Lisa Dickey

Möglichkeiten


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auch wenn es so gewesen sein mag, tat ich mein Bestes, um darüber hinwegzusehen. Ich fällte in der Highschool die bewusste Entscheidung, die verschiedenen ethnischen Herkünfte nicht zu fokussieren – so es mir möglich war. Aber natürlich existierte Rassismus, und in den Fünfzigern machten gelegentliche Anfeindungen einen Teil des amerikanischen Alltags aus. Man musste nicht danach suchen, denn er war omnipräsent und reichte von Weißen, die hinsichtlich des Lohns, der Anstellung und der Wohnungssuche bevorzugt wurden, bis hin zu Weißen, die einen Schwarzen als „Boy“ beschimpften. Doch schon früh realisierte ich die Wahlmöglichkeiten: Der einfachste Weg bestand darin, sich zurückzulehnen und rassistische Anfeindungen zu erwarten – die Ungerechtigkeit und die bösen Absichten bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorherzusehen, sich selbst zu sagen: Ich bin schwarz und werde niemals gerecht behandelt werden, und das Leben dementsprechend auszurichten. Ich hingegen fällte eine gegensätzliche Entscheidung.

      Einige Schwarze suchten den Rassismus regelrecht, doch für mich war es wichtig, ihn nicht zu beachten, da die Erwartungshaltung mental auf eine Opferrolle vorbereitete, die keinem half. Diese Opfermentalität grassierte in unserem Viertel, doch es gelang mir, einen Weg dort heraus zu finden. Das ließ sich teils auf meine Eltern zurückführen, die uns drei in dem Glauben erzogen, dass wir alles erreichen könnten, wenn wir uns nur stark genug konzentrierten. Doch auch meine eigene Neugierde trieb mich zu einem anderen Verhalten an. Als ich die Highschool begann, umgaben mich erstmalig in meinem Leben unterschiedlichste Menschen. Doch statt mich wie ein Außenseiter zu fühlen oder als ein Mensch, der von den anderen beurteilt wird, wollte ich alles über sie wissen.

      Nachdem ich ausschließlich unter Schwarzen aufgewachsen war, hatte ich plötzlich jüdische, italienische und asiatische Freunde – und wusste überhaupt nichts über ihre Kulturen. Ich wollte ihnen bei Gesprächen zuhören, sehen, wie sie lebten, und etwas über ihren Glauben erfahren. In der Hyde Park blieben die meisten ethnischen Gruppen unter sich, doch ich ahnte, dass ich mich nicht auf die Gruppe der Schwarzen beschränken sollte.

      Eine meiner ersten Freundinnen war weiß, ein Mädchen namens Barbara Laves, die im Orchester Violine spielte. Sie war eine süße Brünette mit atemberaubenden hellblauen Augen, und ich brachte sie jeden Tag nach der Schule nach Hause. Barbara und ich blieben allerdings nicht allzu lange zusammen. Ich ging auch mit schwarzen Mädchen aus, darunter mein bevorzugtes Date Peggy Milton, doch ich belastete mich nie großartig mit Gedanken an ethnische Zugehörigkeit. Wenn ich ein Mädchen mochte, warb ich um ein Rendezvous. Und wenn andere Leute damit ein Problem hatten – tja, entweder wusste ich nichts davon oder, was noch wahrscheinlicher war, ich schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.

      Meine Eltern versuchten eine Zeitlang, uns in Kirchengänger zu verwandeln, doch ohne großen Erfolg. Zuerst schleppten sie uns in die Ebenezer Baptist, eine von Dutzenden Baptistenkirchen, die sich in der South Side breitgemacht hatten. Die Musik war fantastisch. Es gab einen Gospelchor für Kinder und Jugendliche und einen für Erwachsene. Ich mochte besonders den Teil des Gottesdienstes, in dem sie sangen. Allerdings durchzogen die Predigten Feuer, Pech und Schwefel, was weder mich noch meine Mutter ansprach. Bei einem Priester, der ständig Hölle und Verdammnis zitierte, lernte man nicht viel.

      Daraufhin brachten sie uns in eine African Methodist Episcopal Church, nur wenige Blocks entfernt. Auch dort gefielen mir die Chöre, doch nicht die religiösen Lieder. Allerdings widersprach mir die Botschaft, die auf der Vorstellung von Himmel und Hölle und von Vergeltung und Bestrafung beruhte. Offensichtlich ging es meinen Eltern ähnlich, denn als Nächstes suchten wir eine Kirche der Unitarier auf, wo niemand Feuer, Pech und Schwefel predigte. Mutter mochte die Glaubensgemeinschaft, denn sie war offen und schien auf einer intellektuellen Basis – und keiner emotionalen – zu beruhen. Dennoch besuchten wir auch diese Kirche nicht allzu lange.

      Mich sprach keine der Religionsgemeinschaften an, doch als Kind war ich immer neugierig, was die große und bedeutende Frage der Existenz betraf. Abends, wenn mein Bruder schon eingeschlafen war, setzte ich mich oft auf die Fensterbank, schaute zu den Sternen hoch und dachte über den Tod, das Leben und das Universum nach. An einem bestimmten Punkt angelangt, kam ich zu der Überzeugung, dass wir nach dem Tod als andere Wesen erneut wiederkehren würden. Jahre später erfuhr ich, dass darin der Glaubenskern des Buddhismus bestand.

      Die Vorstellung von Himmel und Hölle ergab niemals einen Sinn für mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man nach dem Tod erlischt und dann an einem unbekannten Ort wieder auftaucht. Materie und Energie wandelten sich, doch verschwanden nicht: Aus dem Samen wird ein Baum, aus dem Baum ein Stuhl, aus dem Stuhl wird Asche, wonach der Zyklus erneut beginnt. Ich empfand es schlichtweg als unlogisch, dass unser Leben und der Tod sich davon unterscheiden sollten.

      So arbeitete mein Verstand. Es war die Suche nach der logischen Sequenz der Dinge. Als Kind liebte ich die Mechanik und die Wissenschaften und verbrachte Stunden mit dem Auseinanderbauen von Uhren und Toastern, da ich ein drängendes Bedürfnis verspürte, ihre Funktionsweise exakt kennenzulernen. Mich zog der rationale Zusammenhang der Systeme an, ich war verzaubert von der Vorstellung, dass das Zerlegen eines Objekts zu einem umfassenden Verständnis desselben führt.

      Eines Tages in der Highschool entschied ich mich dazu, diese Art der Logik auf andere Lebensbereiche zu übertragen. Ich hatte etwas angestellt, das meine Eltern verärgerte, und sie wollten mich als Strafe nicht zu einer Party gehen lassen, auf die ich mich schon lange freute. Die Strafe erschien mir ungerecht, und ich war wütend. Das Gefühl des Zorns überkam mich nur selten, doch das hier schien so unberechtigt zu sein, dass ich regelrecht überschäumte. Ich stand vor einer Art unüberwindbarer Barriere, fühlte mich hilflos und wegen der Ungerechtigkeit beinahe schon als Opfer. Es brodelte tagelang in mir.

      Am Tag der Party saß ich niedergeschlagen in meinem Zimmer und kam zu dem Entschluss: Okay, ich werde jetzt rational darüber nachdenken, was hier vor sich geht. Dann entschied ich mich, die Situation wie ein mechanisches Objekt auseinanderzunehmen und sie zu analysieren. Die Party begann um zweiundzwanzig Uhr, und ich müsste sie schon wieder um Mitternacht verlassen, da ich nie länger ausbleiben durfte. Das waren also zwei Stunden meines Lebens, und danach würde ich mich wie eh und je mit anderen Dingen beschäftigen, egal, ob ich nun bei der Party gewesen war oder nicht. Plötzlich wurde mir alles klar: Ich muss nur diese zwei Stunden überstehen, und dann geht das Leben wieder seinen normalen Gang.

      Ich verhielt mich dementsprechend. Von zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Uhr las ich in Büchern, hing in meinem Zimmer ab, und nach Mitternacht war alles überstanden. Ich fühlte mich nicht mehr wie ein Opfer, sondern war stattdessen stolz auf mich. Ich hatte die Kontrolle über meine Emotionen erlangt und einen Weg gefunden, den Ärger zu umgehen. Von dem Zeitpunkt an gab es keine Möglichkeit mehr, mich zu bestrafen, da mir klargeworden war, dass ich allein die Verantwortung für die Reaktion auf eine gegebene Situation trug.

      Das stellte eine großartige Entwicklung dar. Ich würde mich niemals mehr von externen Faktoren zum Opfer machen lassen, da mir die Kontrolle oblag, in welchem Umfang sie mich emotional beeinflussten. In vielerlei Hinsicht war das eine nützliche und hilfreiche Charakterentwicklung, die ich aber im Laufe der Zeit bis zum Extrem ausreizte und mich somit desensibilisierte. Ich bin niemals ein besonders gefühlsbetontes Kind gewesen, doch von der Highschool an hielt ich meine Emotionen im Zaum. Ich weinte fast nie, egal, wie traurig oder aufgewühlt ich mich fühlte. Wenn mich etwas zu stark negativ berührte, machte ich eher „zu“, als die unangenehmen Gefühle wahrzunehmen.

      Doch es gab eine schreckliche Ausnahme. Es geschah zu Beginn meines letzten Highschool-Jahres – der Mord an Emmett Till.

      Emmett Till war vierzehn, nur ein Jahr jünger als ich, und stammte auch aus der South Side von Chicago. Im August 1955 reiste er nach Mississippi, um Verwandte zu besuchen. Seine Mutter hatte ihn vor der Abreise vor den krassen Diskrepanzen zwischen dem Norden und dem Süden der USA gewarnt, ihn darauf hingewiesen, sich angemessen zu verhalten. Doch als Till und einige Freunde in ein Geschäft gingen, um Süßigkeiten zu kaufen, forderte ihn einer der anderen Jungs heraus, die einundzwanzigjährige weiße Verkäufern Carolyn Bryant anzusprechen. Offensichtlich pfiff er ihr nach und gab damit vor den Freunden an. Als Bryant ihrem Mann Roy davon erzählte, entschied der sich für Vergeltung.

      Wenige Tage später kidnappten Roy Bryant und einige andere