auf dem Tahrir-Platz in Kairo keine Vollversammlung einberufen, und selbst bei Occupy Wall Street nahm an der General Assembly nur ein Bruchteil der insgesamt Aktiven teil.90 Die Mechanismen und Ideale direkter Demokratie, die Diskussion von Angesicht zu Angesicht, sorgen dafür, dass eine solche Form politischer Beteiligung jenseits überschaubarer Gemeinwesen nur schwer zu realisieren ist und kaum als Antwort auf die Probleme der Demokratie auf regionaler, nationaler oder gar globaler Ebene gelten kann. Zudem ignoriert die räumliche Beschränkung direkter Demokratie die regressiven Aspekte kleiner sozialer Zusammenhänge. Nicht selten sind in solchen Gemeinschaften die aggressivsten Formen von Xenophobie, Homophobie und Rassismus zu Hause, und bösartige Gerüchte sowie alle möglichen sonstigen Arten rückwärtsgewandten Denkens gedeihen hier. Kleine Gemeinschaften, wie direkte Demokratie sie voraussetzt, sind für eine moderne linke Bewegung kein erstrebenswertes Ziel. Zudem kann eine partizipatorische Demokratie gut auf sie verzichten, insbesondere wenn sie sich der heute verfügbaren Kommunikationstechnologien bedient.
Im Bemühen um Konsens ein grundlegendes Ziel politischer Willensbildung zu sehen, ist eine weitere folkpolitische Einschränkung von Occupy. Konsens sollte dazu dienen, Entscheidungen für alle akzeptabel zu machen, was wiederum Unmittelbarkeit und Nähe voraussetzt. Der Anarchist David Graeber stellt fest: »Es ist in einer Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt, viel leichter herauszubekommen, was die meisten Mitglieder dieser Gemeinschaft tun wollen, als herauszufinden, wie man die Ansichten derjenigen ändern kann, die das nicht wollen.«91 Doch was auf der einen Ebene – nämlich im Rahmen der erwähnten Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt – gut funktioniert, lässt sich auf einer erweiterten Stufenleiter ungleich schwerer umsetzen. Im Fall einer relativ heterogenen Bewegung wie Occupy drückte sich das Bemühen um Konsens unausweichlich in Forderungen aus, die, wenn sie überhaupt zustandekamen, nichts weiter als den kleinsten gemeinsamen Nenner formulierten.
Letztlich glorifizierte man die Absenz gezielter Forderungen wortreich als irgendwie radikal. Innerhalb der Bewegung kursierte das Argument, Forderungen wirkten polarisierend und spaltend; insofern sie an »institutionelle« Mächte wie etwa den Staat appellierten, entfremdeten sie die Bewegung von sich selbst und verantworteten, dass jene Mächte die Bewegung vereinnahmten.92 Kritikerinnen einer solchen Position haben hingegen auf die durchaus vorhandenen positiven Aspekte einer Polarisierung hingewiesen: Zugespitzte Forderungen mögen manche Beteiligte verschrecken, doch gleichzeitig wirken sie mobilisierend auf andere, die sich für ihre Anliegen stärker engagieren. Und darüber hinaus tragen Zuspitzungen dazu bei, politische Differenzen innerhalb der Bewegung herauszuarbeiten – Differenzen, die in der Praxis häufig ignoriert werden, obwohl sie sich möglicherweise als unüberbrückbar erweisen.93
Auch die plakative Ablehnung jeglicher Form vertikaler Organisation bei Occupy stellte ein Problem dar, das sich insbesondere im Verhältnis zu anderen, mit den Zielen der Bewegung sympathisierenden politischen Gruppierungen zeigte. Während die Bewegungen in Ägypten und Tunesien nachdrücklich die Verbindung zu bestehenden politischen Strukturen der Arbeiterbewegung in ihren Ländern suchten, lehnten die Occupy-Bewegungen im Westen solche Beziehungen weithin ab.94 Die Ablehnung jeglicher vertikalen Organisation nun führte zu dreierlei: erstens zu einer häufig lähmenden Entscheidungsfindung. Wenn Occupy aktiv wurde, ging die eigentliche Aktion in der Regel von einer Untergruppierung aus, die auf eigene Faust handelte, und nur selten von der Vollversammlung mit ihren Konsensentscheidungen.95 Anders gesagt: Horizontalität führte nicht zur politischen Praxis. Zweitens lehrt die Erfahrung, dass hierarchische Organisationsstrukturen von wesentlicher Bedeutung sind, wenn es darum geht, eine Bewegung gegen die Staatsmacht zu verteidigen. Die Verteidigung der Besetzung gegen die polizeiliche Repression war nicht ein Verdienst der Horizontalität, sondern hierarchisch organisierter Gruppierungen, die ihre Mitglieder mobilisierten, um Occupy zu unterstützen.96 In Ägypten spielten Fußballfans und religiöse Organisationen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung des Tahrir-Platzes gegen die Gewalt des Staates und der Reaktion.97 Drittens schließlich war die Ablehnung vertikaler Organisationsformen ein wichtiges Moment, das einer räumlichen und zeitlichen Expansion der Bewegung entgegenstand. Verbindungen zu Gewerkschafts- oder Bürgerrechtsgruppen und selbst zu politischen Parteien hätten Occupy Möglichkeiten jenseits folkpolitischer Beschränkungen bieten können. In Ägypten beispielsweise waren es organisierte Arbeiter, die den Massenprotest in einen (Beinahe‑)Generalstreik verwandelten, der das Land lahmlegte und dem Mubarak-Regime den letzten Stoß versetzte.98 In Island, Griechenland und Spanien waren Verbindungen zu politischen Parteien hilfreich und konsolidierten die politischen Erfolge der Besetzungsbewegungen. Occupy hingegen unternahm niemals Schritte, wie sie notwendig gewesen wären, wollte man gesellschaftliche Strukturen umwälzen – trotz des expliziten Bemühens, die eigenen Vorstellungen zu propagieren, und trotz der tatsächlich gewonnenen öffentlichen Aufmerksamkeit.
Letztlich war es jedoch das Beharren auf einer rigiden präfigurativen Politik, das Occupy stark beeinträchtigte. Für eine solche Politik grundlegend ist die Haltung, eine künftige Welt bereits im Heute vorwegnehmen zu wollen – unsere Beziehungen zueinander zu verändern, um die postkapitalistische Zukunft im Hier und Jetzt zu leben. Exemplarische Aktionen wie Besetzungen spielen hierfür eine wichtige Rolle: In den besetzten Räumen soll eine nichtkapitalistische Welt Gestalt annehmen, die sich durch gegenseitige Hilfe, die Ablehnung von Hierarchien sowie eine rigorose direkte Demokratie auszeichnet. Zugleich sind solche Räume ihrem Selbstverständnis und ihrer Struktur nach immer schon temporär. Besetzungen schaffen keine Räume nachhaltiger Veränderung oder des Ausarbeitens konkreter Alternativen, und noch weniger haben sie die Ambition, dem globalisierten Kapitalismus die Stirn zu bieten. Sie sind temporäre Orte der flüchtigen Erfahrung unvermittelter Gemeinschaft.99 Ein Pamphlet einer studentischen Aktionsgruppe, das konkrete Forderungen als »reformistisch« ablehnt, beschreibt eine solche Haltung:
Sie [die Studierenden] betrachteten die Besetzung als einen Akt, der in das kapitalistische Raum- und Zeitgefüge eine momentane Öffnung reißt, als eine temporäre Neuanordnung, die eine neue Gesellschaft in Umrissen skizziert. Eine solche antireformistische Position findet uns an ihrer Seite. Natürlich wissen wir, dass befreite Zonen nur partiell und transitorisch bleiben, doch die zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen bestehende Spannung, die sie bloßlegen, kann eine Radikalisierung der Kämpfe forcieren.100
Das Bekenntnis zum temporären Charakter der Besetzung verbindet sich hier mit dem naiven Glauben daran, die Aktion könne zugleich der Funke sein, der den radikalen Wandel entfacht. Präfigurative Räume ringen aus guten Gründen permanent um ihren Fortbestand. Denn erstens sind sie auf vielfältige Weise auf Logistik angewiesen, sie brauchen Unterkunft, Verpflegung, Sanitär- und Gesundheitseinrichtungen sowie politische, moralische und juristische Unterstützung. In den meisten Fällen stellt eine präfigurative Gemeinschaft dies alles nicht selbst zur Verfügung, sondern baut auf das bestehende kapitalistische Umfeld.101 Die soziale Reproduktion eines Camps ist auch unter günstigsten Bedingungen schwierig, und selbst etablierten utopischen Gemeinschaften (die häufig religiöser Natur sind) gelingt es in der Regel nicht, unabhängig zu bleiben und sich ausschließlich selbst zu versorgen.102 Hinzu kommt, zweitens, dass präfigurative Räume häufig Behörden oder Unternehmen ein Dorn im Auge sind und entsprechend bekämpft werden – und falls nicht, so in der Regel, weil sie die herrschende Ordnung nicht wirklich bedrohen. Die Zapatistas beispielsweise genießen relative Freiheiten, weil Staat und Kapital in ihnen keine Gefahr sehen.103 Sobald ein präfigurativer Raum die bestehenden Verhältnisse ernsthaft bedroht, schlägt die Stunde der Repression, und spätestens dann erweist sich die Verabsolutierung des Horizontalismus als Belastung. Doch unter Umständen ignoriert präfigurative Politik auch einfach die Kräfte, die der Schaffung und Entfaltung einer neuen Welt entgegenstehen. Das bloße Einfordern und Ausprobieren einer anderen Welt jedenfalls reicht nicht aus, jene Kräfte zu überwinden. Die politische Bilanz der Repression gegen Occupy zeigt das.104
Die Frage, die sich präfigurative Politik daher unmittelbar stellen müsste, lautet daher: Wie kann unser politisches Handeln ausstrahlen und mehr erreichen?105 Selbst unter der recht problematischen Annahme, dass die meisten Menschen bereit wären, ein Leben wie die Aktivisten von Occupy zu führen, bliebe zu fragen, welche konkreten Schritte