sie wollten zum Baumarkt, sie wollten nach Hause. Ich sah ihnen dabei zu, während Peros Stimme mich an das Geräusch eines Kreisels erinnerte, kurz bevor er austrudelt und umkippt. Seine Worte waren hastig geflüstert. Er sprach von seiner ersten Liebe, dem Sohn eines Freundes. Damals war Pero Anfang zwanzig. Ein Jahr lang lief es problemlos. Er paßte am Wochenende auf den Jungen auf und ließ ihn bei sich übernachten, es war das übliche Programm. Pero kannte die Familie und war ein alter Freund. Er hatte immer Zeit, und so sparten sich die Eltern einen Babysitter. Wozu sind Freunde da? Sie bemerkten zwar die Veränderungen an ihrem Sohn – die Launen, das Schweigen, die überraschenden Wutausbrüche – sahen aber keine Verbindung zu ihrem guten Freund Pero. Ein Psychologe wurde zu Rate gezogen, ein Feriencamp im Sommer geplant. Erst als die Mutter einen Blutfleck in der Unterwäsche des Jungen entdeckte, kam es heraus. Der Vater brach Pero den rechten Arm und schlug ihm die Vorderzähne aus, erstattete aber keine Anzeige. Scham und Schande. Pero kam glimpflich davon. Er bereute keine Minute.
– Wie alt war der Junge? fragte ich.
– Fünf. Niemals werde ich den Kleinen vergessen. Ein Jahr habe ich nur für ihn gelebt. Nur für ihn! Das war es wert. Haut wie ein Pfirsich, Arsch wie ein Apfel, erste Liebe und so, verstehst du?
Plötzlich sah er mich abschätzend an, ich war ein offenes Fenster und er durfte reinschauen. Er brauchte nicht lange zu suchen.
– Scheiße, bist du ein Frischling?!
Er lachte, stieß mich mit der Schulter an.
– Alter, du bist eine verdammte Jungfrau!
Ich lächelte verlegen. Er hatte recht. Ich war eine verdammte Jungfrau.
Nach der ersten Woche holte ich Pero mit dem Auto ab. Das gefiel ihm sehr. Ich war sein Chauffeur, sammelte Geschichten und zahlte gut. Er sprach von der Szene und den Auf und Abs in seinem Leben, er lamentierte über das Elend, immer auf der Suche zu sein, und natürlich erzählte er auch von dem Hunger, der ihn antrieb. Wir fuhren im Schrittempo an Spielplätzen vorbei und er sagte, wo ich halten sollte. Wehmütige Erinnerungen stiegen in ihm auf. Manchmal saß er zwei, drei Minuten einfach nur da, schaute aus dem Wagen und tippte dabei mit einem Fingernagel gegen seine künstlichen Vorderzähne. Manchmal kamen ihm die Tränen.
– Sehnsucht, sagte er, Diese verfluchte Sehnsucht bringt mich irgendwann noch um.
Eines Tages hielten wir vor einer Eisdiele, und er zeigte mir seine neue Liebe. Der Junge hielt die Hand seiner älteren Schwester. Das Mädchen interessierte Pero nicht, sie hätte genauso gut unsichtbar sein können. Der Junge war sechs. Pero verriet mir seinen Namen. Er sagte: »Ich bin treu. Wenn ich verliebt bin, sehe ich keinen anderen an. Das ist wahre Liebe.« Er sagte auch: »Aber ich muß vorsichtig sein. Der Junge wird meine Nummer 9. Ich will das Glück ja nicht herausfordern. Bald feiere ich Jubiläum. Die Nummer 10 muß was ganz Besonderes sein.«
Nach vier Wochen hatte ich alles erfahren, was ich erfahren wollte, und stellte ihm die letzte Frage. Er war überrascht.
– Wozu willst du das denn wissen?
– Ich will verstehen, wie du sowas tun konntest.
Er dachte nach, als hätte er sich noch nie den Kopf darüber zerbrochen, wieso er dreieinhalb Jahre freiwillig hinter Gittern verbracht hat. Als er sprach, war seine Stimme belegt – Emotionen, Ehrfurcht, eine Prise Stolz.
– Wenn du in dieser Welt überleben willst, brauchst du einen Mentor, der dich leitet, der dir sagt, wie die Dinge sind, verstehst du? Einen, der dir erklärt, was geht und was nicht geht. Für deinen Mentor tust du dann alles, denn er ist es, der dir die Augen geöffnet hat. Du beginnst, die Welt als das zu sehen, was sie ist: Keine Illusionen mehr. All das Leiden und der Schmerz machen dich plötzlich zufrieden, verstehst du? Und das sollte das höchste Ziel eines jeden Menschen sein – Zufriedenheit. Ohne Zufriedenheit, existieren wir einfach nur. Deswegen war ich im Knast, verstehst du? Ich war zufrieden damit, die Strafe für meinen Mentor abzusitzen. Ich würde es sofort wieder tun. Mein Leben hat einen Sinn, weil er ihm einen Sinn gegeben hat.
– Und was war danach?
Er sagte, danach wäre der Kontakt abgebrochen.
– Mein Mentor hat sich verändert, sagte er, Er geht jetzt neue Wege.
Ich glaubte ihm. Alles findet ein Ende. Der Mentor ging neue Wege.
Bei unserem letzten Treffen saßen wir wieder auf der Bank, die U-Bahn fuhr ein, die U-Bahn fuhr ab. Plötzlich beugte sich Pero zu mir rüber. Sein Mund war nahe an meinem Ohr. Die Wärme seines Atems. Er nannte mir den Namen des Pubs. Er ließ mich wissen, daß ich den Mentor nicht suchen könne.
– Geh dorthin, sieh dich um, sei geduldig, verstehst du?
Wir beobachteten den Verkehr. Pero wartete auf eine Antwort. Ich sagte, ich hätte verstanden. Wir verabschiedeten uns nicht. Er stieg in die nächste U-Bahn und sah sich nicht nach mir um; ich nahm den Blick keine Sekunde von ihm. Die Türen schlossen sich. Die U-Bahn fuhr ab. Ich saß noch eine Weile da und beobachtete weiter die Charlottenburger Chaussee und wunderte mich, wie das Leben einfach so weitergehen konnte – ein Baum stürzt im Wald um, und niemand bekommt es mit.
3
Da ist das Ticken der Standuhr, da ist die Lüftung des Backofens, die von der Küche aus bis in das Wohnzimmer herüberatmet, in dem mir Achim mit schräggelegtem Kopf gegenübersteht. Ich habe ihm alles erzählt, er hat mich kein einziges Mal unterbrochen. Natürlich kennt er die Details nicht.
Was für eine Arbeit es war, ihre Namen herauszufinden. Wieviele Polizeiakten ich kaufen und lesen mußte, wieviele Monate ich damit verbracht habe, sie zu beobachten. Meine ganzen Ersparnisse gab ich dafür her, alles über diese Männer herauszufinden.
Achim gibt sich einen Ruck, reicht mir sein Glas und wartet, daß ich trinke. Die Eiswürfel sind von der Wärme seiner Hand geschmolzen, der Wodka ist lauwarm. Es schmeckt, als würde ich einen Teil von ihm trinken. Schweiß. Blut. Speichel. Mein Hals ist wund, die Beine zittern, ich leere das Glas.
– Das ist über ein Jahr her, sagt er, Wieso hast du so lange gewartet, bevor du uns aufgesucht hast?
– Respekt, lüge ich, Und natürlich Angst, daß ihr nichts mit mir zu tun haben wollt.
– Respekt ist gut, sagt er, Angst gehört dazu. Gib mir dein Handy.
Ich gebe ihm mein Handy. Er klickt sich durch das Menü, öffnet mein Adreßbuch und lacht, als er den Eintrag GOTT sieht. Er findet, was er gesucht hat, stellt die Verbindung her und schaltet das Handy auf Freisprechen. Wir hören es klingeln. Ein Anrufbeantworter springt an.
– Hier ist Pero. Tut mir leid, ich kann nicht rangehen. Versucht es später.
Achim nickt, als würde er über diese Worte nachdenken, dann gibt er mir das Handy zurück und rät mir, die Nummer zu löschen. Ich lösche die Nummer sofort und sage, was ich schon die ganze Zeit über sagen will.
– Ich bin froh, daß ich euch gefunden habe.
– Das solltest du auch sein.
Achim geht in die Küche, füllt die Gläser nach und schaut in den Backofen. Als wir am Tisch sitzen, sind wir gut angetrunken. Das Fleisch ist zart, die Kartoffeln perfekt, das Sauerkraut erinnert an feingesponnene Fäden. Achim tut mir eine zweite Portion auf.
– Kein böses Blut?
Ich schüttele den Kopf, der Schweiß unter meinen Achseln ist getrocknet, der Magen schmerzt noch, kein böses Blut. Ich frage ihn, ob die anderen wissen, warum wir uns heute getroffen haben. Achim grinst und wackelt mit den Augenbrauen. Es ist Antwort genug. Es würde mich auch nicht wundern, wenn sie längst mit Pero gesprochen hätten. Sie gehen keine Risiken ein, ich gehe keine Risiken ein, wir passen gut zusammen.
Ein Jahr Vorbereitungszeit ist nicht viel, wenn man ein anderer Mensch werden will. Ich brauchte nicht nur einen neuen Wohnort, ich brauchte eine neue Geschichte,