Medienreligion
Klaus Müller, Direktor des Seminars für Philosophische Grundfragen der Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Noch komplexer als die anderen Buchreligionen Judentum und Islam ist das Christentum eine Religion der Medien: Die seit Abraham ergehende Selbstmitteilung Gottes, gebrochen im Prisma der alttestamentlichen Gattungen, wird Fleisch – was für ein Medium! Ein Mensch, geboren zwischen Tieren, gestorben an einem Schandpfahl, wird zur lebendigen Metapher des unbegreiflichen Gottes. Dieser Mensch selbst übersetzt (!) sein Wesentliches ins Medium eines heiligen Zeichens (die Eucharistie), seine Gefolgeleute und noch Spätere falten diese Medialisierung weiter aus (in den Sakramenten und Sakramentalien). Zugleich kommt es zu einer neuerlichen Übersetzung des fleischgewordenen Wortes ins Gesprochene und Geschriebene – das Neue Testament. Und dieses wiederum zielt zusammen mit den materiellen Zeichen(handlungen) auf nichts anderes, als dass Hörende und Feiernde das Gehörte und Gefeierte rezipieren und ins Medium erstpersönlichen Lebens übersetzen. Das Christentum – eine einzige Medienkette.
Natürlich haben die christlichen Verkünder seit je auch die medialen Kanäle menschlicher Kommunikation genutzt: Von den Briefen des Apostels Paulus (den ältesten Medienspuren des Christentums) über die unendlich reiche Bilderwelt der Mosaiken, Fresken, Plastiken bis hin zu Druckerzeugnissen, Radio Vaticana, den Zeitungen und Magazinen und heute natürlich den zahllosen Netzauftritten von Gemeinden, Bistümern, Verbänden bis hin zu den offiziellen Sites des Vatikan.
Das alles ist eigentlich gar nicht groß der Rede wert. Ein anderes dafür umso mehr: die Tatsache nämlich, dass das Phänomen der Neuen Medien als solches oft eine ganz eigenartige religiöse Aura mit sich führt. Zwischen beiden Seiten kann es zu brisanten Interferenzen kommen, auch zu Spannungen bis hin zur Unverträglichkeit: dass sozusagen die Eigenbotschaft, die das Medium ja immer auch schon allein kraft seiner eigenen Struktur und seines Rhythmus sendet, den transportierten Inhalt regelrecht dementiert.
Technische Errungenschaften waren seit je und sind bis heute von religiöser Mystifikation begleitet – und am meisten dort, wo technische Rationalität sich mit dem Anspruch verbindet, Mythisches oder Religiöses überwunden zu haben. Aber kaum ein anderes Feld der Technokultur ist davon intensiver geprägt als dasjenige, das die heute wirtschaftlich tonangebenden Weltgegenden durchherrscht und ihr Emblem – ihr Totem – im Computer gefunden hat: die postindustrielle Informationstechnik in Gestalt der Telematik, also dem Zusammenschluss herkömmlicher elektronischer Kommunikationstechniken mit den Neuen Medien. Religiöse Semantik, meist aus dem jüdisch-christlichen Traditionsstrom geschöpft, und der Rekurs auf einschlägige philosophisch-theologische Theoriestücke bestimmen in einem Maß die Selbstbeschreibung und Selbsttheoretisierung der Cyberwelt, dass es in einer Öffentlichkeit, die wie die derzeitige westeuropäische in Richtung eines religiösen Analphabetentums unterwegs ist, unschwer zu Verwechslungen zwischen technisch Projektiertem und religiöser Rhetorik kommt.59 Und es sind genau dies – die Entdifferenzierung von Technik und Theologie samt den zwangsläufigen Folgen – die Koordinaten, an denen entlang sich die religiöse Semantik und Theoriebildung der Cyberwelt entwickelt.
Technische Errungenschaften waren seit je und sind bis heute von religiöser Mystifikation begleitet – und am meisten dort, wo technische Rationalität sich mit dem Anspruch verbindet, Mythisches oder Religiöses überwunden zu haben.
Das lässt sich gut an der Weise verfolgen, wie dazu biblische Motive aufgegriffen und geweitet, dann aber auch sozusagen revisionär in Gegengeschichten transformiert werden, die ausdrücklich dem biblischen Sinngehalt widersprechen. Prinzipiell lässt sich sagen, dass die kulturelle Selbstbeschreibung der Computerwelten das Gesamtrepertoire der jüdisch-christlichen Erzählung von Heilsgeschichte in Anspruch nimmt, angefangen vom Schöpfungsgedanken der Genesis bis zur Apokalypse, also dem letzten, so visionären Buch der Bibel, das in einer Geschichtstheologie aufgipfelt, die beansprucht, den letzten Sinn und das Ziel von allem offenzulegen. Genau diese eschatologisch-apokalyptische Ambition ist der gesamten Cybertheorie als strukturelles Grundmuster eingeschrieben: Sie ist ein einziges glühendes Versprechen der bevorstehenden Heraufkunft eines Reiches des Geistes und nimmt folgerichtig auch intensiv Bezug auf den, der wie kein anderer in der geschichtsphilosophisch-theologischen Tradition für diese Denkfigur steht: der mittelalterliche Abt Joachim von Fiore (1145–1202).60 Für ihn war nach dem Reich des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament) mit dem Auftreten des benediktinischen Mönchtums ein „drittes Zeitalter“ angebrochen, das Reich des Geistes, das alte Regeln und Grenzen hinter sich lässt, durch nichts aufzuhalten ist und eine ins Hier und Heute gezogene Erlösung gewährt. Viele maßgebliche Programmschriften über die Chancen der informationstechnischen Kulturrevolution beziehen sich auf dieses Denkmuster.61 Unter welchen komplexen Voraussetzungen das geschieht, kann besonders gut an der cyberianischen Neufassung des Eröffnungsgedankens der biblischen Tradition zur Geltung gebracht werden: am theologischen Theorem der Schöpfung.
Der Schöpfungsgedanke – so poetisch er auf den ersten Seiten der Bibel und in einigen Psalmen begegnen mag62 – ist ja systematisch gesehen ein relativ spätes Krisenprodukt, nämlich die Reaktion auf die Katastrophe des babylonischen Exils. Israel hatte Land und Zukunft verspielt und kann an seinem Gottvertrauen in der Fremde nur noch dadurch festhalten, dass es diesen Gott souveräner als alles andere denkt, als einen, der auch noch die mächtigen Gegner in seinen Händen hält und zu seinem Werkzeug macht. Das ist dann gewährleistet, wenn er über schlichtweg alles gebietet, vom Sandkorn bis zu den Gestirnen hinauf.
Der Schöpfungsgedanke entwächst einer „offensive[n] Über-bietungstheologie“63 – und das ist insofern von höchster Brisanz, als schon innerbiblisch und dann erst recht in der theologischen Tradition dem Menschen eine Mitbeteiligung an Gottes Schöpfungshandeln zugeschrieben wird. Besonders markant geschieht dies etwa durch Nikolaus von Kues (1401–1464), wenn er den im Mittelalter Gott allein vorbehaltenen Titel „creator“ in der Zusammenstellung von „creator artium“ (Schöpfer der Künste) auch dem Menschen zuschreibt oder die Seele „notionalium creatrix“ (Schöpferin der Gedankendinge) nennt und schließlich vom Menschen als einem „secundus Deus“ sprechen kann, um seine schöpferische Berufung zum Ausdruck zu bringen.64 Und Pico della Mirandola (1463–1494) – eine Generation später – sieht die Würde des Menschen gerade darin begründet, dass Gott ihn nicht wie alles andere fertig schafft, sondern unterbestimmt ins Dasein setzt, damit er selbst sich in Freiheit zu seiner Vollgestalt – sei es nach unten, sei es nach oben – fortbestimme.65
Dieser Titel – mittellateinischer Provenienz – ist seit Anbeginn selbst theologisch und liturgisch hoch aufgeladen: Es gibt Zeugnisse, nach denen in der Epoche der Gegenreformation im Streit um die Verehrung von Gnadenbildern die Präsenz Christi im eucharistischen Brot als „realiter“, die Gegenwart etwa der Gottesmutter in einem Gnadenbild als „in virtute“ bezeichnet wurde. Heute bezeichnet er dabei so etwas wie eine „quasi göttliche Macht, die Welt zu konstruieren“, die sich aus der dezidiert angestrebten Entdifferenzierung von Schein und Sein, Wirklichkeit und Fiktion speist.
Jedenfalls ist der Gedanke, dass an der erfahrenen Welt noch etwas zu machen, ja zu verbessern sei, theologisch nichts Fremdes. Dafür steht innerbiblisch bereits ja drastisch die Sintflutgeschichte. Und im 2., 3. nachchristlichen Jahrhundert meldet der Gedanke sich radikal und gebieterisch, die frühe kirchliche Überlieferung bedrängend, in den Bewegungen der Gnosis, für deren Mehrheit das Schöpfungswerk solcher Pfusch ist, dass man es einem anderen Gott als dem des Evangeliums anlasten müsse, und Letzterem komme die Aufgabe zu, da grundlegend nachzubessern.66 Eben dies aber ist