aber ich kann nicht. Und dann sagt meine Tochter die vernichtenden Worte. Sie sagt sie immer zum Schluß, als würde sie die Worte in Blockbuchstaben unter den Abspann unseres gemeinsamen Lebens setzen.
– Mama, das Haus ist so leer ohne dich.
Ich beginne, lautlos zu heulen.
2
Vielleicht war es die Erschöpfung des Tages oder die Erleichterung, ihre Stimmen gehört zu haben – ich erwache Stunden später auf dem Boden. Mein Rücken schmerzt, aus der Küche kommt kein Laut mehr, nichts rührt sich im Haus. Sie haben mich schlafen lassen, und ich bin ihnen dankbar dafür. Wann habe ich das letzte Mal so lange durchgeschlafen?
Ich schaue auf die Uhr. Mein innerer Wecker funktioniert präzise.
Es ist sieben Uhr früh.
Die Arbeit ruft.
Ich betrete die Küche, rücke einen Stuhl gerade und nehme den Zettel vom Tisch. Ich überfliege meine eigenen Worte, als würde sich dahinter eine geheime Botschaft an mich selbst verstecken, ehe ich den Zettel zerknülle und in den Papierkorb werfe. Für eine Weile lehne ich am Spülbecken und lasse das Wasser laufen. Ich trinke zwei Gläser und schlucke eine Vitamintablette. Das kalte Wasser breitet sich angenehm in meinem Magen aus. Die Worte meiner Frau wandern durch meinen Kopf:
»Du weißt, daß ich ihn liebe. Ich werde ihn immer lieben.«
Die Worte meiner Tochter folgen wie ein sanftes Echo:
»Ich will bei Papa bleiben.«
Als unsere Tochter fünf Jahre alt war, wollte sie wissen, warum Erwachsene manchmal das eine sagen, wenn sie das andere meinen. Ihr war aufgefallen, daß wir uns und andere offen anlogen. Sie verstand nicht, warum wir das taten. Sie kam nicht darauf, daß wir die Gefühle des Anderen schonen wollten. Ich weiß noch genau, was meine Frau ihr geantwortet hat. Sie sagte: »Wir wissen es nicht besser.« Sie sagte es so überzeugend, daß selbst ich ihr glaubte. Wir wissen es nicht besser. Wir wollen ehrlich sein, wir können es aber nicht, weil wir es nicht besser wissen. Auch das war nur eine weitere Lüge, die unser kleines Mädchen schützen sollte. Denn wir wissen es besser. Wir wollen den Anderen nur nicht unentwegt mit der Wahrheit verletzen. Deswegen ertragen wir die kleinen Stiche und Hiebe. Mit oberflächlichen Wunden kann man leben. Für eine Weile zumindest. Aber jede noch so unbedeutende Wunde blutet, und so fließt jeden Tag das Leben aus uns heraus, während das Herz schlägt und schlägt und wir dabei reden, essen, lieben oder in der Sonne liegen und tun, was auch immer wir tun, weil wir es nicht besser wissen. Jahr für Jahr verläßt uns die Kraft ein wenig mehr, weil selbst die kleinste Lüge Schaden anrichtet. Ich weiß, wovon ich rede. Ich blute ohne Pause.
3
Im Lehrerzimmer riecht es nach verbranntem Kaffee. Die Maschine war schon da, als ich hier im letzten Sommer anfing. Sie ist den Großteil der Zeit kaputt. Seit Neujahr sammeln wir für einen von diesen Vollautomaten mit Mahlwerk und integriertem Milchbehälter. Die Sekretärin prüft jede Woche die Kasse, aber kaum jemand wirft noch Geld hinein. Geiz wird großgeschrieben. Viele haben sich angewöhnt, ihren eigenen Kaffee mitzubringen. Eine Armee von Thermoskannen reiht sich neben der Spüle auf. Die Becher dazu sind beschriftet. Auf meinem steht nicht Papa.
In der Hofpause sitze ich mit meinem Kaffee alleine an einem der Fenster, blättere in einer Zeitschrift und denke nach. Vier Tage sind seit meinem Geständnis vergangen, und ich bin dem Pub ferngeblieben. Sie werden es verstehen. Ich muß mich von mir selbst erholen. Normale Dinge tun. Korrekturen machen. Einkaufen gehen. Wäsche waschen. Lehrer sein.
Ich betrachte den Becher in meiner Hand. Seitdem ich auf diese Schule gewechselt bin, führen meine Hände ein Eigenleben. Die Kollegen scherzen. »Parkinson oder Delirium tremens?«, fragen sie mich, so daß ich es mir angewöhnt habe, alleine zu essen, um mir die Kommentare zu ersparen. Die Kollegen sehen mich als Einzelgänger. Es ist ein Image, an daß ich mich gewöhnen könnte. Es wird jeder Prüfung standhalten. Ich stelle den Becher weg, schaue auf meine Hände und kann es nicht glauben. Ich habe die ruhigsten Hände in ganz Deutschland. Es ist ein herrliches Gefühl, daß mir mein Körper wieder gehört. Es ist ein sehr gutes Zeichen. Ich bin auf dem richtigen Weg.
4
Im Radio wird vor Blitzeis gewarnt, die Straßen glänzen, die Autos fahren im Schrittempo, und ich könnte wetten, daß Edmont heute nicht mit dem Motorrad unterwegs ist.
Es ist, als hätten sie mich erwartet.
Ich betrete den Pub, der Blickkontakt ist sofort da, sie winken mich zu sich. Meine Unsicherheit legt sich, und an ihre Stelle tritt eine nervöse Erwartung. Fleetwood Mac singt Go Your Own Way. Ich ignoriere den Rat und bleibe am Tisch stehen. Franco schiebt mir einen Stuhl zu. Ich setze mich.
– Na, hast du dich erholt? fragt Achim.
Ich nicke. Hagen schnuppert.
– Geduscht hat er auch.
Ich lächle, Edmont lächelt zurück.
– Schön, daß du wieder da bist.
– Danke.
Achim ruft nach der Kellnerin. Franco erklärt, die nächste Runde gehe auf seine Rechnung, dann tippt er mit dem Zeigefinger auf den Tisch.
– Wir wollen mal über die Regeln reden.
– Was für Regeln? frage ich.
– Unsere Regeln, Mika.
Sie sagen, sie gehörten keiner Organisation an, sie sagen, sie hielten sich von Vereinen fern, und mit Politik dürfe man ihnen gar nicht kommen. Keiner von ihnen wäre vorbestraft, sie lebten unter dem Radar und fielen nicht auf. Das Internet wäre tabu. Keine Foren, keine Chats. Sie blieben der Szene fern.
– Kannst du uns soweit folgen?
– Ich kann.
Franco erklärt, daß es eine Frage der Selbstbeherrschung ist. Wie lange man sich im Zaum halten kann. Was man tut, wenn der Hunger zu groß wird. Franco weiß das alles, er ist nicht umsonst ihr Anführer. Als er vor dreißig Jahren nach Berlin kam, hatte er keine Ahnung, was seine Berufung war, er wußte nur, daß er nie wieder in einem Restaurant arbeiten wollte. Anfangs half er einem Cousin aus, dem ein Kurierdienst gehörte. Es dauerte nicht lange, und Franco machte sich mit seinem eigenen Kurierdienst selbständig. Dann traf er seine Frau. Es folgte ein Sohn, eine gemeinsame Wohnung und eine Affäre mit einer Redakteurin vom RIAS, die ihm seinen ersten Sprecherjob verschafft hatte. Franco besitzt eine markante Stimme, und er ist ein guter Zuhörer, der wortgewandt von einem Thema zum anderen wechseln kann, ohne dabei den Faden zu verlieren. Seine Gedankengänge schließen sich immer, und er hinterläßt beim Hörer ein Gefühl von Gesamtheit – als hätte er alles im Griff, als würde jede Frage eine Antwort verdienen. Das Radio ist sein Medium. Er moderiert zwei Sendungen in der Woche. Jeden Dienstag und Freitag gibt es spät in der Nacht Francos Special Delight. Er lebt nicht mehr mit der Mutter seines Sohnes zusammen, er sieht den Jungen nur an den Wochenenden. Alles in allem ist Franco sehr zufrieden mit seinem Leben, und er will, daß ich das verstehe.
– Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben, Mika, und bevor ich dir von unseren Regeln erzähle, will ich, daß du weißt, wie sehr uns deine Unzufriedenheit stört. Schau dir Hagen an.
Ich sehe zu Hagen hinüber.
– Dieser Junge ist der lebende Sonnenschein, spricht Franco weiter, Er geht seinen Weg und steht mit beiden Füßen im Leben. Und jetzt schau dir Edmont an.
Franco packt Edmont an der Schulter und schüttelt ihn ein wenig. Edmont grinst.
– Dieser Mann saugt dem Tag die verschissene Seele aus dem Leib, weil er alles will, aber auch wirklich alles, was dieses Leben zu bieten hat, verstehst du? Er fährt sein Motorrad …
– Cruiser, sagt Edmont.
–