demonstrativ jede Menge Zeit. Etwas Konturloses, Matschiges umweht ihn; ohne sich eine Form zu geben, würgt und wirscht er durch die Gegend und teilt der Welt in Körpersprache mit: Ist es nicht herrlich, dass ICH jetzt frei habe? Mag sein – aber geht das die Welt irgendetwas an? Und ist es nicht erstaunlich, wie brüllend laut die angeblich stumme Körpersprache sein kann?

      Dezente Zurückhaltung überlässt der ausflügelnde Berliner anderen. Er ist inzwischen im Lokal angekommen und verlangt Bedienung. Die steht ihm zu, aber zack-zack. Ungläubig und widerwillig muss dieser Vertreter der Ausflugssorte Mensch zur Kenntnis nehmen, dass nicht allein er und die Seinen auf die singulär außergewöhnliche Idee einer Ausfahrt kamen; viele, viele andere sind ausgeflogen, manche sogar schon vor ihm. Bekommt er jetzt vielleicht nicht sofort einen Platz und alles, worauf er ein Anrecht hat? Skandal! Verrat! Ja, auch – vor allem aber Frechheit, jawohl: »’ne Frechheit is dett!«

      Mürrisch und kurz vor maulen steht der ausflugszielfixierte Berliner im Lokal und hühnert mit den Füßen. Beinahe schon hat er ein abschließend wegwerfendes »Also hier kannste ja ooch jarnisch mehr hinjehn!« auf den Lippen, als er doch noch einen freien Tisch erspäht. Allerdings steht dieser recht entlegen halb um die Ecke, und die Rückenlehnen der Stühle sind gegen die Tischkanten gekippt. Über diese kleinen Zeichen sieht und geht der Ausflügler großzügig hinweg, eilt mitsamt seinem Tross hinzu, rückt und ruckelt sich das Gestühl allseits gut vernehmlich zurecht, macht es sich bequem und schaut mit erwartungsvoll gerundetem Karpfenmund zu Kellnerin und Kellner.

      Die allerdings haben gut zu tun, und ihre Wegschneisen liegen abseits des Tisches, an dem Familie Sitzsack Platz genommen hat. Die Stimmung am Tisch verdüstert sich; wie kann das sein? Wir sind schon zwei Minuten hier, und das Essen steht noch nicht auf dem Tisch? Es wird nach Bedienung gewinkt, gerufen, mit den Fingern geschnipst und sogar gepfiffen; auch diese groben Regelverstöße bleiben folgenlos, in jeder Hinsicht. Nun macht der Ausflugsfamilienvorstand die Angelegenheit zur Chefsache, steht auf, strafft sich, sandalettet in einen weniger dezentral gelegenen Bereich des Gartenlokals hinüber und stellt sich entschlossen und mutig einer Kellnerin in den Weg. Die, ein volles Tablett in den Händen, erklärt ihm dennoch geduldig, dass an jenem Tisch leider nicht bedient werde, weswegen sie ja auch die Stühle gegen den Tisch gelehnt habe.

      Das