Nick Srnicek

Die Zukunft erfinden


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auf eine Politik der Affinitäten.55 Horizontalistische Bewegungen appellieren weder an den Staat, noch wollen sie dessen vertikale Machtstrukturen übernehmen, sondern treten dafür ein, dass Individuen sich aus freien Stücken assoziieren, eigene selbstbestimmte Gemeinschaften aufbauen und ihr Zusammenleben regeln. In groben Zügen vereinen horizontalistische Vorstellungen somit vier politische Grundsätze:

      1. das Zurückweisen jeder Form von Herrschaft,

      2. das Eintreten für direkte Demokratie und/oder konsensuelle Entscheidungen,

      3. das Eintreten für eine Politik, die Modellcharakter hat, und

      4. die Betonung direkter Aktion.56

      Diese Grundsätze bergen indes eine Reihe von Problemen, die das Spektrum der Möglichkeiten im Kampf gegen den globalisierten Kapitalismus beschränken.

      Die Ablehnung von Herrschaft in allen ihren Formen ist vielleicht das hervorstechendste Merkmal des Horizontalismus.57 Indem die Bewegungen die in der alten Linken vorhandene Fokussierung auf Staat und Kapital hinter sich lassen, richten sie das Augenmerk auf die vielfältige Art und Weise, wie andere (rassistische, patriarchale, sexistische, ableistische etc.) Herrschaftsverhältnisse die Gesellschaft strukturieren. Zweifellos ist es ein bedeutender Fortschritt, wenn viele in der heutigen radikalen Linken sich solche Einsichten zu eigen machen und die Beseitigung jedweder Form von Unterdrückung ins Zentrum ihrer politischen Praxis stellen – eine Perspektive, die unseres Erachtens jede ernstzunehmende linke Politik zu übernehmen hat. Doch die Möglichkeiten horizontalistischer Bewegungen, Herrschaft und Unterdrü­ckung zu überwinden, stoßen häufig an folkpolitisch begründete Grenzen. Im Bemühen, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse unmittelbar abzuschaffen, laufen die Bewegungen Gefahr, fortbestehende und unter Umständen weniger offensichtliche Formen von Herrschaft zu übersehen, oder aber sie scheitern daran, dauerhafte politische Strukturen zu errichten, um neu entstehende gesellschaftliche Verhältnisse abzustützen.

      Das Engagement gegen jede Form von Herrschaft ist eng verbunden mit der Kritik der Repräsentation, sowohl konzeptionell als auch politisch. Im Kern führt das zu einer Ablehnung hierarchischer Strukturen, wie sie repräsentative Politik in der Regel auszeichnen.58 Angesichts der Korruption, die Gewerkschaften und die liberale Demokratie untergräbt, münde Repräsentation, so die verbreitete Meinung, unausweichlich in Selbstbedienungsmentalität und in einer Annäherung an die herrschenden Eliten. Solche Strukturen sollten daher durch Formen direkter Demokratie ersetzt werden, die stärker auf politisches Handeln in erster Person und somit auf Unmittelbarkeit statt auf Vermittlung setzen.59 Vorgestellt wird eine Demokratie »von Angesicht zu Angesicht«, die als authentischer, ungekünstelter und daher eher resistent gegen die Herausbildung von Hierarchien gilt.60 Politische Entscheidungen sollen nicht von Repräsentanten getroffen werden, sondern von Individuen, die für sich selbst sprechen.61 Direkte Demokratie wird so letzten Endes zu einem Grundwert, gestützt auf die folkpolitische Vorstellung, Unmittelbarkeit sei in jedem Fall besser als Vermittlung. Nicht die Mehrheit, die Einhaltung parlamentarischer Regeln oder das Diktat eines Zentralkomitees sollen den Ausschlag geben, sondern das eigentliche Ziel ist in vielen Fällen Konsens.62 Debatten und Handeln haben möglichst alle einzuschließen, die Prozesse der Entscheidungsfindung als solche, nicht nur die Ergebnisse sollen respektiert werden.63 Nun sind Formen partizipatorischer Demokratie verständlicherweise für viele Menschen attraktiv, zumal im Licht des sinnentleerten und ritualisierten Auftretens heutiger repräsentativer Demokratie.64 Viele Beteiligte sprechen etwa von der Empowerment-Erfahrung, die aus konsensorientierten Entscheidungsprozessen erwachse.65 Größtmögliche Inklusivität und Konsens gelten per se als Wert, Verfahren und Vorgehensweisen werden daher wichtiger als strategische Überlegungen und Ziele.

      Direkte Demokratie, Konsens und Inklusivität sind unter Vorzeichen der Horizontalität Momente einer Politik, die Modellcharakter haben soll und die darauf abzielt, im Hier und Jetzt eine Welt zu schaffen, wie sie sein sollte. Die Verpflichtung auf eine solche »präfigurative« Politik hat in der Linken eine lange Tradition, insbesondere im Anarchismus seit den Zeiten Kropotkins und Bakunins, doch erst in jüngster Zeit wurde sie zum Merkmal maßgeblicher Strömungen in der linken Politik. Früher hieß es immer, nach der Revolution würden Hierarchie und Exklusion von selbst verschwinden, doch war es für Frauen und People of Color nur ein schwacher Trost, wenn weiße Männer an der Spitze linker Organisationen ihre Belange wieder einmal ignorierten. Statt daher auf die eines Tages vielleicht kommende Revolution zu warten, setzt präfigurative Politik darauf, augenblicklich eine neue Welt zu schaffen – und auch hier schwingt die implizite Vorstellung mit, die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt sei einem Herangehen überlegen, das auf Vermittlung baut. Präfigurative Politik bemüht sich so im besten Fall, utopische Impulse aufzunehmen und die Zukunft bereits im Heute konkret werden zu lassen.66 Im schlechtesten Fall indes wird aus dem präfigurativen Beharren das Dogma von der notwendigen Übereinstimmung der Mittel und Ziele, das zudem die strukturellen Bedingungen ausklammert, die einem solchen Anspruch entgegenstehen.67

      Das Ziel ist eine Welt, die im Hier und Jetzt geschaffen werden soll; da man sich nicht auf vermittelnde Institutionen verlassen kann (oder zumindest darauf verzichten will), muss politisches Handeln notwendigerweise die Form direkter Aktion annehmen. Solcherart politische Praxis umfasst ein breites Spektrum möglicher Taktiken, die vom theatralischen Protest im Stil der Situationisten bis zu wilden Streiks, von der Blockade von Häfen bis zu Brandanschlägen gegen im Bau befindliche Luxuswohnungen reichen. Deutlich wird auch hier das Wirken folkpolitischer Vorstellungen, das Herausstellen des unmittelbaren, direkten und intuitiven Handelns. Gewiss sind Formen direkter Aktion in manchen Fällen erfolgreicher und sinnvoller als ein einfacher Protest, etwa wenn sogenannte Anti-Homeless-Spikes – vor Gebäuden angebrachte Spitzen aus Metall, um Obdachlose abzuwehren – mit Beton ausgegossen werden oder wenn in Arbeitskämpfen die Taktik des Bummelstreiks zum Einsatz kommt.68 Doch wie wir noch sehen werden, reichen solche Taktiken häufig nicht aus, auf Dauer die Dinge zu verändern; sie bleiben isoliert und stellen sich der Macht von Staat und Kapital nur vorübergehend in den Weg.

      Direkte Demokratie, präfigurative Politik und direkte Aktion sind wohlgemerkt keineswegs per se ein Fehler.69 Es geht nicht darum, solche Formen von vornherein abzulehnen, sondern das Urteil über ihre Nützlichkeit vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Situation und der darin verfolgten strategischen Ziele zu fällen – ob sie also imstande sind, tatsächlich Macht auszuüben, um herbeigeführte Veränderungen dauerhaft zu verteidigen. Tatsächlich ist es im komplexen, globalisierten Kapitalismus höchst unwahrscheinlich, dass kleine Interventionen durch relativ begrenzte Aktionen jemals in der Lage sein werden, das gesamte sozio-ökonomische System umzuorganisieren. Wie wir später noch zeigen werden, hat das taktische Repertoire des Horizontalismus durchaus seinen Nutzen, doch nur in Verbindung mit anderen, stärker vermittelten Formen politischer Organisierung und Praxis.

      Doch zunächst beenden wir unseren kurzen Überblick über die theoretischen Grundsätze des Horizontalismus sowie die damit verbundenen allgemeinen Fragen und wenden uns im Folgenden zwei wichtigen Sequenzen in der politischen Geschichte des 21. Jahr­hun­derts zu, um die praktische Möglichkeiten, aber auch die folkpolitischen Beschränkungen zu beleuchten, die horizontalistischen Bewegungen innewohnen. Als bemerkenswerte Beispiele des Horizontalismus untersuchen wir zum einen die in der Finanzkrise nach 2008 entstandene Occupy-Bewegung, zum anderen die argentinische Erfahrung im Gefolge des Staatsbankrotts von 2001. In beiden Fällen begegnen wir tatsächlichen Erfolgen ebenso wie den offensichtlichen Grenzen derartiger Ansätze.

       Occupy

      Die signifikanteste politische Umsetzung horizontalistischer Vorstellungen in jüngster Vergangenheit zeigte die »Bewegung der Plätze«. Eine (Platz-)Besetzung setzt zwar keineswegs eine horizontalistische Koordination voraus (und tatsächlich gibt es eine lange militärische Vorgeschichte), doch die große Mehrheit der Besetzungen seit 2008 weist die beschriebenen Organisationsprinzipien auf.70 Die Welle von Besetzungen öffentlicher Plätze schwappte bis 2011 auf 950 Städte weltweit über, und jede dieser Aktionen artikulierte lokale politische und ökonomische, kulturelle und Klassenbelange.