hat Noordmans einen wichtigen Beitrag zum Durchdenken des Themas «Reformierte Identität» geliefert. Wie erwähnt ist in seinem theologischen Denken die Anthropologie in der Pneumatologie aufgenommen. Reformierte Identität heisst: dynamische, geistgewirkte Identität. Sie entsteht in der Glaubensentscheidung, mitten im Leben – die aktive Seite. Sie zeigt die schöpferische Wirkung des Gotteswortes im Leben des Menschen und der Welt – die passive Seite. Der pneumatologische Ansatz besagt, dass der Mensch viel mehr ist als eine (aristotelisch/cartesianisch verstandene) Selbstreferentialität, weil er im Kraftfeld des Geistes existiert, Christus anhaftend: königlich, prophetisch, priesterlich. Reformierte Identität heisst beteiligt sein an der Neuschöpfung, der Umsetzung aller Dinge – der Geburt von Gottes Welt.
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«Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland»1
Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel (1903–1988)*
Hans-Georg Ulrichs
1. Wilhelm Niesel: Repräsentant des deutschen Reformiertentums in globalen Kontexten
Nur wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1988 erhält Wilhelm Niesel zu seinem 85. Geburtstag einen offiziellen Geburtstagsgruss der deutschen Reformierten durch den damaligen Moderator des Reformierten Bundes, Hans-Joachim Kraus: Niesel «hat uns bewusst gemacht, was ‹reformiert› heisst: Das Wort, das Wort und nichts als das Wort!»2 Dieser Gruss spiegelt möglicherweise mehr das Selbstverständnis des Geehrten wider als die Wertschätzung, die ihm gewiss auch zukam – und natürlich haben sich die Reformierten auch unter Niesels Führung mit zahlreichen anderen Dingen |72| beschäftigt als mit dem «Wort» allein. Auf jeden Fall lässt dieser Geburtstagsgruss ahnen, dass Niesel bereits zu Lebzeiten über Jahrzehnte hin als die Personifizierung des reformierten Protestantismus in Deutschland galt und in der Retrospektive als der einflussreichste Repräsentant dieser Konfession zu identifizieren ist. Durch sein ökumenisches Engagement auf globaler Ebene und seine bald führende Mitarbeit im Reformierten Weltbund (RWB), die von seiner Präsidentenzeit 1964–1970 gekrönt wurde, wurde diese Einschätzung auch weltweit geteilt. Kaum jemand galt in der reformierten Weltfamilie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als so reformiert wie Wilhelm Niesel. Bezeichnenderwiese schrieb etwa nach Niesels Ehrenpromotion 1954 der Dekan der theologischen Fakultät Aberdeen an Niesel, er sei in Schottland willkommen, «weil Sie die reformierten Brüder aus ganz Deutschland würdig repräsentieren».3 Und so wurde aus dem «Eisernen Wilhelm», wie er respektvoll in Deutschland genannt wurde, der «Welt-Wilhelm».4
Niesel ist eine bemerkenswerte Figur innerhalb der neueren reformierten Kirchengeschichte, deren Weg zu kennen für die Beurteilung dieses zur Rede stehenden protestantischen Formats erhellend ist.
Niesel verdiente sich durch seine wissenschaftlichen Arbeiten und die persönliche Nähe zu Karl Barth seine theologischen Sporen kurz vor dem und im «Dritten Reich» und sammelte kirchenpolitische Erfahrungen – freilich bis hin zu lang anhaltenden «Traumatisierungen» – während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Führend tätig und damit auch konfessionspolitisch prägend wurde Niesel trotz seines relativ jungen Alters gleich nach 1945, also in einer «durch einen eisernen |73| Vorhang getrennten Welt»5, die er – gerade wohl auch als geborener Berliner – schmerzhaft wahrnahm. Die totalitären Diktaturen und dann die in Ost und West zerrissene Welt liessen in ihm die Gewissheit wachsen, dass die Menschen zwar «in der noch nicht erlösten Welt» (Barmen V) leben, aber Christen eben in dieser Welt die Befreiung erfahren, indem Jesus Christus Zuspruch und Anspruch auf das ganze Leben ist (Barmen II).
2. Biographischer Überblick6
2.1 Herkunft und theologische Ausbildung
Niesel wurde am 7. Januar 1903 in Berlin geboren und katholisch getauft. Im Jahre 1918 wurde er durch Günther Dehn konfirmiert7, der ihn in den jugendbewegten Neuwerk-Kreis und zum Studium der evangelischen Theologie brachte. Nach dem Abitur 1922 studierte Niesel zunächst zwei Semester in Berlin (u. a. bei Adolf von Harnack, der damals mit Barth über die Wissenschaftlichkeit der Theologie stritt8), sodann ein Semester in Tübingen und schliesslich von Oktober 1923 bis August 1925 in Göttingen bei Barth.9 Nach dem Ersten Theologischen Examen vor dem Konsistorium der Mark Brandenburg lebte Niesel von Dezember 1926 bis zum Oktober 1928 bei Peter Barth in Madiswil (Schweiz) und arbeitete mit ihm an der Herausgabe der «Opera selecta» Calvins.10 Karl Barth nannte dies |74| das Madiswiler «Calvinlaboratorium».11 Seitdem und nach Peter Barths Tod 1940 als alleiniger Herausgeber erarbeitete Niesel sich die Schriften Calvins und durfte wohl als einer der besten Calvin-Kenner im deutschsprachigen Raum gelten. Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster promovierte ihn 1930 mit einer Arbeit über Calvins Abendmahlslehre12 und einer Vorlesung über Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition.13 Doktorvater war Karl Barth.14
2.2 Kirchenkampf15
Nach einem Jahr im reformierten Predigerseminar in Elberfeld, einem kurzen Vikariat in Wittenberge und dem Zweiten Examen wurde Niesel 1930 als Pastor und Studieninspektor des Elberfelder Predigerseminars gewählt und somit Mitarbeiter von D. Hermann Albert Hesse, der ab Januar 1934 für den entschiedenen kirchenpolitischen Kurs des Reformierten Bundes verantwortlich war.16 Daneben unterrichtete Niesel gelegentlich |75| an der Theologischen Schule Elberfeld, die von Otto Weber (1902–1966)17 geleitet wurde. Hier begann Niesel mit Vorlesungen über Calvin, deren Resultat u. a. seine «Theologie Calvins»18 wurde. Niesel forschte Zeit seines Lebens über Calvin, auch wenn die späten Arbeiten kaum noch Neues boten.
Niesel erlebte zwölf Jahre Kirchenkampf. Bereits im Frühjahr 1933 nahm er an der Rheydter Versammlung teil, erarbeitete die Düsseldorfer und Elberfelder Thesen mit, war Gründungsmitglied des Gemeindetages unter dem Wort und des Coetus reformierter Prediger Deutschlands und natürlich Hesses Berater.19 An der Barmer Synode nahm Niesel als «Beobachter» teil und gehörte zu dem Ausschuss, der der Barmer Theologischen Erklärung die letztgültige Form gab. Niesel konnte Barmen später «eine […] Sternstunde der Kirche»20 nennen.
Seit Mai 1934 war er Mitglied im Bruderrat der altpreussischen Bekennenden Kirche (BK). Zum Herbst 1934 wechselte er als reformierter Referent zum Präses der Bekennenden Kirche, Karl Koch, nach Bad Oeynhausen (neben Hans Asmussen als lutherischem Pendant21) und 1935 als |76| «Geschäftsführer» des Bruderrates der Evangelischen Kirche der Altpreussischen Union (ApU) nach Berlin. In Berlin war er massgeblich an den Entwicklungen in der ApU beteiligt.22 Bleibenden Einfluss sicherte sich Niesel durch seine Vorarbeiten zur Zweiten freien reformierten Synode im März 1935 in Siegen, auf der der Anstoss zur Gründung Kirchlicher Hochschulen gegeben wurde.23 Seit dem Wintersemester 1935/1936 lehrte Niesel Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Dahlem, praktisch seit dem ersten Semester im Untergrund. Wie bereits im Rheinland leitete er in Berlin-Brandenburg das Ausbildungsamt der Bekennenden Kirche.24
Der Kirchenkampf war nicht allein eine theologische Auseinandersetzung in den Jahren 1933 und 1934, deren strittige Fragen dann mit Barmen haben geklärt werden können. Der reale und Existenz bedrohende Kampf des nationalsozialistischen Gewaltstaates gegen den christlichen |77| Glauben führte zu wachsenden Repressionen: Zunächst die offene Propagierung des «Neuheidentums» seit 1935, sodann die Einsetzung der Kirchenausschüsse und Hanns Kerrls und schliesslich die wachsende Verfolgung von Christen durch den totalitären Staat, die als immer bedrohlicher empfunden wurde. Deshalb wurde das erste Jahr der massiven Repressionen (1937)