von Wilhelm Niesel (München 1934), und weitergehend hat man sich innerhalb der Bekennenden Kirche auch um eine Klärung |83| des Abendmahlsverständnisses bemüht, vor allem durch Helmut Gollwitzers grosse Studie43 und die «Abendmahlssynode» in Halle 1937.44
In seiner Schrift «Was heisst reformiert?» traktiert Niesel dann auch kaum die konfessionelle Frage, sondern klärt zahlreiche grundsätzliche ekklesiologische Fragen und schreibt die oben markierten Positionen «im heutigen Kampfe um die Kirche»45 fort. «Reformiert» im Sinne von «erneuert» bezieht sich stets auf die Kirche, nicht auf eine Konfession. Deshalb fragt Niesel nach der «Regel und Richtschnur für die Erneuerung der Kirche»: Reformiert bedeute genaugenommen «nach Gottes Wort reformiert». Daraus folge die unbedingte Anerkenntnis des Wortes Gottes, «wie es uns in der Heiligen Schrift gesagt wird»46. Dabei, so Niesel, «wird […] deutlich, dass es sich beim Schriftwort letztlich um Christus handelt»47. Auch das Alte Testament soll ganz christologisch gelesen werden, da es sich in beiden Testamenten um den einen Bundesgott handelt.48 In dieser Schrift wendet sich Niesel deshalb auch nicht gegen andere Konfessionen, argumentiert nicht konfessionell-polemisch49, sondern attackiert |84| mit scharfen Worten alle Theologie und Kirchenpolitik, die nicht steil allein bei der Offenbarung ansetzt:
«Wer die Konfession als Gestalt versteht, die […] entstanden ist und sich dann in der Geschichte ausbreitet, der weiss nicht, dass Konfessio immer das Bekenntnis der einen Kirche zu ihrem Herrn ist.»50
Konfessionell bedeutet bei Niesel, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, bekennend zu sein, das heisst den Herrn der Kirche in dieser Welt bekennend, nicht jedoch ein kirchenpolitisches Agieren für die Stärkung der eigenen Konfession im Sinne von Denomination. Gewiss trifft die Charakterisierung Niesels zu: «Geist und Wirklichkeit des reformierten Bekenntnisses prägen ihn [sc. Niesel].»51 Aber ein Konfessionalist war Niesel keineswegs: «Obschon Niesel seine reformierte Herkunft nie verleugnet hat, stehen konfessionelle Rechtfertigungen während des Kirchenkampfes nicht im Vordergrund seines Interesses.»52
In Niesels Vorträgen und Schriften des Kirchenkampfes stösst man – abgesehen von den Zitaten und Anspielungen auf Johannes Calvin, den Heidelberger Katechismus und wenigen «reformierten Vätern» wie etwa Paul Geyser – auf die Entscheidungen der Bekenntnissynoden. Besonders rekurriert Niesel aber auf Barths Werk, so etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – auf die dreifache Gestalt des Wortes Gottes aus Kirchlichen Dogmatik I/1 (§4).53 Und ganz offenkundig schliesst sich Niesel auch bei der Frage der konfessionellen Selbstbestimmung den Überlegungen Barths an, die dieser, der Shootingstar am reformierten Theologenhimmel, bereits ein Jahrzehnt zuvor geäussert hatte und damit die etablierten Reformierten einigermassen brüskiert haben dürfte.
Zum einen ist dies Barths erster grosser Auftritt vor den deutschen Reformierten während der Hauptversammlung des Reformierten Bundes im September 1923 in Emden. In diesem fulminanten Vortrag erklärt der junge Professor seinen vermutlich erstaunten Zuhörern, dass zeitgenössische |85| Antworten auf die Frage nach «reformierter Lehre» unzureichend oder gar gefährlich seien: Ein schlichter Rückbezug auf die alten Überlieferungen sei die Antwort «des religiösen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art». Zu fordern sei aber gerade mit den «Vätern» die kritische Prüfung der Lehre mit Bibel und Geist.54 Auch Niesel kritisierte «ein romantisches Reformiertentum […], das sich in der Kultivierung mancher Formen gefällt»55 und betont: nach Gottes Wort reformiert.56 Barths wählt deshalb auch den Ansatzpunkt seines Frontalangriffs vom «die reformierte Lehre zunächst charakterisierenden Punkt» aus, nämlich dem «Schriftprinzip».57 Dabei pocht Barth allerdings auf ein dynamisches Verständnis der Offenbarung: Gewiss gilt das Wort Alten und Neuen Testaments, die ganze Schrift, aber doch «nie ohne das entscheidende Wort des Geistes, aus dem sie selbst stammt».58 Und schon hier, zehn Jahre vor dem Kirchenkampf, zitiert Barth den Beginn der Berner Thesen von 152859, der dann in Texten der Bekennenden Kirche zitiert wird und auf den sich auch Niesel immer wieder bezieht. Barth sieht «[d]ie grosse Misere des modernen Protestantismus» dann in allen späteren Epochen der Kirchengeschichte bis in die Gegenwart hinein60, so wie auch Niesel das Verdikt über den Neuprotestantismus und alle Formen von Liberalismus aussprechen |86| kann.61 Barth fordert quasi die Wiederentdeckung der Majestät Gottes und der daraus abzuleitenden Orientierung an dessen Gebot, die typisch reformiert «die Wendung von der Anschauung Gottes […] zurück zum Leben, zum Menschen und seiner Lage» mit einschliesst.62
Zum anderen: Durch Vermittlung Adolf Kellers – etwa zwei Dekaden zuvor Barths Vikarsmentor in Genf – erhält Barth den Auftrag vom Reformierten Weltbund, für den im Sommer 1925 bevorstehenden General Council in Cardiff über «Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses» nachzudenken.63 Zwei Jahre zuvor hatte Barth auf die Möglichkeit eines neuen Bekenntnisses verwiesen64, um einer nicht an der Bibel kritisch zu messenden Erstarrung der Lehre zu wehren; er nimmt diesen Gedanken auch jetzt nicht zurück65, trägt aber nun ernste Bedenken gegen ein «allgemeines reformiertes Bekenntnis» vor: Einerseits sei ein – reformiertes – Bekenntnis nicht die Definition einer konfessionellen Eigenart, sondern Stimme der una sancta ecclesia, andererseits könne es kein allgemeines Bekenntnis geben, da immer konkret lokal und aktuell bekannt werden müsse: «Wir, hier, jetzt – bekennen dies!»66 Diese Einsichten führten dann auch zu der von Barth doch wohl positiv verstandenen «bunten unbekümmerten Krähwinkelei |87| der reformierten Konfessionen».67 Als dritten Einwand formuliert Barth die Frage, ob man wirklich um Gottes (!) willen jetzt zu reden habe, nicht jedoch aus kirchenpolitischen oder anderen Gründen.68
Deutlich dürfte durch die Hinweise auf diese beiden Vorträge Barths69 geworden sein, dass bei aller Hinwendung zur reformierten Tradition Niesel doch von Barth übernommen haben dürfte, dass es bei der konfessionellen Selbstbestimmung immer um die gesamte Kirche zu tun ist und |88| dass diese Bestimmung und die Erneuerung der Kirche letztlich nicht anders als allein in Gottes Offenbarung, für die der Name Jesus Christus steht, zu begründen ist. Analog zum reformierten Verständnis der Bestimmung von «Kirche» und «Gemeinde» könnte hier formuliert werden: «Konfession» ist nicht etwa eine Teilmenge von «Kirche», sondern sozusagen ihre notwendige Form. «Kirche» existiert nicht anders als in Form von «Konfession», und in jeder «Konfession» existiert die ganze «Kirche». Nach Niesel sind «die Reformierten eine Konfession […], die keine Konfession sein [will]», wie er wenige Jahre nach dem Kirchenkampf resümieren konnte.70
4. Orientierungspunkte: Glaubensgehorsam und Gemeinschaft mit Christus
Auch und gerade nach dem Ende des Krieges steht die Arbeit des Theologen und Kirchenpolitikers Wilhelm Niesel unter der Überschrift «Reformiert? Jawohl, reformiert!»71 Anhand zweier mehrfach gehaltener Vorträge, die von Niesel selbst ausgewählt wurden, um in einem repräsentativen Sammelband – als er mit der Wahl zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes den Zenit seines Wirkens erreicht hatte – wieder abgedruckt zu werden, und anhand eines Abschnitts aus seiner Konfessionskunde soll dargelegt werden, wie gradlinig Niesel frühere Positionen auch unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen weiterhin vertreten konnte, wie er aber auch sowohl ein reformiertes Charakteristikum profiliert als auch ein Theologumenon so betont, dass es geradezu als theologisches Erbe Niesels gelten kann.
4.1 Glaubensgehorsam
4.1.1 Darstellung
In seinem Vortrag «Reformiertes Bekenntnis heute» (1955)72 wiederholt Niesel bereits bekannte Positionen, expliziert diese jedoch in durchgehender |89| Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung: «Reformiert» hiesse genauer gefasst «nach Gottes Wort reformiert», also gelte allein das «Wort Gottes» und keine Konfession. Richtschnur sei – gemäss der 1933 erinnerten ersten Berner These – die 1934 bekannte erste These der Barmer Theologischen Erklärung: «die Gegenwart Christi in seinem Wort».73 An dieser Richtschnur müssen sich auch die daraufhin nachgeordneten Bekenntnisschriften relativieren lassen. Stärker als dies vorher in einem totalitären Staat realistisch