Luca Baschera

Die reformierte Liturgik August Ebrards (1818-1888)


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Jahrzehnt widmete er sich einer regen publizistischen Tätigkeit. Neben einer zweibändigen Apologetik (1874/75), einem vierbändigen Handbuch der christlichen Kirchen- und Dogmengeschichte (1865/66) und zahreichen Aufsätzen veröffentlichte Ebrard auch sieben Romane sowie Abhandlungen über Akustik und Farbenlehre.62 Im Alter von 57 Jahren wurde er zuletzt – wie sein Vater etliche Jahrzehnte zuvor – Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde in Erlangen, ein Amt, das er bis an sein Lebensende 1888 bekleidete.

      Angesichts der erstaunlichen Produktivität Ebrards als Publizist ist es bemerkenswert, dass er bald nach seinem Ableben in fast vollkommene Vergessenheit geriet. Karl Eduard Haas vermutet, dass dies einerseits durch die fehlende Gründlichkeit einiger seiner Schriften bedingt sei – man denke vor allem an seine |21| Streitschriften gegen Schweizer –, andererseits aber auch durch seinen polemischen Eifer, der ihn sehr unbeliebt machte.63

      Martin Kähler rechnet Ebrard zusammen etwa mit August Neander, Carl Immanuel Nitzsch und Julius Müller der Gruppe »kirchlich-pietistischer Vermittlungstheologen« zu, die eine »Verbindung zwischen Christentum und Bildung« dadurch anstrebten, »daß die Bildung durch das Christentum bestimmt wird, also durch Christianisierung der Bildung«.64 Das Urteil Kählers wird von Ebrard selbst bekräftigt, der gerade die Arbeiten Nitzschs und Müllers als Früchte des »Wiedererwachens des Glaubens« in seinem Jahrhundert und als Beispiele »gläubiger Theologie« betrachtet.65 Die Nähe Ebrards zur Erweckungstheologie – deren Vertreter sowohl Neander als auch Müller waren66 – wird darüber hinaus dadurch bestätigt, dass Ebrard beide Hauptanliegen dieser theologischen Ausrichtung teilte: einerseits den Kampf gegen die »liberale« oder »freie Theologie« eines Strauß oder Biedermann, andererseits die Abwehr stur konfessionalistischer Positionen wie jener der neulutherischen restaurativen Theologie.67

      Ebrards Absage an den Konfessionalismus wird in der Vorrede zum zweiten Band seiner »Christlichen Dogmatik« deutlich formuliert: »Ein anderes ist der Glauben in Christum, ein anderes der Glauben oder richtiger die Ueberzeugung von der Richtigkeit eines Dogma’s oder Bekenntnisses. […] Der erstere soll felsenfest und über jeden Zweifel erhaben sein; die letztere muß auf Grund des ersteren fort und fort neu an der h[eiligen] Schrift geprüft werden, da weder die Väter noch ich selber infallibel waren.«68 Wehrt sich Ebrard gegen eine konfessionalistische Haltung, die letztlich »die h[eilige] Schrift unter die Autorität der Bekenntnißschriften erniedrigt«,69 so versteht er seine Theologie gerade deshalb als »eine ächt reformierte«.70 In Ebrards Selbstverständnis steht er somit in Kontinuität einerseits zu reformierten »biblischen Theologen« wie Johannes Cocceius (1603–1669) oder Frans Burman (1628–1679),71 andererseits zur »deutsch-reformierten« |22| Tradition.72 Letztere versteht Ebrard als eine Synthese zwischen dem Erbe Melanchthons und jenem Calvins, wobei von Melanchthon die Ablehnung der Lehre der absoluten Prädestination, von Calvin das Abendmahlsverständnis übernommen worden sei. Auf diese Weise – nämlich durch das Zusammentreffen von »verstandenmäßiger romanischer Schärfe« und »deutscher Gemüthstiefe«73 – sei eine Form von reformierter Theologie entstanden, die wegen ihrer Überwindung des calvinischen Prädestinationsdogmas immer schon für eine Union mit den lutherischen Kirchen offen gewesen sei.74

      Ist Ebrards Charakterisierung der deutschen reformierten Tradition historisch fragwürdig,75 so kommt dabei doch ein wesentlicher Zug seiner eigenen Theologie deutlich zum Ausdruck, und zwar seine tiefe Abneigung gegen das orthodox reformierte Prädestinationsdogma. Diese Abneigung verleitete ihn bisweilen sogar zu schier unhaltbaren Behauptungen. So beteuerte er etwa in Polemik zu Alexander Schweizer – der die Prädestinationslehre als »Centraldogma« der reformierten Theologie definiert hatte –, dass »zwei Drittheile der reformirten Kirche […] von der Schiefheit der absoluten Prädestinationslehre in dieser (grundlegenden) Periode [d. h. der reformierten Orthodoxie] völlig frei« gewesen und »nur das dritte Drittheil, die calvinisch-reformierte Kirche im engern Sinn, davon influirt« worden sei.76 Für Schweizer war es wohl leicht, die Unhaltbarkeit solcher Aussagen historisch nachzuweisen.77 Einerseits trifft also zu, was Ernst Friedrich Karl Müller bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu Ebrard anmerkte: Dieser habe oft »die nüchterne Forschung hinter den eignen Empfindungen |23| zurücktreten lassen«.78 Gleichzeitig muss aber auch bedacht werden, dass Ebrards Hauptinteresse – anders als das Schweizers – nicht bei der Wiedergabe historischer Tatsachen lag. Vielmehr strebte er eine »organische Weiterentwicklung« der reformierten Dogmatik in ökumenischer Weite an.79 Es wäre jedenfalls für eine positivere Rezeption seines Anliegens förderlich gewesen, wenn er darauf verzichtet hätte, seine Position in der Geschichte der orthodox reformierten Theologie zu verankern zu suchen, und an der nüchternen – und ehrlicheren – Feststellung festgehalten hätte, er sei »in der Prädestinationslehre entschiedener Gegner Calvin’s und Anhänger Melanchthon’s«.80

      Aus welchen Gründen lehnte aber Ebrard die Prädestinationslehre so dezidiert ab? Einerseits meinte er einen Zusammenhang zwischen orthodox reformiertem Determinismus und den pantheistischen Tendenzen in der Theologie Schleiermachers und, vor allem, Schweizers zu erkennen.81 Andererseits war die klassische Prädestinationslehre unvereinbar mit Ebrards starker Betonung der Willensfreiheit im Rahmen seiner Wiedergeburtslehre – die Jacobs zufolge als der »innerste Kreis seines theologischen Denkens« anzusehen ist.82

      Die Wiedergeburt wird von Ebrard als Moment eines subjektiven und zugleich kosmischen Prozesses betrachtet, den er als »Verklärung« bezeichnet. Der Mensch sei zur »Verklärung in Gott« bestimmt83 und diese entfalte sich in den drei Hauptmomenten der Heilsgeschichte, nämlich der »Heilsanlage« (»Erschaffung des Menschen und seine Bestimmung zur Verklärung Gottes in ihm«), der »Heilsbegründung« (die »Erlösungsthatsache, Christus und sein Werk«) und der »Heilsaneignung« (»Erreichung der Bestimmung durch Annahme der dargebotenen Erlösung«).84 Der Verklärung des Menschen in Gott liege aber eine Verklärung Gottes selbst zugrunde. Diese umfasse drei Momente, die den drei trinitarischen Personen entsprechen. Die Heilsanlage gründe in der Schöpfungstat Gottes des Vaters, der »Verklärung Gottes als des Ursprungs alles Zeitlichen«; die Heilsbegründung gehe auf die Menschwerdung des Sohnes, die »Verklärung Gottes in der Zeit«, zurück; die Heilsaneignung habe schließlich ihren Ursprung im Wirken des Heiligen Geistes, der »Verklärung Gottes als des Vollenders«.85

      |24| Obwohl der erste Schritt hin zur Heilsaneignung in der Bekehrung (metanoia) besteht, d. h. in einer »Wandlung der Gedanken und Gesinnungen«,86 so bildet doch die Wiedergeburt (anagennesis) das entscheidende Heilsereignis. Diese wird als Umwandlung des »substantiellen Lebenscentrums« im Menschen definiert, die durch Christus bewirkt wird, »damit von diesem Centrum uns nicht eine neue physis allein, noch eine neue Gesinnung allein, sondern ein ganzer neuer Mensch sich bilde, der sofort nach beiden Seiten sich weiterentwickle«.87 Christus sei aber nicht bloß Ursache oder Grund der Wiedergeburt, sondern teile sich in dieser real dem Menschen mit.88 In Anlehnung an seinen amerikanischen Zeitgenossen John Williamson Nevin89 konzipiert Ebrard diese Selbstmitteilung Christi – auch unio mystica genannt90 – als eine Vereinigung seines »Lebenscentrums« mit dem menschlichen, die in einer tiefen Gemeinschaft resultiere, ohne dass dabei das menschliche Sein durch das Sein Christi ersetzt werde.91 Vielmehr werde die »seelische Substanz« des Menschen von der aus Christus herausströmenden »lebengebenden Kraft« neu geboren, sodass er sich wieder Gott als »realem Quell seines Lebens« zuwenden kann.92

      Obwohl die anagennesis als eher passives Moment betrachtet wird,93 wirken Ebrard zufolge bei ihr wie bei der metanoia Gott und der menschliche Wille mit, wobei Letzterer immer im Stande ist, die ihm bloß »dargebotene Erlösung« abzulehnen bzw. nach deren Erwerb zu verlieren: Entgegen der augustinischen Position ist die gratia für Ebrard somit immer resistibilis.94 Diese Betonung der Willensfreiheit in jeder Phase der Heilsaneignung führte aber dazu, dass sich Ebrard in mehrfacher Hinsicht vom reformatorischen Konsens entfernte und letztlich »in die Gefahrzone des Pelagianismus« begab.95 So deutet er etwa die Wirkung des Heiligen Geistes bei der Bekehrung als Wiederherstellung der Willensfreiheit, wobei Letztere deutlich – und in expliziter Anlehnung an die Remonstranten96 – |25| als libertas indifferentiae, als Freiheit, die Gnade anzunehmen oder abzulehnen, aufgefasst wird.97 Ferner sei der Mensch, obwohl er sich nur »rezeptiv« zum die Wiedergeburt herbeiführenden Heiligen