Zoran Drvenkar

Still


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wie du dort gestanden hast und der Wind dich voranschob, als wollte er verhindern, daß du anfrierst. Deine Füße waren blutig und vier Zehen erfroren. Deine Zähne schlugen so heftig aufeinander, daß es schmerzhaft deine Wirbelsäule hinunterzog.

      Und dazu der Schnee.

      Er breitete sich vor dir aus wie ein weißes, frisch bezogenes Bett und lockte dich.

      Laß dich fallen, komm schon.

      Erinnerst du dich an diese Sehnsucht?

      Du hast ihr nicht nachgegeben. Du bist weitergegangen, die Arme vor dem Bauch verschränkt, als würdest du eine Wunde verschließen. Die vorbeifahrenden Autos bespritzten dich mit Schneematsch, du bist nicht ausgewichen, du bist mit dem Wind gegangen und hast einen Fuß vor den anderen gesetzt, und niemand sah dich und kein Auto hielt. Du mußt es ihnen verzeihen, du warst kaum sichtbar in diesem dichten Schneetreiben, und wenn da nicht ein übermüdeter Lastwagenfahrer gewesen wäre, der nach einem Rastplatz Ausschau hielt, wer weiß, wie lange du noch gelaufen wärst.

      Erst sah der Fahrer ein Schemen, dann hast du dich aus dem Schneesturm herausgeschält, und es war ein wenig, als würdest du eine unscharfe Filmszene verlassen – barfuß und nur mit einem knielangen T-Shirt bekleidet, deine Schulterblätter zeichneten sich wie zwei Messerklingen durch den nassen Stoff ab, die Haare waren vom Wind nach vorne geweht, so daß dein Gesicht dahinter verschwand. Dann war der Lastwagen an dir vorbei, und der Fahrer schaute in den Rückspiegel und sah nichts und rieb sich mit dem Handballen über die Augen und wußte, er hatte sich nicht getäuscht.

      Die Autobahnpolizei brauchte eine gute Stunde, um bei dem Wetter zu der Stelle zu kommen, die der Lastwagenfahrer ihnen durchgegeben hatte. Sie fuhren den Randstreifen im Schrittempo ab und entdeckten dich nach drei Kilometern. Nachdem sie das Blaulicht eingeschaltet hatten, überholten sie dich und versperrten dir den Weg.

      Du sahst sie nicht, die Haarsträhnen klebten auf deinem Gesicht und waren um Augen, Mund und Nase herum festgefroren, und so bist du blind in die Polizistin hineingelaufen. Es ging nicht mehr weiter, dein Körper kam zur Ruhe, deine Knie gaben nach, und du bist gefallen.

      Die Polizistin reagierte instinktiv und fing deinen Sturz ab. Sie schloß die Arme um deinen mageren Körper und drückte dich an sich, so daß sich deine Füße vom Boden lösten.

      – Kannst du mich verstehen? fragte sie, aber du hast ihr nicht geantwortet, auch als sie dein Gesicht sehen wollte, hast du den Kopf nicht gehoben, also sprach sie weiter beruhigend auf dich ein und verlagerte dein Gewicht auf ihre andere Hüfte, ehe sie sich vom Wind abwandte, um zum Wagen zurückzukehren. Sie wollte dich aus der Kälte in die Wärme bringen, sie wollte dir Sicherheit geben. Dein Knurren ließ sie erstarren, kurz darauf bohrten sich deine Zähne in ihren Hals.

      Die Polizistin konnte nicht wissen, daß du zu dem Zeitpunkt schon lange kein Mädchen mehr warst. Du warst eine tollwütige Hündin, die niemandem vertraute.

      Sie spürte den Ruck an ihrem Hals, das dicke Jackenfutter des Kragens rettete ihr das Leben. Die Polizistin versuchte Abstand zwischen euch zu schaffen, dabei fiel dein Haar zur Seite, und sie sah zum ersten Mal deine Augen. Der wilde Blick, die Leere und Wut darin. Sie hätte dich fallen lassen können, aber sie tat genau das Gegenteil, weil sie begriff, daß deine Wut nichts mit ihr zu tun hatte.

      Du hast dich verteidigt, du hast um deine Freiheit gekämpft.

      Ihr Kollege war auch aus dem Wagen gestiegen und wollte zu Hilfe kommen, die Polizistin sagte, er solle ihr aus dem Weg gehen, und drückte dich so fest an sich, daß dein Kopf zwischen ihrer Schulter und ihrem Kinn eingeklemmt war. Deine Zähne rissen am Jackenkragen, dein Knurren wurde lauter.

      – Was tust du da? wollte ihr Kollege wissen.

      – Mach die Hintertür auf.

      – Aber---

      – Mach auf, verdammt nochmal!

      Er öffnete die Hintertür, die Polizistin duckte sich in den Wagen, ohne dabei auch nur eine Sekunde ihren Griff von dir zu lösen. Sie rutschte mit dir auf die Rückbank, und da saß sie dann halb liegend und hielt dich fest an sich gedrückt, während dein Knurren das Wageninnere füllte. Deine Zähne malmten, du dachtest nicht daran loszulassen. Es fühlte sich für dich an, als würde dich der Sturm davonreißen und an den Ort zurückbringen, von dem du geflohen bist, solltest du auch nur eine Sekunde loslassen.

      All das geschah im Januar vor sieben Jahren. Zwei Wochen lang warst du verschwunden, und deine Eltern erkannten dich kaum wieder, als dein Photo im Fernsehen gezeigt wurde.

      Da dich die Polizei auf der A9 in Fahrtrichtung Berlin aufgelesen hatte, suchte sie die Umgebung vom Fundort ausgehend in einem Umkreis von zehn Kilometern ab, klopfte an Türen und hoffte auf Augenzeugen. Keiner konnte sagen, wie lange du zu Fuß unterwegs gewesen bist, oder wie du die Kälte überleben konntest. So wie auch keiner sagen konnte, wo dein Bruder abgeblieben war. Nur du wußtest, daß die Suche nach ihm sinnlos war. Nichts und niemand konnte deinen Bruder retten, denn du hast ihn sterben sehen.

      Eine Stunde nachdem sie dich auf der Autobahn gefunden hatten, warst du im Klinikum Potsdam. Die Polizistin blieb an deiner Seite, als dich eine Krankenschwester wusch und deine Wunden und Erfrierungen versorgte. Du hattest Kratzer am ganzen Körper und vier erfrorene Zehen, deine Augen waren entzündet, und da war ein tiefer Schnitt an deinem Knie und deiner Hüfte. Sie badeten dich, cremten deine Füße und Hände ein, danach gaben sie dir ein Beruhigungsmittel und legten dich in ein Bett. Als dein Kopf im Kissen versank, wollte sich die Polizistin abwenden und gehen, aber du hast nach ihrer Hand gegriffen und sie zurückgehalten. Die Müdigkeit machte jede deiner Bewegungen bleiern. Deine Stimme war ein Flüstern.

      – Ich bin tot.

      – Nein, du bist gerettet.

      Da erst hast du der Müdigkeit nachgegeben und die Augen geschlossen.

      Es sollten für lange Zeit deine letzten Worte sein.

      Das Schluchzen deiner Mutter weckte dich am nächsten Morgen auf, die Stimme deines Vaters rief nach der Krankenschwester, der Schneefall wehte knisternd gegen das Fenster und erinnerte dich an die Nacht, in der sie deinen Bruder und dich geholt hatten.

      Deine Eltern verstanden nicht, was hier passierte.

      Du lagst nicht auf dem Krankenhausbett. Du hattest zusammengeknüllte Handtücher unter die Decke geschoben, aber wen wolltest du damit täuschen?

      Zwei Pfleger zogen und zerrten dich unter dem Bett hervor. Deine Finger quietschten über den Boden. Du hast getreten und dich gewehrt, ohne ein Geräusch von dir zu geben. Du warst so still, daß es wie eine gespenstische Pantomime wirkte.

      Als sie dich auf das Bett gelegt hatten, gaben sie dir ein Beruhigungsmittel. Deine Mutter sprach in ihr Handy, dein Vater hatte Tränen in den Augen, der Arzt sagte, es wäre besser, wenn sie gehen würden.

      Deine Eltern dachten nicht daran.

      Du konntest an ihren erschrockenen Gesichtern ablesen, daß sie sich vor dir fürchteten. Du warst ausgezehrt, du wirktest verrückt, und dein Blick verlor sich im Raum. Du warst nicht mehr ihre Lucia, sondern eine uralte Dreizehnjährige, die für zwei Wochen spurlos verschwunden war und sich danach im falschen Leben wiedergefunden hat. Sie sagten, sie wollten dich nach Hause holen. Sie sagten immer wieder, jetzt seiest du in Sicherheit. Ihre Worte öffneten keine Erinnerung. Nichts geschah. Woher sollten sie auch wissen, daß Worte keine Schlüssel sind und daß es für dich keinen sicheren Ort auf dieser Welt mehr gab.

      ICH

      1

      Es gibt keine sicheren Orte. Wir geben uns Mühe. Wir errichten Wände, wir schließen Türen und Vorhänge. In den Nächten lauschen wir auf jedes Geräusch, am Tag wagen wir uns vor die Tür und schauen nach links und rechts, bevor wir die Straße überqueren. Wir sind mißtrauisch, wir sind vorsichtig, wir wissen es nicht anders, denn es gibt keine sicheren Orte. Es gibt aber Waffen und Wut, es gibt Gier und Lust, es gibt die Ungerechtigkeit und das Schicksal, das uns verlacht. Kein Ort ist sicher,