Luca Baschera

Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818-1888)


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des |12| stärker erregten religiösen Bewußtseins«7 – verstanden wurde, eine Auffassung, die in der Folgezeit und bis in die Gegenwart großen Einfluss ausgeübt hat.8

      Ebenso charakteristisch für die Liturgik des 19. Jahrhunderts war eine intensivere Beschäftigung mit der Liturgiegeschichte sowie die Betonung der Notwendigkeit einer Besinnung auf die liturgische Tradition. Beides trat einerseits als Reaktion auf die vermeintlich gänzliche Traditions- und Geschichtsvergessenheit der Aufklärungsliturgik in Erscheinung, wurde andererseits aber auch durch weitere Faktoren angeregt. So setzten etwa die liturgischen Reformen in Preußen seit 1822 – die unter Rückgriff auf reformatorische Ordnungen eine unierte Agende zu schaffen versuchten – einen Reflexionsprozess in Gang, der liturgiegeschichtliche Forschungen förderte und sich zugleich aus diesen spies. Die Unionsbestrebungen im Königreich Preußen führten aber auch zu Abwehrreaktionen, vor allem innerhalb konfessionsbewusster lutherischer Kreise. Im damit entstandenen »Neuluthertum« – einer breit angelegten und in sich vielfältigen theologisch-kirchlichen Bewegung9 – entfaltete sich eine an reformatorischer (lutherischer) Theologie und historischer Forschung orientierte Liturgik, für die vor allem die »Erlanger Schule« mit Friedrich Höfling (1802–1853), Theodosius Harnack (1817–1889) und Carl von Zezschwitz (1825–1886) repräsentativ ist.10

      In dieser bewegten Zeit verortet sich die Beschäftigung August Ebrards mit Fragen der Liturgik. In Erlangen hatte er studiert, wobei Höfling einer seiner Lehrer gewesen war. Mit ihm teilte Ebrard die Leidenschaft für die Erforschung der Liturgiegeschichte, wollte aber in seiner Arbeit als Liturgiker einen dezidiert – obwohl nicht konfessionalistisch beschränkten – reformierten Standpunkt vertreten. Ebenso dezidiert distanzierte er sich auch von der aufkommenden schleiermacherschen Orthodoxie, der er vor allem während seiner Zürcher Jahre (1844–1847) in der Person von Alexander Schweizer (1808–1888) begegnete.

      Obwohl Ebrard einer der wenigen reformierten Theologen des 19. Jahrhunderts war, die sich ausführlich mit liturgischen Fragen beschäftigten, wurde sein Werk in der späteren Forschung kaum rezipiert. Vereinzelt und spärlich sind die Erwähnungen seines Namens in der neueren Literatur.

      So merkte etwa Peter Brunner 1954 in der Einleitung zu seiner »Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde« an: »Vom reformierten Standpunkt aus ist in der deutschen Theologie des 19. Jahrhunderts unseres Wissens nur eine Liturgik entworfen worden: August Ebrard, Versuch einer Liturgik vom Standpunkte der reformierten Kirche, Frankfurt/M. 1843.«11 Obwohl |13| Brunner auf Ebrards Liturgik nicht näher eingeht, kann diese beiläufige Erwähnung des Erlanger reformierten Theologen durchaus als nüchterne Würdigung dessen Leistung auf einem Gebiet gelten, das von reformierten Autoren auch außerhalb des deutschen Sprachraums meist vernachlässigt wurde.

      Ein Jahr später äußerte sich auch Paul Jacobs zu Ebrards liturgiewissenschaftlichen Leistungen im Rahmen einer Gesamtdarstellung von dessen Theologie. Das Urteil Jacobs’ ist aber alles andere als positiv:

      Wenn der Name Ebrards überhaupt bekannt ist – etwa in theologisch interessierten Kreisen der reformierten Kirche – dann begreift man in ihm die schier einmalige Erscheinung eines »reformierten Liturgikers« nächst Zwingli. Dabei ist nun gerade dieser Name Ebrards von ganz zufälliger Bedeutung und hat mit der Eigenständigkeit seiner Theologie und mit dem Echo, das er in seiner Zeit fand, nichts zu tun. In Wahrheit verdient Ebrard nicht den Namen eines Liturgikers, weder im reformierten, noch im unierten oder irgendeinem andern Sinne. Dieser Name rührt von der frühen Jugendschrift des eben Fünfundzwanzigjährigen her, […] die im Vergleich zu den anderen Ebrardschen Werken nur ein kleines Opus von 75 Seiten war: »Versuch einer Liturgik vom Standpunkt der reformierten Kirche«, 1843. […] diese Schrift [ist] nicht etwa als Grundlegung einer reformierten Liturgik anzusehen […]. Dazu ist sie weder genügend prinzipiell angelegt, noch wissenschaftlich unterbaut. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass sie ohne Echo blieb und Ebrard selbst nicht verpflichtete, auf diesem Gebiet weiter zu arbeiten […].12

      Als wollte Jacobs die Meinung seines Heidelberger Kollegen Brunner widerlegen, stellt er deutlich in Abrede, dass Ebrard überhaupt als Liturgiker zu betrachten sei.

      Interessanterweise findet sich in Jacobs’ Monographie keine nähere Behandlung der Liturgik Ebrards, die sein vernichtendes Urteil untermauern würde. Dass Jacobs dabei einer gewissen Voreiligkeit verfiel, scheint bereits dadurch bestätigt zu werden, dass er den Versuch einer Liturgik als die einzige liturgiewissenschaftliche Schrift Ebrards betrachtet, während sich der Erlanger Theologe in der Tat auch in zwei weiteren Schriften zu Fragen der Liturgik äußerte.13 Allerdings kann die Angemessenheit seines Urteils nur durch eine Gesamtuntersuchung der Liturgik Ebrards überprüft werden, ein Unterfangen, das bisher niemand in Angriff genommen hat. Einer solchen Untersuchung widmet sich die vorliegende Studie.

      Auf eine Darstellung von Ebrards Lebenslauf und dessen theologischem Profil (Kapitel 1) folgt im zweiten Kapitel eine Beschreibung der für die Erörterung von Ebrards Liturgik relevanten Quellen. Das dritte Kapitel bietet eine systematische Analyse der Liturgik Ebrards, die auf deren Prinzipien und materielle Entfaltung |14| eingeht. Die drei liturgiewissenschaftlichen Schriften Ebrards werden parallel untersucht und miteinander verglichen, wobei dem Einfluss verschiedener liturgischer Traditionen sowie etwaigen Veränderungen bzw. Ergänzungen in Ebrards Ansatz besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im vierten Kapitel werden sodann die Spezifizität von Ebrards Gottesdienstverständnis im Vergleich mit den Entwürfen zweier zeitgenössischer reformierter Theologen – Salomon Vögelin und Alexander Schweizer – herausgearbeitet. Im fünften Kapitel werden schließlich zwei Aspekte von Ebrards Gottedienstverständnis hervorgehoben, die auch für die heutige reformierte Liturgik keineswegs an Relevanz verloren haben.

      Die Behandlung der Liturgik dieses weitgehend vergessenen reformierten Theologen aus dem 19. Jahrhundert erfolgt somit nicht etwa zur Befriedigung eines antiquarischen Interesses, sondern entspringt der Überzeugung, dass auch die heutige reformierte Liturgik Einiges von Ebrard lernen kann. Erkannte er den Bedarf einer »Weiterentwicklung« reformierter Liturgie an, so wehrte er sich gegen vorschnelle Vermischungen unterschiedlicher Traditionen sowie gegen theologisch unreflektierte Neuerungen. Vielmehr plädierte er für eine Integration von verschiedenen Strängen der spezifisch reformierten liturgischen Tradition, die sich gegenseitig befruchten und ergänzen sollten. Darüber hinaus betonte er nachdrücklich die transformative Wirkung der Liturgie auf die sie feiernden Gemeindeglieder und entwickelte ein Gottesdienstverständnis, das eine große Ähnlichkeit mit den Entwürfen etlicher heutiger Liturgiker aufweist.

      1 Ebrards Leben und Werk

      1. Biographische Skizze

      Johann Heinrich August Ebrard wurde am 18. Januar 1818 in Erlangen geboren. Sein Vater, François Elie (1765–1826), war 1801–1804 preußischer Konsistorialrat in Ansbach gewesen und wurde 1811 Pfarrer der Erlanger französisch-reformierten Gemeinde.14 Ebrard, der bereits als Kind wegen seiner geistigen Begabung Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, studierte Theologie in Erlangen, u. a. beim Reformierten Johann Christian Krafft (1784–1845), der großen Einfluss auf ihn ausübte, und beim Lutheraner Adolf von Harleß (1806–1879).15 Nach der Promotion zum Dr. phil. im Jahr 1841 erwarb er 1842 die venia legendi in Theologie und begann seine Lehrtätigkeit in Erlangen mit Vorlesungen über das Alte und Neue Testament, aber auch über schweizerische Kirchengeschichte. Ebenfalls im Jahr 1842, im Alter von 24 Jahren, veröffentlichte er sein erstes umfangreiches Werk: Wissenschaftliche Kritik der evangelischen Geschichte. Ein Compendium der gesamten Evangelienkritik. Diese Monographie machte ihn in theologischen Kreisen breit bekannt als Verfechter der Geschichtlichkeit der Evangelienberichte gegen die Deutung von David Friedrich Strauß. Gerade aufgrund seiner entschiedenen Kritik an Strauß erhielt Ebrard zwei Jahre später einen Ruf nach Zürich,16 den er auch annahm. Kurz vor seiner Abreise in die Schweiz veröffentlichte er seine erste liturgiewissenschaftliche Schrift, den Versuch einer Liturgik vom Standpunkte der reformirten Kirche 17 (1843).

      Zwischen September 1844 und dem Spätsommer 1847 war Ebrard außerordentlicher Professor für alt- und neutstamentliche Exegese in Zürich. Im Laufe von fünf Semestern (SS 1845–SS 1847) hielt er fünfzehn