Der kommunikative Kontrollverlust der Religion über die Religion dürfte in der durchmedialisierten Gegenwartsgesellschaft die zentrale Herausforderung für jede Religion darstellen. So kann man – denkt man nur von der Rezipientenseite her – nicht nur die Bibel im Bett oder auf der Toilette lesen, auch während des Empfangs des Fernsehgottesdienstes lässt sich zu Hause allerhand treiben54. Auch kommt es nicht von ungefähr, dass der heute vorherrschende Religiositätsstil selbst die Struktur des Fernsehformats anzunehmen scheint. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus, dass „die christliche Tradition beschworen wird, mit Rekurs auf den Tod Jesu Christi, zugleich aber Chiffren eines Buddhismus oder okkultistischer und esoterischer Inhalte, deren Kommensurabilität darin zum Ausdruck kommt, dass man sich deren Lösungen besser ‚vorstellen’ kann“55. Tatsächlich ist der Buddhismus, von dem dann die Rede ist, ebenso „bloß“ aus den Massenmedien bekannt wie die meisten religiösen Themen und Persönlichkeiten, von denen der Dalai Lama „allzu oft“ genannt wird56.
Der kommunikative Kontrollverlust der Religion über die Religion dürfte in der durchmedialisierten Gegenwartsgesellschaft die zentrale Herausforderung für jede Religion darstellen.
Außerdem lassen die neuen Medien Internetrituale und sogar religiöse Kommunikationen zu, die offline keine Entsprechung haben. Der neue kommunikative Möglichkeitenraum des Computers ist so niederschwellig, dass „tendenziell jeder Teilnehmer an der Kommunikation sich an ein Netz der Datenverarbeitung wenden kann, aus dem Informationen gezogen werden können, die von keiner Situation ... mehr kontrolliert werden“ und „mit den herkömmlichen Formen der Beziehungskontrolle (via Grenzsetzung) und Quellenkritik (via Autorität) nicht mehr bewältigt werden können“57. Das Kon-trollproblem wird zur zentralen Herausforderung aller herkömmlichen Institutionen, nicht nur der Religionen, sondern auch von Wissenschaften, Medizin, Militär und Diplomatie. Denn der neue mediale Möglichkeitenraum ist weniger ein Raum „in dem Sinne, dass in ihm alles seinen angemessenen Platz hat, sondern eher in dem Sinne, dass man sich in ihm bewegen kann und verwenden und vertauschen kann, was man in ihm findet“58. In diesem neuen kommunikativen Möglichkeitenraum entsteht für diejenigen, die ihn nutzen, eine neue Vielfalt an Beziehungschancen, die schließlich die Einzigartigkeit der jeweiligen Person zu steigern vermag, d. h. er erweitert auf dem sozialen Koordinatensystem der Einzelpersonen ihre ohnehin schon multiplen Zugehörigkeiten und Identitäten.
Der für die Moderne typische Individualisierungsprozess erhält mittels der neuen medialen Kommunikationsmöglichkeiten – bis hin zu Second Life – gewaltige Schübe. Offline kann ich Katholik sein und online andere religiöse Zugehörigkeiten praktizieren, ohne an die kirchliche Publizistik angeschlossen zu sein.
Literatur
Ayaß, Ruth: Religion als Unterhaltung. Der Pfarrer als Fernsehheld.
In: Religion und Kultur. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 33, 1993, S. 350–367.
Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt 2007.
Hohm, Hans-Jürgen: Soziale Systeme, Kommunikation, Mensch.
Eine Einführung in soziologische Systemtheorie. Weinheim / München 22006.
26 Malik, Jamal / Rüpke, Jörg / Wobbe, Theresa (Hgg.): Einleitung: Religion und Medien. In: Diess. (Hgg.): Religion und Medien. Vom Kultbild zum Internetritual, Münster 2007, S. 11.
27 Luhmann, Niklas: Religion als Kommunikation. In: Tyrell, Hartmann / Krech, Volkhard / Knoblauch, Hubert (Hgg.): Religion als Kommunikation. Würzburg 1998, S. 135–145.
28 Tyrell, Hartmann: Religiöse Kommunikation. Auge, Ohr und Medienvielfalt. In: Ders.: Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie. Wiesbaden 2008, S. 263.
29 Vgl. Tyrell: (Anm. 3).
30 Vgl. Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung der Religion. In: Honer, Anne u. a. (Hgg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz 1999, S. 209.
31 Vgl. Reichertz, Jo: RTL-Bibelclips. Christliche Verkündigung als Werbespot. In: Anne Honer u. a. (Hgg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur. Konstanz 1999, S. 244.
32 Hoffmann, Paul: Die „Transzendenz“ Gottes in der Verkündigung Jesu. In: Josef Bruhin u. a. (Hgg.): Misere und Rettung. Beiträge zu Theologie, Politik und Kultur. Luzern 2007, S. 125–134.
33 Hoffmann, Paul / Heil, Christoph (Hgg.): Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch. Darmstadt 2002, S. 24.
34 März, Claus Peter: Der Brief als missionarisches und kirchenleitendes Medium bei Paulus. In: Malik, Jamal / Rüpke, Jörg / Wobbe, Theresa (Hgg.): Religion und Medien. Vom Kultbild zum Internetritual. Münster 2007, S. 115.
35 März: (Anm. 9), S. 105.
36 Wiefel, Wolfgang: Erwägungen zur soziologischen Hermeneutik urchristlicher Gottesdienstformen. In: Kairos 14/1972, S. 36–51.
37 Tyrell, Hartmann: (Anm. 3), S. 299.
38 Ebd., S. 301ff.
39 Ebd., S. 308.
40 Ebd., S. 310.
41 Hohm, Hans-Jürgen: Soziale Systeme, Kommunikation, Mensch. Eine Einführung in soziologische Systemtheorie. Weinheim/München 22006, S. 74.
42 Ebd., S. 74.
43 Ebd.
44 Ebd., S. 75.
45 Ebd.
46 Ebd., S. 78.
47 Vgl. Keppler, Angela: Medienreligion ist keine Religion. Fünf Thesen zu den Grenzen einer erhellenden Analogie. In: Günter Thomas (Hg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens? Wiesbaden 2000, S. 197.