Ländern der politische Misserfolg die Unzulänglichkeiten folkpolitischen Denkens deutlich werden lässt.71
Bemerkenswert ist zunächst, dass es zu jenem Scheitern kam, obgleich eine große Vielfalt unterschiedlicher Ansätze unter der Bezeichnung Occupy subsumiert wurde. In den USA beispielsweise reichte das Spektrum von Occupy Wall Street bis Occupy Oakland, von dogmatischer Gewaltfreiheit bis zum offenen Antagonismus, vom öfter einmal verwirrten Liberalismus bis zur libertär-kommunistischen Militanz.72 Doch es gab nicht nur regionale Unterschiede, auch die Beteiligten offenbarten die verschiedensten ideologisch-politischen Einstellungen, deren Spannbreite einen reformistischen Liberalismus ebenso wie antikapitalistische und aufrührerisch anarchistische Positionen einbegriff, antietatistischen Kommunismus oder gewerkschaftlichen Aktivismus ebenso wie einen oberflächlichen Libertarismus, der sich vor allem gegen die Federal Reserve, die US-Notenbank, richtete. Hinzu kam eine weit verbreitete Abneigung gegen das Artikulieren politischer Forderungen, was es noch schwieriger machte, so etwas wie eine politische Einheit der Occupy-Bewegung zu entdecken.
Es lässt sich relativ leicht begreifen, warum so viele motiviert waren, sich der Bewegung anzuschließen. Der horizontalistische Charakter von Occupy gab den Leuten die Möglichkeit, sich in und gegenüber einer Gesellschaft zu äußern, die ihre Stimmen kaum einmal wahrnahm.73 Insbesondere in den USA führt der Zustand der auf Wahlen und zwei große Parteien zentrierten Demokratie dazu, dass für politische Debatten nur unglaublich wenig Raum bleibt. Die in der Occupy-Bewegung geradezu explosionsartig aufgekommenen Slogans und artikulierten Bedürfnisse verweisen auf viel unterdrückten Ärger; politische Ansprüche, die ansonsten unbekannt geblieben wären, traten nunmehr auf vielfältige Weise hervor. Selbst Menschen, die sich nicht direkt an den Besetzungsaktionen beteiligten, bot Occupy eine Plattform. Zu einem Forum entwickelte sich beispielsweise die Tumblr-Site We Are The 99 Percent, die einen Chor von Stimmen versammelte, die gegen ökonomische Verelendung und soziale Exklusion protestierten.74 Ohne dass es direkte politische Folgen gehabt hätte, war die Gelegenheit, der eigenen Frustration öffentlich Luft zu machen, vielen Ausgeschlossenen Inspiration und Ermutigung.
Occupy unterbrach für Beteiligte und Beobachter gleichermaßen Alltag und Normalität. So wurde die Möglichkeit geschaffen, sich in ein gemeinsames politisches Projekt einzubringen. »Selbstbestimmtes Handeln führt den Menschen ihre eigene Macht vor Augen«, wie es ein Beobachter formulierte.75 An Orten wie Oakland drängten die Aktivisten des Öfteren auf eine stärkere Radikalisierung der Politik, während die üblichen Vermittlungsinstanzen (wie etwa gemeinnützige Organisationen) weiter um Mäßigung bemüht waren. Occupy war, wie viele andere Protestbewegungen auch, ein Weg, der die Beteiligten radikalisierte, insbesondere angesichts des unverhältnismäßigen und brutalen Vorgehens der Polizei. Die Besetzungen sollten, so wurde erwartet, eine neue Welt vorbilden; doch auch wenn diese neue Welt weiterhin erst noch entstehen musste, demonstrierten die Bewegungen den Beteiligten zweifellos, was politische Solidarität bewirken konnte.76
Von den besetzten öffentlichen Orten gingen ferner, über ihre Wirkung innerhalb der Bewegungen hinaus, Aktionen aus, die sich gegen das politische System insgesamt richteten, etwa bei den Protestcamps gegen G8-Treffen.77 In den meisten Fällen handelte es sich um Demonstrationen und Kundgebungen, und die Occupy-Camps dienten dabei als Räume kollektiver Entscheidungsfindung. Darüber hinaus waren die besetzten Plätze Orte, an denen die Beteiligten Aktionsformen trainieren, also beispielsweise Akte zivilen Ungehorsams oder den Umgang mit polizeilicher Repression, sowie Informationen austauschen konnten, etwa über ihre gesetzlichen Rechte.78 Allgemein lässt sich feststellen, dass sich in den Besetzungen die Infrastruktur der Bewegungen in der »realen« Welt am offenkundigsten manifestierte. Gleichzeitig waren die besetzten Plätze häufig (doch keineswegs immer) Orte, an denen gesellschaftlich besonders Marginalisierte, insbesondere Obdachlose, Unterstützung fanden.79 Vielleicht am wichtigsten aber war, dass die Occupy-Camps – und insbesondere das im Zuccotti Park in New York City – nachdrücklich ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit rückten und so viele ansonsten gewöhnlich ignorierte Themen in der breiteren Öffentlichkeit und bei staatlichen Stellen Beachtung fanden.80 Zumindest eine Zeit lang gelang es Occupy, die Aufmerksamkeit des publizistischen Mainstream in Presse und Fernsehsendern auf die Frage ökonomischer Gerechtigkeit zu lenken, was angesichts des zutiefst neoliberalen Common Sense in den Medien ein wirklicher Erfolg war.
Ungeachtet solcher Verdienste gibt es wichtige Fragen, an denen Occupy scheiterte. Verschiedene Kommentatoren aus den Bewegungen selbst haben bereits einige benannt, darunter auch die Tatsache, dass die Inklusivitätsrhetorik eine Reihe von Ausschlüssen – aufgrund von Race, Gender, Einkommen oder frei verfügbarer Zeit – bemäntelt.81 In den Handlungsweisen und Vorstellungen von Occupy wurden zudem folkpolitische Beschränkungen deutlich, was letztlich dazu führte, dass die Bewegung außerstande war, sich territorial auszudehnen, sich längerfristig zu halten oder sich politisch zu verallgemeinern. Gewiss hatten manche Strömungen in der Occupy-Bewegung gar nicht die Absicht, sich zu entfalten, zu halten oder zu verallgemeinern. Und manche Intellektuellen der Horizontalität (wenn auch nicht alle) betonen die besondere Dynamik einer relativ kurzlebigen, spontanen Politik oder vertreten die Auffassung, Beständigkeit sei »nicht unbedingt eine Tugend«.82 Doch beabsichtigt oder nicht, die in der Praxis der Bewegungen zum Ausdruck kommende Tendenz, zeitlich, räumlich und konzeptionell allein auf Unmittelbarkeit zu setzen, schwächte sie insgesamt und hinderte sie, kurzlebig wie sie waren, ihre grundlegenden Ziele ernsthaft zu verfolgen.
Ein Erkennungszeichen von Occupy war das horizontalistische Beharren auf direkter Demokratie. Nun kann eine solche die unterschiedlichsten Formen annehmen, und sie charakterisiert Arbeiterräte ebenso wie etwa die Demokratie der Schweizer Kantone. Bei Occupy wurde die General Assembly oder Vollversammlung zum dominanten Merkmal einer praktizierten direkten Demokratie.83 Angesichts der Erosion bestehender demokratischer Prinzipien eine neue Art demokratischen Handelns zu schaffen, gehörte zu den am weitesten verbreiteten politischen Ambitionen der Proteste.84 Indes wirkt auch direkte Demokratie unausweichlich restriktiv, sobald man sie als ein Ziel an sich verabsolutiert. Zunächst einmal erfordert diese Form demokratischen Handelns ein Niveau der Mitwirkung und des Engagements, das nur äußerst schwierig aufrechtzuerhalten ist. Ein Entwurf wie Parecon beispielsweise, ein Projekt partizipatorischer Ökonomie, sieht Verfahren direkter Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen vor. In einer solchen Welt »nach dem Kapitalismus« würden Versammlungen der Beteiligten in jeder Verästelung des Alltags über jedes Detail entscheiden – schwerlich eine besonders inspirierende Vorstellung.85 Ähnliche Situationen entstanden in vielen Occupy-Versammlungen, wo selbst die banalsten Fragen akribisch im Kollektiv behandelt wurden.86 Die erbitterte Debatte, die während des Camps im Zuccotti Park über eine Gruppe lärmender Trommler entbrannte, bietet nur ein besonders absurdes Beispiel. Doch der eigentliche Punkt ist, dass direkte Demokratie ein erhebliches Maß an Beteiligung und Engagement verlangt – mit anderen Worten zunehmend Arbeit macht. In einem Augenblick revolutionären Enthusiasmus mag eine solche zusätzliche Belastung folgenlos bleiben, doch sobald die Normalität wieder Einzug hält, tritt sie einfach zu den gewöhnlichen Mühen des Alltags hinzu.87 Diese Zusatzbelastung durch die direkte Demokratie ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil auch sie tendenziell exklusiv wirkt: Wer es nicht einrichten kann, persönlich anwesend zu sein, wem größere Gruppen unangenehm sind oder wer Schwierigkeiten hat, öffentlich zu sprechen, der oder die wird ausgeschlossen – nicht zu vergessen all die anderen Exklusionsfaktoren wie Gender und Race, die ebenfalls eine Rolle spielen.88 Mit zunehmender Dauer der Besetzungen platzten General Assemblies immer häufiger, einfach unter der Last der Erschöpfung und des Überdrusses der Beteiligten. Das Problem der Demokratie heute, so lässt sich daraus schließen, besteht nicht darin, dass die Leute darauf aus wären, jeden einzelnen Aspekt ihres Lebens zu diskutieren und zu entscheiden; das wirkliche Demokratiedefizit liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass Durchschnittsmenschen jegliche Mitwirkung an wirklich bedeutenden gesellschaftlichen Entscheidungen entzogen ist.89 Die direkte Demokratie von Occupy ist eine Reaktion auf dieses Problem, doch versucht sie es zu lösen, indem sie Demokratie als direkte, körperliche Erfahrung inszeniert, die jedwede Vermittlung ablehnt. Hinzu kommt die Vorliebe für räumliche Unmittelbarkeit, die jede territoriale Ausbreitung