Avancierte medizin- und nanotechnische Projekte am Mensch-Maschinen-Schnittpunkt verflechten sich dabei mit philosophischen Hintergrundannahmen, die sich gern an Friedrich Nietzsche inspirieren. In seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ steht ein Satz, der dafür als Motto dienen könnte:
„Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?“82
Mit diesem Selbstverständnis der Cyberphilosophy geht eine geradezu naturwüchsige Form von Religionskritik, namentlich einer solchen des Christentums, einher, sofern diesem im Blick auf seine Solidarität gerade mit den Schwachen vorgeworfen wird, den technisch-kulturellen Fortschritt zu behindern. Dem entgegen gehe es vielmehr darum, die fehleranfällige „wetware“ (Feuchtausstattung/„Wassersack“) der menschlichen Leiblichkeit so weit wie irgend möglich auszuschalten und den zum Signum des 20. Jahrhunderts gewordenen „Sturz der Materie“ – so im berühmten „Cyber-Manifesto“83 – konsequent fortzusetzen. Die darin implizierte Revision des Christlichen bringt der Netzwelt-Vordenker John Perry Barlow auf den bündigen Nenner einer medialen Revision des Christentums:
„Heute wird das Fleisch so gewissermaßen Wort.“84
Wenn dem so ist, dann steht die Theologie an dieser Stelle vor der Aufgabe fälliger Grenzziehungen. Denn sie hat ein inkarnatorisches Zentrum, das auch im Raum der nach-jesuanischen Christus-Verkündigung durch die Materialität der Sakramente gegenwärtig bleibt. Vielleicht darf man sagen: Der heiße Kern der christlichen Gottesoffenbarung ist das Fleisch – und eben hier verläuft die Konfliktlinie zwischen christlicher Botschaft und dem quasireligiösen Anspruch der neuen Medienwelt. Das wache Bewusstsein für deren Eigenbotschaft und ihre eigene religiöse Aura gehört darum unverzichtbar zu einem kompetenten Umgang mit ihr.
Literatur
Müller, Klaus: Wechsel und Verkettung. Medienphilosophische Grenzziehungen in Sachen Liturgie. In: Winter, Stephan (Hg.): „Das sei euer vernünftiger Gottesdienst“ (Röm 12,1). Liturgiewissenschaft und Philosophie im Dialog. Regensburg 2006. S. 264–280.
Ders.: Glauben – Fragen – Denken. Bd. 2: Weisen der Weltbeziehung. Münster 2008. Teil A, Kap. 4. S. 211–259.
59 Vgl. Jochum, Uwe: Kritik der neuen Medien. Ein eschatologischer Essay. München 2003, S. 48.
60 Vgl. Davis, Erik: Techgnosis. Myth, Magic + Mysticism in the Age of Information. New York 1998, S. 256–258. – Stahl, William A.: God and the Chip. Religion and the Culture of technology. Waterloo 1999, S. 3. ed 2001. (Editions SR; 24), S. 43–48.
61 Vgl. etwa Masusa, Yoneji: The Information Society. Washington 1980. – Feigenbaum, Edward / McCorduck, Pamela: The Fifth Generation. Reading, Mass. 1983. – Drexler, K. Erik: Engines of Creation. Garden City 1986. – Moravec, Hans: Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Hamburg 1990. – Negroponte, Nicholas: Being digital. New York 1995. – Ogden, Frank: Navigating in Cyberspace. A Guide to the Next Millennium. Toronto 1995. – Kurzweil, Raymond: Homo s@piens. Köln 32000.
62 Vgl. Genesis 1,1 – 2,25. – Psalm 8, S. 148.
63 Sloterdijk, Peter / Jüngel, Eberhard: Disput über die Schöpfung. In: Jahrbuch 2001. Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst. München 2001, S. 23–37. Hier S. 28.
64 Vgl. dazu Velthoven, Theo van: Gottesschau und menschliche Kreativität. Studien zur Erkenntnislehre des Nikolaus von Kues. Leiden 1977, S. 98–99.
65 Vgl. Pico della Mirandola, Giovanni: De hominis dignitate: Über die Würde des Menschen. Übers. von Norbert Baumgarten. Hg. u. eingel. von August Beck. Hamburg 1990, S. 5–7.
66 Vgl. Davis: Techgnosis (Anm. 2), 76–101. Sloterdijk / Jüngel: Disput (Anm. 5), S. 25–26.
67 Vgl. dazu Müller, Klaus: Die Religion des Homo Cyber. In: Sorgo, Gabriele (Hg.): Askese und Konsum. Wien 2002, S. 246–264. Hier S. 258–264.
68 Vgl. Roth, Peter: Virtualis als Sprachschöpfung mittelalterlicher Theologen. In: Roth, Peter / Schreiber, Stefan / Siemons, Stefan (Hgg.): Die Anwesenheit des Abwesenden. Theologische Annäherungen an Begriff und Phänomene von Virtualität. Augsburg 2000. S. 33–41.
69 Vgl. dazu Henkel, Georg: Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts. Weimar 2004. Hier S. 84–96. bes. S. 91–94.
70 Barloewen, Constantin v.: Der Mensch im Cybersp@ce. Vom Verlust der Metaphysik und dem Aufbruch in den virtuellen Raum. München 1998, S. 84.
71 Vgl. Münker, Stefan: Was heißt eigentlich: „Virtuelle Realität“? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdoppelung der Welt. In: Münker, Stefan / Roesler, Alexander (Hgg.): Mythos Internet. Frankfurt a. M. 1997, S. 108–127.
72 Stephenson, Neal: Snow Crash. Roman. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber (Original 1992). Tb.-Ausg. München 1995, S. 85. – Vgl. dazu auch Davis: Techgnosis (Anm. 2). S. 253–288.
73 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. „Understanding Media“. Dresden / Basel 1995, S. 15–19.
74 Rötzer, Florian: Cyberspace als Heilserwartung? Über das globale Gehirn oder den virtuellen Leviathan. In: Bolz, Norbert / Reijen, Willem van (Hgg.): Heilsversprechen. München 1998, S. 159–175. Hier S. 165.
75 Vgl. Davis: Techgnosis (Anm. 2), S. 195.
76 Zu Teilhard und seiner Wirkungsgeschichte in der Cyberphilosophy vgl. auch Davis: Techgnosis (Anm. 2), S. 289–318.
77 Vgl. zum Folgenden Jochum: Kritik (Anm. 1), S. 92–99.
78 Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos. München 1959, S. 232.
79 Teilhard de Chardin, Pierre: Die Entstehung des Menschen. München 31963, S. 118.
80 Vgl. Jochum: Kritik (Anm.