Luca Baschera

Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818-1888)


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vom reformatorischen Konsens ab.

      Erstens betont er, dass die Wiedergeburt eine reale »Umschaffung« des Menschen bedeute, sodass dieser nun »im Centrum seines Wesens« gut sei und nur in der »Peripherie« fleischlich bleibe.98 Somit leugnet er einen zentralen Aspekt reformatorischer Theologie, nämlich die Idee, dass der erwählte Christ ganz Sünder bleibe, was herkömmlich in der Formel simul iustus et peccator zusammengefasst wird. Diese Ansicht wurde hingegen von Römisch-Katholiken, Remonstranten und Sozinianern bestritten. Die Kontinuität zwischen Ebrards Position und der remonstrantischen bzw. sozinianischen wird des Weiteren durch seine Interpretation von Röm 7 bestätigt. Passagen wie: »Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich« (Röm 7,19), die eine Überwindung der Sünde im Wiedergeborenen in Frage stellen, interpretiert Ebrard – wie die Sozinianer und Remonstranten es auch schon taten99 – als Aussagen über den Zustand des Paulus vor seiner Bekehrung.100

      Zweitens hält Ebrard daran fest, dass dieser in seinem »Lebenscentrum« gerecht gewordene Mensch trotzdem vom Heil gänzlich abfallen kann, wenn er »im Kampfe gegen den alten Menschen träge wird«.101 Auch hier wird ein zentraler Aspekt reformatorischer Theologie – die Lehre der perseverantia sanctorum – zugunsten der Position der Remonstranten abgelehnt.102

      Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ebrard in seiner Soteriologie den Boden reformatorischer Theologie weitgehend verlassen und die »Gefahrzone des Pelagianismus« nicht nur gestreift, sondern tatsächlich betreten hat. Die ganze Heilsaneignung, von ihrem Beginn bei der metanoia bis zu ihrer Vollendung, hängt bei ihm von einer Entscheidung bzw. der Beständigkeit des Menschen ab. |26| Während die Reformatoren einerseits die Unwürdigkeit des Menschen vor und nach der Bekehrung, andererseits die Treue Gottes zu seinem Gnadenbund trotz der menschlichen Untreue betonten, macht Ebrard vielmehr den Menschen verantwortlich sowohl für die Annahme als auch für die Bewahrung der Gnade.

      Die Zentralität der Wiedergeburtslehre für Ebrards Theologie kann als weitere Bestätigung des großen Einflusses gelten, den die Erweckungsbewegung – vor allem durch seinen Lehrer Johann Christian Krafft – auf ihn ausübte. Ob dieser Einfluss auch seine Liturgik prägte, wird sich im Folgenden zeigen.

      2 Ebrards liturgisches und liturgiewissenschaftliches Werk

      1. »Versuch einer Liturgik vom Standpunkte der reformierten Kirche« (1843)

      Seine erste liturgiewissenschaftliche Schrift veröffentlichte Ebrard mit 25 Jahren. Diese stellte das Resultat – wie Ebrard in der Vorrede erklärt – »fortgesetzter liturgischer Studien«103 dar und war ursprünglich nur zum eigenen Gebrauch bestimmt, »zur Fixirung eigener Ueberzeugung« sowie »zur Grundlage fernerer Studien«.104 Erst die Kunde, die schweizerischen Kirchen planten gerade eine Revision ihrer Liturgien, habe ihn dazu veranlasst, seine Überlegungen drucken zu lassen.105 Jede Reform sollte immer von klaren Prinzipien geleitet werden, damit sie keine bloße Veränderung des Bestehenden oder gar eine Verschlechterung bewirke, sondern eine wirkliche Verbesserung mit sich bringen könne. Gerade zu einer solchen Reflexion auf die Prinzipien reformierter Liturgik will Ebrard im Versuch beitragen: »Dies Schriftchen ist ein Versuch, die Liturgik der reformierten Kirche prinzipiell und wissenschaftlich zu erbauen.«106 Ebrard will also eine »Theorie des Cultus« vorlegen, die von Anfang an ein klares konfessionelles Profil haben soll. Darin unterscheidet sich sein Entwurf von anderen liturgiewissenschaftlichen Schriften evangelischer Autoren, die im Titel als Theorien des »christlichen« oder »evangelischen« Gottesdienstes im Allgemeinen präsentiert werden,107 deren Inhalt die konfessionelle – lutherische – Zugehörigkeit der Verfasser jedoch rasch deutlich werden lässt. Die Bewahrung der reformierten Identität in liturgischen Belangen war Ebrard umso wichtiger in einer Zeit, in der das Projekt einer Union beider reformatorischer Konfessionen immer häufiger diskutiert werde und besonders unter Reformierten das »Streben« vorhanden sei, »den seit den Zeiten der Verstandesreligion allzu nüchtern gewordenen Cultus wieder zu bereichern«.108 Dabei bestehe aber die Gefahr, dass die Reformierten in liturgicis allzu schnell |28| »die lutherische Observanz« aufnähmen oder gar romanisierende Tendenzen entwickelten.109

      Dagegen wollte Ebrard den reformierten und insbesondere – wie er schreibt – den schweizerischen reformierten Kirchen die Notwendigkeit nahelegen, an ihrer eigenen liturgischen Tradition festzuhalten. Der Versuch einer Liturgik stelle somit in erster Linie eine »Besprechung des reformirten Cultus auf reformirtem Boden« dar und gehöre »zu den inneren Verhandlungen auf dem Gebiete der reformirten theologischen Literatur«. Da aber seine Schrift auch wissenschaftliche Qualität besitze, erhoffte sich Ebrard, dass sie auch über die konfessionellen Grenzen hinweg rezipiert und diskutiert würde. Eine solche offene Diskussion hätte schließlich auch positive Auswirkungen für die erstrebte Union, denn nur eine wissenschaftliche Betrachtung der reformierten Liturgik im Vergleich mit der lutherischen könnte künftig die Formulierung allgemeiner Prinzipien für die »praktische Construction eines gemeinsamen [d. h. unierten] Cultus« ermöglichen.110

      Der Versuch einer Liturgik gliedert sich in zwölf Kapitel und 131 fortlaufend nummerierte Paragraphen, wobei die ersten sechs Kapitel die Elemente und Prinzipien des reformierten Gottesdienstes diskutieren, während die restlichen die Zusammenfügung jener Elemente in verschiedenen Gottesdienstformen besprechen. Eine »musikalische Beilage«, die drei Psalmen (51, 140, 66) in vierstimmigem Satz enthält, sollte den Leser von den Vorzügen des vierstimmigen Gemeindegesangs überzeugen.111

      Im Versuch werden zwar die Struktur und die Elemente verschiedener Gottesdiensttypen eingehend besprochen, diese Schrift enthält aber keine Formulare im engeren Sinne. Ebrard weist auf die Vorzüglichkeit der alten, aus der Reformationszeit stammenden Liturgien hin, die mit ihrem »kräftigen, gesunden, ernsten, ebenso gemüthvollen als klaren, und doch weder trockenen noch empfindelnden« Charakter nach wie vor als Muster für die Erarbeitung neuer Formulare gelten sollten. Zugleich formuliert er die Absicht, bald »eine Sammlung alter Formulare, nach den in dieser Schrift niedergelegten Grundsätzen, geordnet und zusammengestellt und verarbeitet« zu veröffentlichen.112 Dieses Vorhaben wird er vier Jahre später durch die Herausgabe des Reformirten Kirchenbuches verwirklichen, das somit auch als Begleitband zum Versuch einer Liturgik betrachtet werden kann. |29|

      Das Reformirte Kirchenbuch erschien in Zürich im Jahr 1847, kurz bevor der Herausgeber die Stadt und deren Universität verließ. Der Untertitel gibt nähere Auskunft über Charakter und Zweck des Werks: »Vollständige Sammlung der in der reformirten Kirche eingeführten Kirchengebete und Formulare zum praktischen Gebrauche eingerichtet«.113 Durch die Herausgabe dieser Sammlung von Kirchengebeten aus der reformierten Tradition verfolgte Ebrard also in erster Linie einen praktischen Zweck. Wie er in der Einleitung zu diesem Band schreibt, seien die meisten zeitgenössischen reformierten Agenden zu knapp gehalten und deshalb der Ergänzung bedürftig.114 Anstatt neue Gebete zu entwerfen oder sie gar den Liturgien anderer Konfessionen zu entlehnen, hält es Ebrard für sinnvoller, die eigene liturgische Tradition in ihrer Vielfalt wieder zu entdecken und ihre Elemente so miteinander zu kombinieren, dass ein den Bedürfnissen der Zeit genügendes Ganzes entstehe. Durch eine solche Reflexion auf die eigene Tradition sollte darüber hinaus eine »organische Weiterbildung und reichere Entwicklung des [reformierten] Cultus« ermöglicht werden. Damit wollte er keineswegs den reformierten Gottesdienst der »Kahlheit« bezichtigen, wie viele es schon damals taten; er erkennt aber trotzdem an, dass die reformierte Liturgie in mancherlei Hinsicht – wie beispielsweise in Bezug auf das Kirchenjahr – »arm geblieben« sei.115 Die vorliegende Sammlung könne insofern der Bereicherung des reformierten Gottesdienstes dienen, als sie zu einer »konsequenten Entfaltung der in der ref[ormierten] Kirche gegebenen Elemente« führe.116

      Ebrard äußert die Hoffnung, dass seine Sammlung nicht nur zur Bereicherung des Gottesdienstes in den deutschen reformierten Diasporagemeinden diene, sondern auch in den reformierten Landeskirchen – wobei er wohl an die Deutschschweiz denkt – aufgenommen oder sogar offiziell eingeführt werde. Er ist überzeugt, dass selbst wenn dies nicht geschehe, sich das Kirchenbuch als ein |30| nützliches