Wiglaf Droste

Auf sie mit Idyll


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bis der Groschen fällt. Als er durchgerutscht ist, klappt dem Ausflügler der Mund auf. In wortloser Wut starrt er die Kellnerin an, dreht sich um und macht seinem Klüngel ein Handzeichen, aufzustehen. Geräuschvoll rauscht die Truppe ab. Im Gesicht des Chefausflüglers arbeitet es weiter. Er dreht sich noch einmal um, schwillt zu voller Bedeutung an und entlässt den Inhalt seines Triumphatorenkopfes in den Tag: »So kann ditt ja nüscht wern im Osten!« – Nein, da muss erst einer wie er kommen, bis alles so schön ist wie überall.

      Was ist der Unterschied zwischen Terroristen und Touristen? Terroristen haben Sympathisanten.

      Aus der Mückengaststätte

      Von der Perspektive einer Mücke aus betrachtet ist der Mensch eine Mischung aus Tankstelle und Gastwirtschaft. Für einen Einzelmück oder eine Solo-Mücke ist ein menschliches Wesen ein Schnellimbiss, an dem der kleine Blutdurst zwischendurch mal eben rasch im Vorbeifliegen gestillt werden kann. Einem Mückenschwarm dagegen gilt der Homo sapiens als eine Art Großraumkantine, an deren Tischen alle Platz finden. Zwar gibt es weder ein Menü noch kann man à la carte bestellen – ausgeschenkt wird Einheitskost –, aber satt immerhin werden hier alle.

      »Stammessen Eins!« sirrt routiniert das Personal, ein rot gesprenkeltes, schon etwas angeschmuddeltes Tuch um die gerundeten Küchenbullenhüften geschlungen. Die Mitglieder der hungrigen Mückenmeute binden sich erwartungsfroh die Servietten vor, klopfen mit den vorfreudig gehärteten Saugrüsseln in rhythmischem Stakkato auf die Tische und verlangen im Chor: »Bsss! Bsss! Blutsuppe à la nature! Bsss! Bsss!«

      Der ohne sein Einverständnis zur Speisegaststätte umfunktionierte Mensch aber will der Mücke nicht als Freibank dienen. Fluchend schlägt er um sich und versucht, die auf seinen Gliedmaßen oder in seinem Gesichte sitzenden Vampire zu verjagen oder sie mit der flachen Hand am eigenen Leib oder auf der eigenen Wange zu zerquetschen.

      Die andere Wange hinhalten? Nein, das kommt im Fall des Mückenbefalls auch für Christen längst nicht mehr in Frage, hier wird mit der Eigenohrfeige schnell und unerbittlich Selbstjustiz geübt. Die übrigen Delinquenten werden im Eilverfahren dem Insektenbeauftragten, Kardinal flache Hand, überstellt, und der macht kurzen Prozess, urteilt die lästigen Säuglinge ab und weihräuchert sie aus, bevor er saftig klatschend zulangt.

      Doch der Mücken sind viele; die Hoffnung des Menschen, ein langer und frostiger, beißend kalter Winter hätte die stechenden Insekten schon im Larvenstadium vernichtet oder doch entscheidend dezimiert, war trügerisch und erfüllte sich nicht. Zerstochen und zerschunden, sich überall die scheußlich juckenden Mückenstiche kratzend, muss der Mensch einsehen, dass der kommode Platz am Ende der Nahrungskette ihm nicht automatisch und selbstverständlich, nicht unbedingt und unangefochten gehört. Selbst sichtlich passiver Teil des Ernährungskreislaufs geworden, muss er kleinlaut einräumen: Wer nichts wird, wird Zwischenwirt.

      Der gesättigte Mückenschwarm erhebt sich; einige wenige Angehörige der Großgruppe haben mit ihrem Leben bezahlt, der Rest prellt frech die Zeche und surrt davon, die nächste Raststätte schon im Blick: Ein Trupp älterer Ausflügler rentnert am Seeufer herum; viele von ihnen stützen sich mit einer Hand auf einen Stock oder halten sich mit beiden Händen an einem Rollwägelchen fest. Drei erfahrene Mücken, die als Vorhut und Späher unterwegs sind, reiben sich die Flügel, machen kehrt, fliegen zu den anderen retour und können frohgemut vermelden: »Leichte Beute voraus!«

      Grausam und unerbittlich ist die Natur. Die Kleinen fressen die Großen – zumindest dann, wenn die Großen nur noch mit Kölnisch Wasser bewaffnet sind. So erlitt eine Seniorengruppe in Rheinsberg noch einmal das Schicksal von Flucht und Vertreibung.

      Denn mit Rollator und Krücke

      Erschlägst du keine Mücke.

      Anmerkungen über die Übergangsjacken

      Bösartig lang und düster ist der deutsche Winter. In dicke, nasse oder angefrorene Mäntel gehüllt, strickbemützt und in Schals gewickelt, stehen Menschenklumpen wie Falschgeld in der Welt; triefnasig, rotäugig und vergrippt starren sie aus der grauen Wäsche. Was sie verströmen, ist das, was sie fürchten und mit dem sie zugleich liebäugeln: Untergang.

      Doch pünktlich zum Termin kommt der Frühling und streichelt mit zarten Sonnenstrahlenfingern vorsichtig die verwinterten Gesichter und Gemüter. Das Signal wird gleich richtig verstanden: Ihre Behausungen, in denen die Menschen eben noch in Agonie ausharrten, schmücken sie nun und tauchen sie in Meere von Blumen. Das Leben fügt sich wieder, es reimt sich Luft auf Duft, allenthalben wird froh und albern gedichtet und mit den Vögeln geträllert:

      Im Frühling walten Gefühle,

      die treiben mich aus dem Haus.

      Denn die Wirte stellen die Stühle

      und die Frauen die Beine heraus.

      Nach draußen, ans Licht, zieht es den Menschen. Nur – was zieht er an beziehungsweise über? Den Winterkram kann und will er nicht mehr sehen, der ist ihm oll geworden und eine Last. Am liebsten spränge er gleich im leichten Sommerzeug umher, so luftig ist’s ihm in der Seele, aber das wäre nicht klug, zu leicht ist eine Erkältung eingefangen, und die würfe ihn um Tage, ja Wochen zurück. So greift der Mensch zum Übergangsmantel, oder, kühner noch, zur Übergangsjacke.

      Vom Untergang zum Übergang – wenn das kein Fortschritt ist! Doch was genau ist eine Übergangsjacke? Was hat man sich darunter vorzustellen? Etwa Bruno Ganz, die alte Untergangszwangsjacke, eingekleidet von Jack Wolfskinhead? Zicke-zacke, Übergangsjacke? Und um was für einen Übergang handelt es sich überhaupt? Was geht von wo nach wohin über? Der Winter zum Frühling, oder gleich, in einer Art klimatischer Gleitzeit, zum Sommer? In jene Jahreszeit also, in der speziell der junge Mensch möglichst unbekleidet durch den öffentlichen Raum eiert? Und dabei aber immer eine Trinkflasche in der Hand festhält, um der Welt zu demonstrieren, dass er, obschon kaum volljährig, doch eigenständig und ambulant Flüssigkeit in sich aufzunehmen und zu versenken versteht, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um Bier, Bier oder Bier handelt? Ist es der Übergang vom Leben zum Tod – und die Übergangsjacke also ein letztes Hemd? Nein, dazu ist die Übergangsjacke zu bunt und hat auch zu viele Taschen.

      Scheußlich und den Menschen schändend ist alles, was nach Freizeitkleidung aussieht; auch jede Anmutung von Funktionskleidung ist unbedingt zu vermeiden. Wer zu klassischen Geriatriefarben wie beige, grau, schlàmme oder grünlich greift, darf sich über Stigmatisierung und Ausgrenzung nicht wundern. Auf Grellheit allerdings möge gleichfalls verzichtet werden. Das Auge sieht mit und will nicht farbenblind werden. Der Mensch ist kein Buntstift und soll sich als solcher nicht aufführen.

      Das Schönste an der Übergangsjacke ist der Tag, an dem die Übergangsjackenzeit dann auch schon wieder vorbei ist. Bis dahin gilt die Regel: Der Deutsche ist vernarrt in den Untergang, trägt dabei aber, zumindest zeitweise, Übergangsjacke.

      Doch über den Übergangsjacken

      Prangt – ohne oder mit Zopf –

      Dabei modisch gleichsam altbacken

      Dieses Ding namens Übergangskopf.

      Pilgerstrom

      Eine Besonderheit der deutschen Sprache ist das Kompositum, das aus zwei oder mehr Wörtern zusammengefügte Wort. Dabei entstehen schnell Ungetüme wie »Sicherheitsarchitektur«, »Zeitschiene«, »Gerechtigkeitslücke« oder »Rettungsschirm«.

      Ein ganz besonderes Kompositum beschert uns turnusmäßig die massenhafte Versammlung organisierter Gläubischer aller Art; sie bietet Anlass, von einem »regelrechten Pilgerstrom« zu sprechen. Das Wort löst bei mir uneingeschränktes Wohlgefallen aus: Pilgerstrom. Das klingt nach einem neuen Stromanbieter, dessen Dienste man unbedingt nutzen sollte.

      Pilgerstrom, die religiöse Energiequelle, ist eine Alternative zu Stromerzeugern, wie man sie bisher kannte. Pilgerstrom kann schmutzige Braunkohlekraftwerke genauso überflüssig machen wie radioaktiv gefährlichen Atomstrom, und selbst die hässlichen Windenergieräder, auch Storchenschredder genannt, braucht man nicht mehr. Kriege um Öl müssen