Er sagte nichts. Das musste er nicht. Miles war niemand, der viel redete, wenn er uns stattdessen etwas beibringen konnte.
Ich brauchte Jahre, um zu verstehen, was in dem Moment auf der Bühne geschehen war. Sobald ich den Akkord angeschlagen hatte, bewertete ich ihn. Meiner Auffassung nach war es ein „falscher“ Akkord. Miles hingegen fällte kein Urteil – er hörte einen Klang, der gerade entstanden war, und interpretierte ihn als eine Herausforderung, als eine Frage des: „Wie kann ich den Akkord in das integrieren, was wir gerade spielen?“ Und weil er nicht bewertete, konnte er damit umgehen, daraus etwas Neues und Erstaunliches entstehen lassen. Miles vertraute der Band, er vertraute sich selbst, und er ermutigte uns, diesem Beispiel zu folgen. Das war eine der zahlreichen Lektionen, die ich von ihm lernte.
Wir alle haben die allzu menschliche Tendenz, den sicheren Weg einzuschlagen – das zu machen, von dem wir wissen, dass es funktioniert –, und verpassen damit die sich bietenden Chancen. Doch das ist die Antithese des Jazz, der von der Präsenz des Augenblicks lebt. Beim Jazz erlebt man den Moment, und zwar in jeder Facette. Der Jazz beinhaltet das Selbstvertrauen eines Musikers, blitzschnell zu agieren. Gestattet man sich das, wird man niemals mit dem Erforschen und dem Lernen aufhören, was sowohl für die Musik als auch das Leben gilt. Ich hatte das große Glück, dies nicht nur beim Spielen mit Miles zu lernen, sondern auch in den folgenden Jahrzehnten, in denen ich Musik machte.
Und ich lerne es noch immer, jeden Tag aufs Neue. Es ist ein Geschenk, das ich niemals hätte vorhersehen können, als ich im Alter von sechs Jahren auf dem Klavier meines Freundes Levester Corley herumklimperte.
Levester Corley wohnte im selben Gebäude wie meine Familie, an der Ecke der 45st Street/King Drive in der South Side von Chicago. Wir lebten in einer armen Gegend, doch es war nicht die schlimmste in den Vierzigerjahren dort, möglicherweise eine Stufe darüber, was bedeutete, nicht in einer Sozialwohnung zu hausen, doch in der Nähe dieser Wohnprojekte. Ich habe unser Viertel damals nicht als „schlecht“ eingeordnet, obwohl es in einigen Straßen recht hart zuging. Dort gab es Gangs, und am Ende des Blocks befand sich ein baufälliges und von uns so bezeichnetes „Big House“, Slang für ein Gefängnis. Ständig hingen junge Männer vor dem Big House ab, und wenn man sie sah, wusste man, dass es ratsam war, die Straßenseite zu wechseln. Doch meist fühlte ich mich sicher und nicht bedroht. Ich nahm an, dass meine Nachbarschaft der anderer ähnelte.
Ich wurde 1940 geboren. Als ganz kleines Kind glaubte ich, wir seien reich, da uns alles zur Verfügung stand, was wir haben wollten. Wir hatten Kleidung, genügend Essen und jedes Jahr einen Weihnachtsbaum und Spielzeug. Wie hätte ich das anders empfinden können als mit dem Gefühl, „reich zu sein“? Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der außerhalb des Viertels lebte, und verglichen mit einigen anderen Familien des Blocks, schien es uns gutzugehen. Im Keller unseres Hauses wohnte eine Familie mit zehn Mitgliedern, die sich in einem einzigen Raum drängten. Im Vergleich dazu standen uns zwei Schlafzimmer für fünf Bewohner zur Verfügung – für meine Eltern, meinen Bruder Wayman, meine Schwester Jean und mich. Das fühlte sich wie purer Luxus an.
Levester wohnte auf einer anderen Etage, und als wir sechs Jahre alt waren, kauften ihm seine Eltern ein Klavier. Ich hatte es schon immer gemocht, bei Levester abzuhängen, doch als er das Klavier besaß, wollte ich permanent nur noch sein Apartment aufsuchen, um darauf zu spielen. Ich liebte das Gefühl der Tasten unter den Fingern, obwohl ich nicht so recht wusste, was ich da machte. Wir klimperten auf dem Instrument herum, und ich versuchte, richtige Songs zu spielen. Wenn ich in unsere Wohnung zurückkehrte, erzählte ich Mom davon. Nach einiger Zeit sagte sie zu Vater: „Wir müssen dem Jungen ein Klavier kaufen.“ Mit sieben Jahren schenkten sie mir ein gebrauchtes Instrument aus dem Keller einer Kirche, erstanden für ungefähr fünf Dollar.
Es stellte keine Überraschung dar, dass meine Mutter, Winnie Griffin Hancock, so versessen darauf war, mir ein Klavier zur Verfügung zu stellen. Sie zeigte sich bedacht darauf, ihren Kindern Wertschätzung für Kultur beizubringen, was auch dazu führte, dass sie mich Herbert Jeffrey Hancock nannte – nach dem afroamerikanischen Sänger und Schauspieler Herb Jeffries. Für Mutter bedeutete Kultur Musik. Sie achtete darauf, dass wir als Kinder Tschaikowsky, Beethoven, Mozart und Händel hörten. Sie liebte auch die Musik, die die schwarze Community hervorbrachte – Jazz und Blues –, und ihr lag intuitiv viel daran, dass wir eine Verbindung dazu aufbauen sollten, als Teil unseres kulturellen Erbes. Doch für sie war „gute Musik“ in erster Linie klassische Musik, und nachdem ich das Klavier bekommen hatte, schickte sie mich und meinen Bruder zum Klassikunterricht.
Das Gefühl für soziale Klasse und Kultur wurzelte in der ungewöhnlichen Kindheit von Mom im Süden. Ihre Mutter – meine Oma Winnie Daniels – wuchs unter ärmlichen Verhältnissen in Americus, Georgia, auf, in einer Familie von Kleinpächtern, die den Besitz einer reichen Familie namens Griffin bewirtschaftete. Als meine Großmutter alt genug war, heiratete sie einen der Griffin-Söhne und war somit vom Kind eines Pächters zur Frau eines Landbesitzers „aufgestiegen“. Und so lebten meine Mutter und ihr Bruder Peter in einer wohlhabenderen Umgebung als die meisten schwarzen Kids zu der Zeit.
Während ich aufwuchs, erzählte man mir immer, dass mein Großvater Griffin schwarz sei, doch auf den wenigen Fotos, die man mir zeigte, sah er gar nicht wie ein Schwarzer aus. Jahre später verriet mir Mom, dass er in Wirklichkeit ein Weißer gewesen sei, weshalb ich bis zum heutigen Tag die Wahrheit nicht kenne. Ich weiß aber, dass Großvater in den Zwanzigern sein gesamtes Vermögen verlor. Er starb kurz danach, und Oma packte ihre Sachen und zog mit der Familie nach Chicago, um von vorne anzufangen.
Es war ein harter Einschnitt in ihrem Leben. Nachdem sie in Georgia ein privilegiertes Leben genossen hatten, sahen sich meine Oma und meine Mutter gezwungen, in Chicago Arbeit als Hausmädchen anzunehmen. Mutter putzte während der gesamten Highschool-Zeit die Häuser weißer Familien, was sie verständlicherweise hasste. Sie verbrachte zwei Jahre auf dem College, und das ermöglichte ihr dann, eine Anstellung als Sekretärin anzunehmen. Schließlich war sie als Beraterin für das Arbeitsministerium des Bundesstaates Illinois tätig. Mom arbeitete hart und zog ihre drei Kinder in dem Glauben auf, dass wir etwas Großartiges erreichen könnten.
Das war die positive Seite meiner Mutter. Doch es gab auch eine andere Seite. Sie litt unter einer bipolaren Störung, was wir damals nicht einordnen konnten. In jenen Tagen benutzten die Leute nur Umschreibungen wie „starrsinnig“ und „aufgekratzt“. Sie verlor sich in Auseinandersetzungen mit Familienmitgliedern, schlimmen Streitigkeiten, bei denen sie schrie, weinte und so lange wütete, bis man die geschwollenen Adern an ihrem Hals entdeckte. In unserem Haus lief alles nach dem Willen meiner Mutter ab, oder aber man musste sich aus dem Staub machen, doch Dad tat ihre Tobsuchtsanfälle ab und meinte: „So ist Winnie nun mal.“ Er liebte seine Frau sehr und neigte dazu, sie auf ein Podest zu stellen, da Mutter sich auf eine würdevolle Art durchs Leben schlug. Doch er wusste, dass man ihr nicht in die Quere kommen durfte. Wann immer wir ihn um etwas baten, antwortete er schnell: „Geht und fragt eure Mutter.“
Mein Vater lässt sich als ein liebenswerter, unkomplizierter Mensch beschreiben, die Art von Mann, der in jeder Gruppe Witze riss. Er wurde von Oma und Opa Hancock aufgezogen, doch kaum jemand ahnte, dass er nicht unter dem Namen Hancock geboren worden war, denn er erblickte das Licht der Welt während der ersten Ehe von Großmutter, die damals mit einem Mann mit Nachnamen Pace verheiratet war. Ich weiß nichts über meinen Großvater Pace, abgesehen davon, dass Oma ihn immer als schlechten Kerl beschrieb. Sie verließ ihn und heiratete Louis Hancock, der Vater adoptierte und ihm seinen – und nun meinen – Namen gab.
In seiner Jugend wollte Vater Arzt werden, doch für eine arme schwarze Familie aus Georgia stand das in den Dreißigern völlig außer Frage. Es gelang ihm noch nicht einmal, die Highschool zu beenden, denn nach einer Familiendiskussion hinsichtlich der Finanzen musste er bereits nach dem zweiten Jahr abgehen. Zu dem Zeitpunkt war die Familie schon nach Chicago gezogen, und Dad wusste, dass seine beiden jüngeren Brüder das College besuchen könnten, würde er nur hart genug arbeiten. Er opferte also seine eigene Ausbildung zugunsten der seiner Brüder. Schon als Teenager arbeitete er in einem Gemischtwarengeschäft. Obwohl er niemals wieder die Schule besuchte, gelang es ihm schließlich, einen eigenen Laden zu eröffnen.
Unglücklicherweise verhielt er sich zu großzügig