Leidenschaft der Kritik bürokratischer und vertikaler Strukturen, von Exklusion und institutioneller Verknöcherung widmete, verbunden mit dem Umstand, dass es der Apparatur des Neoliberalismus gelang, sich eine Reihe der neuen politischen Forderungen einzuverleiben. Vor diesem Hintergrund sedimentierten folkpolitische Vorstellungen und bildeten einen neuen Common Sense, wie er in den Bewegungen für eine andere Globalisierung schließlich seinen Ausdruck fand.48 Deren Entstehungsgeschichte hatte zwei Phasen. Die erste reichte von Mitte der 1990er bis in die frühen 2000er Jahre und war gekennzeichnet durch Bewegungen wie die Zapatistas, durch antikapitalistische und altermondialistische Gruppen, durch die Weltsozialforen und globale Proteste gegen den Krieg. Eine zweite Phase setzte unmittelbar nach Beginn der Finanzkrise ab 2007 ein, und die Akteure waren verschiedene Gruppen, die vor allem ähnliche organisatorische Formen und ideologische Positionen einten, darunter die Occupy-Bewegung, der Movimiento 15-M in Spanien und auch einige studentische Bewegungen in verschiedenen Ländern. All diese sozialen Bewegungen suchten die Konfrontation mit dem Neoliberalismus und seinen Statthaltern in Regierungen und Konzernen, wobei zunächst der Schwerpunkt mehr auf dem Welthandel und den Organisationen globaler Governance lag, während später Finanzsphäre, Ungleichheit und Schulden stärker in den Fokus rückten.49 Beeinflusst von früheren sozialen Bewegungen neigt dieser jüngste Zyklus von Kämpfen und Auseinandersetzungen politisch vor allem zu lokalen Themen und spontanen Aktionsformen, zu einer horizontalen Organisierung und zu einer antistaatlichen Perspektive. Zur offenkundigen Attraktivität von Folk-Politik trägt der Zusammenbruch traditioneller linker Organisationsformen ebenso bei wie die Einbeziehung sozialdemokratischer Parteien in eine »alternativlos« erscheinende neoliberale Hegemonie oder das Gefühl der Machtlosigkeit, das die politische Leere gegenwärtiger Parteipolitik hervorruft. In einer Welt, deren wirklich ernsten Probleme alle auf eine unlösbare Weise komplex wirken, verspricht Folk-Politik einen Weg, eine egalitäre Zukunft hier und jetzt vorwegzunehmen. Aus sich heraus allerdings ist eine solche Politik außerstande, längerfristig die Kräfte zu mobilisieren, die tatsächlich in der Lage wären, dem Kapitalismus weltweit nicht nur Widerstand entgegenzusetzen, sondern ihn auch zu überwinden.
Ausblick
Die Kritik von Folk-Politik, die wir in diesem Buch vorstellen, bemüht sich ebenso sehr um eine Situationsbeschreibung wie sie sich als Warnung versteht.50 Tendenziell sind heute sowohl die Mehrheitslinke als auch die radikale Linke bereit, auf eine solche Politik einzuschwenken. Wir möchten dazu beitragen, diesen Trend umzukehren. Die erste Hälfte unseres Buchs setzt es sich daher zum Ziel, der zunehmenden Dogmatisierung heutiger politischer Strategien und Praxisformen entgegenzutreten. Ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme des gegenwärtigen politischen Feldes ist Kapitel 2 bemüht, die Beschränktheiten des folkpolitischen Ansatzes nachzuzeichnen und zu analysieren. Kapitel 3 zeigt, wie der Neoliberalismus auf den Weg des Erfolges einschwenkte, während die Linke es versäumte, Hegemonie aufzubauen und sich breiter zu verankern. In der zweiten Hälfte des Buchs umreißen wir ein linkes Projekt globaler und universeller Emanzipation, als eine Alternative zu Folk-Politik. Kapitel 4 argumentiert, eine zukunftsorientierte Linke müsse die Modernisierungsinitiative zurückerobern und nachdrücklich für Fortschritt und universelle Befreiung eintreten. Kapitel 5 skizziert die wichtigsten Tendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus und legt dabei den Akzent insbesondere auf die Krise der Arbeit und die gesellschaftliche Reproduktion. Die analysierten Tendenzen verlangen eine Antwort, und wir meinen, die Linke sollte anfangen, progressive gesellschaftliche Kräfte politisch zu mobilisieren. Im Gegensatz zur heute herrschenden Konzentration auf Schulden und Ungleichheiten nimmt Kapitel 6 das Ende der Arbeitsgesellschaft in den Blick. Die Kapitel 7 und 8 widmen sich einigen Schritten, die notwendig sind, um das Ziel zu erreichen, etwa der Frage einer gegenhegemonialen Bewegung und des politischen Potentials der Linken. Der Schluss betrachtet die Dinge noch einmal aus einem etwas größeren Abstand und denkt über das Projekt der Moderne aus der Perspektive einer Linken nach, die in die Zukunft schaut und dabei das Ziel universeller Befreiung nicht aus den Augen verliert. So beruht dieses Buch auf einer einfachen Überzeugung: dass eine moderne Linke heute sich weder mit dem System arrangieren und einfach so weitermachen noch in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren kann, sondern sich der Aufgabe stellen muss, eine neue Zukunft zu schaffen.
Kapitel 2
Eine Kritik der Linken heute
Goldman Sachs kümmert es nicht, ob du Hühner aufziehst.
Jodi Dean
Eine Bilanz der Enttäuschungen und Niederlagen des jüngsten Zyklus von Auseinandersetzungen und Kämpfen gehört zu den wichtigsten Aufgaben der heutigen Linken. In der politischen Praxis, von den globalisierungskritischen Bewegungen bis Occupy, hatten folkpolitische Orientierungen Hochkonjunktur. Warum scheiterten jene Bewegungen, trotz beachtlicher Mobilisierung von Menschen und Leidenschaften, warum gelang ihnen keine nennenswerte Veränderung des politischen Status quo? Verschiedentlich wird angeführt, die politischen Unzulänglichkeiten heutiger linker Bewegungen ließen sich durch ihre Klassenzusammensetzung erklären, insofern die Arbeiterklasse in ihnen unterrepräsentiert sei, oder auch durch ein Übergewicht reformistischer und liberaler Vorstellungen.51 Andere machen geltend, das Problem liege in der Natur des Systems, jeder Versuch radikaler Veränderung scheitere an unüberwindlichen Hürden. Solcherart Erklärungsversuche treffen den Punkt jedoch bestenfalls zum Teil. Das Problem sind, wie wir im Folgenden zu zeigen versuchen, in erster Linie die folkpolitischen Annahmen, die den strategischen Horizont linker Politik begrenzen.
Wie wir oben bereits gesehen haben, entwickelte sich Folk-Politik als eine Reaktion auf die zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse an einem bestimmten Punkt in der Geschichte linker Bewegungen im 20. Jahrhundert. Das vorliegende Kapitel wird untersuchen, wie die im Laufe der Zeit herausgebildeten folkpolitischen Haltungen für wichtige Stränge heutiger linker Politik prägend wurden. Der Anspruch lautet dabei nicht, das gesamte Feld aktueller sozialer Bewegungen abzudecken, sondern es geht vor allem um politisch signifikante Momente in der radikalen Linken der vergangenen fünfzehn Jahre. Auch ist keine der von diesen Bewegungen verfolgten politischen Taktiken per se problematisch, denn die Vor- und Nachteile eines bestimmten Vorgehens lassen sich nur beurteilen, wenn man den gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext ebenso berücksichtigt wie die allgemeine Strategie, um diese Verhältnisse zu verändern. Die prinzipielle Schwäche der Linken heute ist daher in der gegenwärtigen Situation zu verorten – gekennzeichnet durch eine im Wesentlichen durch die Imperative des globalisierten Kapitalismus determinierte Welt, in der folkpolitische Strategien sich ganz auf das Lokale und das Spontane konzentrieren. Zunächst werden wir eine der meistverbreiteten politischen Tendenzen der vergangenen fünfzehn Jahre beleuchten, nämlich den sogenannten Horizontalismus, die politische Präferenz für »Horizontalität«, um uns im Anschluss der allgemeinen Konzentration auf die lokale Dimension sowie der Neigung zu eher reaktiver Politik zuzuwenden, wie sie sowohl den Mainstream als auch die radikalen Strömungen linker Politik prägen.
Horizontalismus
Bereits in den 1970er Jahren setzten soziale Bewegungen in den USA auf »horizontale« Strukturen, später propagierten die Zapatistas, altermondialistische Gruppen und schließlich die »Bewegung der Plätze« das Prinzip, und heute ist der Horizontalismus in der radikalen Linken weithin dominant.52 Horizontalistische Bewegungen reagierten auf die gescheiterten Strategien politischen Wandels, die im 20. Jahrhundert auf den Staat gesetzt hatten, und traten stattdessen dafür ein, die Gesellschaft »von unten« zu verändern, um die Verhältnisse insgesamt umzuwälzen.53 Wollten sie – wie es einmal formuliert wurde – »die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen«, so stand das in einer langen theoretischen und praktischen politischen Tradition, die vom Anarchismus über die verschiedenen Strömungen des libertären und des Rätekommunismus bis zur Autonomie reicht.54 Herzstück der Bewegungen ist die Ablehnung des Staates und anderer formeller Institutionen, während die Gesellschaft selbst als der Ort gilt, von dem jedwede radikale Veränderung ihren Ausgang