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Reformierte Theologie weltweit


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II).74 Niesel deutet das «frei» natürlich nicht auf eine gewisse Freiheit ethischen Ur­teilens, sondern als Freiheit zum Dienst auch für andere: Jesu Anspruch «heute zu bewähren», kann eben nicht bedeuten, wie «man von lutheri­scher Seite schon wieder [!] ethische Entscheidungen dem Ermessen des Einzelnen zuschiebt […], anstatt zum Gehorsam zu rufen».75 Gottes Zu­spruch und Gottes Anspruch würden gelebt in der Gemeindekirche ohne jegliches weltliches «Führerprinzip», «in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt» (Barmen III). Die «Botschaft von der freien Gnade Gottes» sei an alle Welt, «an alles Volk [auszurichten]» (Barmen VI). Daher seien der Christ und die Kirche verpflichtet «zum Dienst in der Welt auf allen Gebieten des Lebens».76 Auch wenn keine parteipolitischen Optionen möglich seien, so doch politische Lobby-Arbeit, indem Staatsmänner und alle durch die Kirche «an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit» erinnert würden (Barmen V).

      Niesel sah entsprechend zum in Anspruch nehmenden Gott den Glauben nicht zuletzt als «Gehorsam» gegen Gottes Wort.77 Dieser Dual von «Zuspruch und Anspruch» und «Glauben und Gehorsam» findet sich prononciert im Vortrag «Das Zeugnis der reformierten Kirchen in der |90| Welt von heute» (1954).78 Nach sehr ähnlichen Bezügen auf die Barmer Theologische Erklärung rekurriert Niesel hier mehr auf die Christuszent­rierung und die «Dankbarkeit» des Heidelberger Katechismus: «Der viel besprochene Aktivismus der reformierten Kirchen hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass alle, die Christi eigen sind, ohne Bedenken und Zwei­fel ans Werk gehen und sich darin als Eigentum Christi und Kinder Got­tes erweisen können.»79 Niesel nennt die in Ost und West getrennte Welt und die Massenvernichtungswaffen: «[D]en «Mächten der Finsternis» möge man durch «festen Widerstand» nicht unterliegen.80

      4.1.2 Kritik und Würdigung

      Hatte sich Niesel während des Kirchenkampfes an Barths Überlegungen gehalten, dass es sich bei der Bestimmung der je eigenen confessio um das richtige Bekenntnis der – einen – Kirche handelte und damit um das je aktuelle Bekennen, das sich alleine auf die Schrift zu beziehen habe, so schrieb Niesel diese klare Position auch nach 1945 fort und geriet damit nolens volens selbst in eine gewisse Kirchenkampf-Orthodoxie: Bei späte­ren Bestimmungen des Reformierten setzte er Barmen als normativ vo­r­aus. Die von ihm mit Selbstverständlichkeit genannten «Väter» aus der reformierten Tradition wurden je länger je abständiger. Niesel meinte damit nicht die Pluralität der reformierten Tradition, sondern lediglich diejenigen Väter, die aus seiner Perspektive mit Johannes Calvin zusam­men zu denken waren. So las Niesel sowohl den Heidelberger Katechis­mus als auch Karl Barth fast ganz von Calvin her81 – andere reformierte |91| Stim­men fanden nahezu kein Gehör, höchstens einige Aussenseiter oder solche, die gegen aufgeklärt-liberal-moderne Theologien ins Felde geführt werden konnten, etwa Hermann Friedrich Kohlbrügge oder Paul Geyser. Niesel hatte mit dieser schroffen Theologie gute Erfahrungen im «Dritten Reich» gemacht, schaute zurück auf die «Zeit, die das Führerprinzip pro­klamierte», «als Christus […] sich an uns lebendig erwies».82 Diese für Nie­sel geschichtlich verifizierte und erfahrene Offenbarungstheologie hat­te sich als Grundlage für einen klaren Widerspruch gegen häretische Theo­logien bewährt. Dieser Widerspruch konnte, musste allerdings nicht auch automatisch zu einem Widerspruch gegen das NS-Regime führen, wie in der historischen Analyse festgestellt werden muss. Aber es war doch mindestens ein Unbehagen gegen die Grundlagen des totalitä­ren Weltanschauungsstaates zu spüren. So war ihm der «Kirchenkampf» geradezu die idealtypische Situation der treuen Kirche. Mit diesem Be­kenntnisgestus gestaltete Niesel auch seine Kirchenpolitik während des «Kalten Krieges», denn «das Zeugnis der Bekennenden Kirche [hat] sich in all den Jahren bis auf den heutigen Tag [sc. Mai 1964] als befreiendes Wort bewährt».83 «Zeugnis» ist eine religiöse Kategorie und spielt im Zusam­menhang mit der Bekennenden Kirche sicherlich nicht unabsicht­­lich auf martyrein an: das mit dem Leben und der Lebenshingabe be­zeug­­­te und bewahrhei­tete Bekennen zu Jesus Christus als dem Herrn.

      Nicht, dass Niesel als Erbe der reformierten Tradition und der Beken­nen­den Kirche nun die «Heiligung» als zentral ansieht oder dass er dies als «Glaubensgehorsam» bestimmt, ist problematisch. Bereits sein Vortrag auf der Freien refor­mierten Synode in Barmen im Januar 1934 trug diese |92| Kon­sequenz im Titel: «Der Weg der Kirche im Gehorsam des Glau­bens».84 Niesel steht damit theologisch und kirchenpolitisch in gut refor­mierter Tradition. Auch Niesels theologischer Lehrer Barth hatte «Glaube und Gehorsam» in seinen Vorträgen und den ersten dogmatischen Ent­wür­fen der 1920er Jahre positiv als reformiertes Charakteristikum be­­­­­nannt.85 Ebenso hatte Niesels kirchenpolitischer Ziehvater Hermann A. Hes­se gar ganze Jahre unter das Motto «Gehorsam des Glaubens» stellen können.86

      Problematisch scheint dagegen, dass erstens der Begriff «Gehorsam» durchaus anachronistisch klingt. Wie soll dieser Begriff mit seinen Kon­notationen ein Leitbegriff der theologisch-ethischen Meinungsbildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder im dritten Jahrtausend sein können? Sachlich problematischer scheint zweitens die missverständliche Deutung, als ob einfach alle zu entscheidenden Fragen des praktischen Lebens aus dem Glauben abzuleiten wären, quasi ohne Bruch, so dass in einem permanenten Prozess des Bekennens sich zwangsläufig die Frage des status confessionis ebenso ständig stellt.87

      Konfessionskundlich werden die Reformierten durchaus positiv cha­rakterisiert, was ihre Wahrnehmung des «Wächteramtes» anlangt, aller­dings:

      «Der Weg von prophetischer Gesellschaftskritik zum konkreten ethi­schen Argument erweist sich […] als schwierig. Ein kerygmatisches Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags und ein dialog­orien­tiertes liegen im Streit miteinander.»88 |93|

      Ethisches Urteilen muss unabdingbar die zu beurteilende Situation zu­nächst wahrnehmen und interpretieren. «Da sich in ethischen Urteilen ein normatives Element mit empirischer Situationseinschätzung verbindet, sind sie nicht […] linear aus theologischen Prämissen zu deduzieren.»89 Damit wird auch hinter Barths Rede von der «schnurgeraden» Herleitung ethisch-politischer Positionen ein Fragezeichen gesetzt, die er in seinen Schrif­ten «Rechtfertigung und Recht» und «Christengemeinde und Bür­gergemeinde» und anderenorts dargestellt und ausgeführt hatte.

      Bei aller «Orthodoxie» glänzt allerdings bei Niesel auch ein überra­schender dynamischer Zug auf, der dann eine der grossen Innovationen der reformierten Theologie und darüber hinaus werden sollte. Der ty­pisch reformierte Zug zu den Taten aus dem Glauben wird nicht etwa nur rechtfertigungstheologisch und daraus abgeleitet über den tertius usus legis erklärt, sondern eschatologisch:

      «[U]nser unvollkommener täglicher Dienst [ist] eingeordnet […] in die neue Schöpfung, die der wiederkommende Herr heraufführen wird. Weil das geschehen wird, weil der wiederkommende Christus der ge­quälten Menschheit die Erlösung bringen wird, können wir heute nicht nur voller Zuversicht zur vergebenden Gnade Gottes unser Tagwerk tun, sondern auch voller Freude auf die Vollendung in Christus.»90

      Wer denkt bei einer solchen theologischen Begründungsumkehrung nicht sofort an Jürgen Moltmann? Moltmann und Niesel haben interessante Berührungspunkte gehabt. So erinnert sich Moltmann an die gemeinsam mit Niesel an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal verlebte Zeit, wo er selbst zunächst vor allem theologiegeschichtliche Vorlesungen hielt – entsprechend der Themen seiner akademischen Qualifikationsarbeiten –, um sich nach einigen Jahren auch der aktuellen Debatte zuzuwenden:

      «1963/64 trug ich dann meine Theologie der Hoffnung in Wuppertal und zugleich in Bonn vor […] Wilhelm Niesel ermahnte mich, er sei hier |94| [sc. in Wuppertal] der Vertreter für die reformierte Theologie, ich solle mich auf die Theologiegeschichte beschränken.»91

      Niesel war möglicherweise auch wegen des universitären Erfolgs des jungen Kollegen etwas verschnupft. Interessanter ist jedoch, dass der alte Haudegen diese theologische Neukonzeption Moltmanns als reformiert identifizieren konnte. Ob Niesel mehr als andere gesehen hat, dass Moltmanns mutiger Entwurf auch auf dem Hintergrund von dessen the­ologiegeschichtlichen Studien zu sehen ist, in denen er sich nicht zuletzt der reformierten Föderal­theo­logie gewidmet hatte?92 Auch weiterhin begleitete Wilhelm Niesel den fast eine Generation jüngeren Jürgen Moltmann eher mit Wohlwollen: «Niesel blieb