Luca Baschera

Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818-1888)


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allerdings nicht nur auf diesen praktischen Zweck bedacht gewesen, als er die Erarbeitung des Kirchenbuches in Angriff nahm. Dieser Sammlung maß er vielmehr auch eine »theoretisch-wissenschaftliche Bedeutung« bei. Denn anhand der Liturgie, die in einer Kirche gebräuchlich ist, lasse sich feststellen, woran jene Kirche in Wirklichkeit glaube.

      Die Liturgie giebt […] das sicherste Maaß ab, welche in den Bekenntnißschriften festgestellten Lehrpunkte wirklich kirchlich-wichtig, und welche nur theologisch bedeutend sind; und gerade jetzt […] dürfte es nicht am unrechten Orte sein, einmal auf diesen Gedanken, auf die Liturgie als auf ein Kriterium, worin das kirchliche Bekenntniß vom kirchlichen Leben gerichtet und gewogen wird, hinzuweisen.118

      Eine genaue Studie der reformierten Liturgien durch die Jahrhunderte hindurch lasse darüber hinaus Entwicklungen wie auch »Deformationen« in der Lehre erkennen, sodass zur »symbolischen Wichtigkeit« einer solchen Studie auch eine »kirchenhistorische« hinzutrete.119

      Um beiden Anliegen gerecht zu werden – dem praktischen und dem wissenschaftlichen – habe er in erster Linie auf alte Agenden zurückgegriffen, die in einer Bibliographie aufgelistet und genau beschrieben werden.120

      Eine erste Gruppe – die auch die umfangreichste ist – bilden die Agenden aus der Deutschschweiz. Dazu gehören das »Taufbüchlein« Leo Juds (1523), sechs Zürcher Liturgiesammlungen aus ebenso vielen Kirchenordnungen (1525, 1535, 1563, 1581, 1612, 1675) sowie eine undatierte Gebetssammlung aus dem siebzehnten Jahrhundert.121 Ebrard berücksichtigte ferner zwei Schaffhauser Agenden (1592, 1672), die Berner Agende 1581, die St. Galler Liturgie 1738 sowie zwei Sammlungen aus Biel (1752) und Basel (1826).122 Zur zweiten Gruppe (»Agenden französischer Zunge«) gehören die Genfer Gottesdienstordnung von 1542, die Ebrard allerdings nur in der lateinischen Fassung aus Niemeyers Collectio confessionum kannte,123 und die Neuenburger Liturgie von 1713. Diese auf Jean-Frédéric Ostervald (1671–1737) zurückgehende124 und unter Berücksichtigung der |31| anglikanischen Tradition gestaltete Liturgiesammlung schätzte Ebrard besonders. Darin schien ihm nämlich der Wunsch nach einer reicheren Liturgie bereits erfüllt zu sein, beispielsweise durch die Einbettung von Responsorien in die traditionellen Formulare.125 Die dritte Gruppe von historischen Formularen machen die »rheinisch-holländischen Agenden« aus. Dazu gehören die niederländische Gottesdienstordnung des Pieter Daten (1531–1588), die Pfälzer Liturgie von 1585 – die sich von derjenigen aus der Kirchenordnung 1563 nur geringfügig unterscheidet126 – sowie eine undatierte Agende für die reformierten Kirchen der Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg.127 Ebrard hat – wie er selbst erklärt – die Texte redigiert, damit sie im Gottesdienst tatsächlich verwendet werden könnten, wobei er dem Leser versichert, er habe bei seiner Redaktion »nur das hinweggetan, was die Grenze des Wahren, Erlaubten, Schicklichen überschritt.«128 Da er aber dieses »Wahre, Erlaubte und Schickliche« nicht näher definiert, entsteht letzten Endes der Eindruck, dass er jeweils das veränderte, was er persönlich für änderungsbedürftig hielt.

      Dieser Überblick zeigt deutlich, wie Ebrard in seiner Sammlung Elemente aus verschiedenen reformierten liturgischen Traditionen – nämlich der deutschschweizerischen, der »calvinischen« und der deutsch-reformierten – aufnahm. Letztere bezeichnet er auch als »melanchthonisch«,129 was auf den ersten Blick etwas befremdet. Im 19. Jahrhundert war aber die Ansicht weit verbreitet, dass die deutsche reformierte Tradition Melanchthon verpflichtet sei (wobei vor allem an die Abendmahlslehre des späten Melanchthon gedacht wurde) und somit etwas wie eine via media zwischen Luthertum und Reformiertentum darstelle.130 Diese Kombination von Elementen aus unterschiedlichen Traditionen sollte, obwohl historisch problematisch, zur Realisierung des oben bereits erwähnten Programms einer »organischen Weiterentwicklung« der reformierten Liturgie dienen, denn alle drei reformierten liturgischen Traditionen wiesen besondere und eigene Merkmale auf, die es zur Schaffung eines organischen Ganzen zu kombinieren gelte.131

      Gehen die meisten in Ebrards Kirchenbuch enthaltenen Formulare auf die eine oder andere alte Agende zurück, so finden sich darin auch vereinzelte zeitgenössische |32| Texte. Diese entnahm Ebrard einerseits einer Sammlung von Festgebeten, die in Zürich von einer Kommission erarbeitet und 1845 von der Synode offiziell angenommen wurde,132 andererseits einem Band mit Predigten seines früheren Lehrers an der Erlanger Fakultät Johann Christian Krafft.133 Ebrard bettete schließlich auch eigene liturgische Entwürfe, darunter ein ganzes Abendmahlsformular,134 in seine Sammlung ein.

      Das Reformirte Kirchenbuch wird eröffnet durch eine umfangreiche Einleitung, die auch die kommentierte Bibliographie der benutzten Quellen enthält. Darauf folgen sieben Kapitel, die Gebetssammlungen und Formulare für verschiedene Gottesdienstformen bzw. liturgische Handlungen im weiteren Sinne enthalten:

      1 Der sonntägliche Hauptgottesdienst (wobei ein Predigtgottesdienst gemeint ist).

      2 Die »Nebengottesdienste« (zu denen etwa die Wochengottesdienste, die in der französisch-reformierten Tradition am Donnerstagnachmittag stattfanden, aber auch die »Kinderlehre«135 gehören).

      3 Die Festgottesdienste (Predigtgottesdienste zu besonderen Anlässen).

      4 Formulare zur Abendmahlsfeier und Taufspendung.

      5 Formulare für »Handlungen der Kirchenregierung«, die Ebrard zufolge »zwar liturgischer Natur, aber nicht integrierende Theile des Gemeinde-Cultus sind.«136

      6 »Benediktionshandlungen« (Trauung und Beerdigung).

      7 »Gebetsgottesdienste« bzw. »Betstunden«, wobei Gottesdienste gemeint sind, die in der Tradition der Tagzeitengebete stehen und bei denen keine Predigt, sondern nur Lesungen und Gebete vorgesehen sind.137

      Das Kirchenbuch ist das einzige unter Ebrards liturgiewissenschaftlichen Werken, das eine zweite Auflage erlebte. Ebrard arbeitete in seinen letzten Jahren daran, kam aber nicht mehr dazu, die zweite Auflage selbst zu veröffentlichen. Diese erschien erst posthum 1889, herausgegeben von Gerhard Goebel, Konsistorialrat und Domprediger in Halle an der Saale. Wie Ebrard selbst in seiner Vorrede schreibt, wurde die zweite Auflage auf Wunsch der 1885 in Elberfeld gehaltenen reformierten Konferenz geplant und sollte – anders als die erste – »ausschließlich dem praktischen Zwecke dienen«.138 Das Reformirte Kirchenbuch sei nämlich |33| »bei den reformirten Gemeinden Baierns durch landesherrlich genehmigten Synodalbeschluß als kirchliche Agende eingeführt und seit dreißig Jahren in Gebrauch«.139 Neben den wenigen Änderungen und Kürzungen, die Ebrard selbst vorgesehen hatte, weist die zweite Auflage des Kirchenbuches im Vergleich zur ersten aber auch weitere, auf den Herausgeber Goebel zurückgehende Unterschiede auf. So ist etwa das von Ebrard entworfene Formular für die Gebetsgottesdienste durch eine deutsche Übersetzung der entsprechenden Teile aus der Neuenburger Liturgie 1713 ersetzt und ein Anhang mit drei Leseordnungen für alle Sonntage des Kirchenjahres beigefügt worden.140

      Ebrard veröffentlichte seine praktisch-theologischen Vorlesungen als er bereits Konsistorialrat der unierten Kirche der Pfalz geworden war. Wie er selbst im Vorwort erklärt, werden in diesem Band die Vorlesungen, die er 1852 in Erlangen gehalten hatte, »fast wörtlich« wiedergegeben.141 Die Praktische Theologie bildete offenbar einen der Schwerpunkte von Ebrards akademischer Tätigkeit in Erlangen, hielt er doch zwischen 1849 und 1852 drei Vorlesungsreihen zur gesamten Praktischen Theologie, eine zur Homiletik und eine zur »Einleitung in die Praktische Theologie«.142

      Die Vorlesungen sind in 215 fortlaufend nummerierte Paragraphen gegliedert, die wiederum in zwei Hauptteilen gruppiert sind. Im ersten Hauptteil werden die Natur und der Gegenstand Praktischer Theologie reflektiert, während im zweiten die einzelnen Teildisziplinen Katechetik, Halieutik, »Cultuswissenschaft« und Poimenik behandelt werden.

      »Praktische Theologie« ist Ebrard zufolge ein zweideutiger Begriff. Diese könnte nämlich zunächst in Abgrenzung von der »wissenschaftlichen Theologie«, die im reinen theologischen Wissen und Erkennen ihren Zweck hat,143 bestimmt werden. Praktische Theologie wäre in diesem Sinne keine Wissenschaft, sondern eine »theologische Kunst«, in der die durch die wissenschaftliche Tätigkeit erworbene Erkenntnis praktisch wird bzw. »eine praktische Anwendung erleidet«.144 Andererseits – und dies sei die Bedeutung,