mich bald mit anderen Pianisten wie Erroll Garner und Oscar Peterson. Je mehr ich lernte, desto mehr wollte ich lernen!
Aufgrund meiner individuellen Auffassungsgabe erkannte ich Muster schnell. Ich spielte eine Tonfolge, schrieb sie auf und dachte: Warte mal – er hat die Noten doch schon bei einer früheren Phrase des Songs benutzt. Ich wusste nichts über den Aufbau des Jazz, und somit musste ich es mir beim Üben selbst zurechtlegen. Auf mich wirkte die Improvisation wie ein sich dahinziehender Bewusstseinsstrom, was jedoch nicht der Realität entsprach, da sie in einem bestimmten Ausmaß organisiert war.
Trotz der Tatsache, dass ich Klassik gut spielte, war mein Wissen hinsichtlich anderer musikalischer Formen recht begrenzt. Ich kannte zwar Dur- und Mollakkorde, doch musste mir alles andere selbst beibringen, weshalb ich viel Zeit damit verbrachte, mich in der Schule mit anderen Kids zu unterhalten, die auf den Stil abfuhren, darunter Don Goldberg und Ted Harley, der Waldhorn spielte. Die beiden waren gute Musiker. Don wurde später professioneller Komponist und Arrangeur, änderte seinen Namen in Don James und arbeitete bei großen Shows wie der Eiskunstlaufrevue „Ice Capades“ und Baryshnikov On Broadway. Die Gespräche mit Don und Ted halfen mir dabei, mehr über die Theorie und die Struktur der Improvisation zu erfahren.
Werde ich gefragt, wie man das Improvisieren lernt, gebe ich immer denselben Ratschlag, den Don mir damals gab: Finde einen Musiker, den du magst, und kopiere dann seinen oder ihren Stil. Dieser analytische, beinahe mechanische Ansatz wird dir das Erlernen der Grundlagen ermöglichen. Doch nachher besteht die große Kunst darin, nicht im Kopieren stecken zu bleiben, sondern einen eigenen Weg zu finden. Man muss damit beginnen, eigene Melodielinien zu kreieren, die eigene Stimme auszubilden.
Wenn du dir eine bestimmte musikalische Form vornimmst – sagen wir mal einen 32-Takter –, spielst du zuerst die Melodie, quasi den Überbau, und danach improvisiert man zu der speziellen Akkordstruktur. Innerhalb der Struktur besteht viel Freiheit – der Raum, der Rhythmus, die Akkorde sowie die Schattierungen. Egal, was du spielst, was Moment für Moment aus dir herauskommt: Es ist ein Ausdruck, geprägt von einer Kombination verschiedenster Elemente, die auch – falls du mit einer Band Musik machst – die Beiträge der anderen Musiker beinhalten. Da so viel geschieht, muss man höchst präsent sein, und da alles so schnell geschieht, darf man sich nicht durch theoretische Überlegungen bremsen lassen.
Die Improvisation – das Sein im Augenblick – ist eine Art Erkundung des Unbekannten. Sie bedeutet, einen dunklen Raum zu betreten, in dem man nichts erkennt. Es bedeutet, mit dem Erinnerungsvermögen zu arbeiten, bildlich gesprochen einer Art Muskelgedächtnis, und zugleich dem Bauchgefühl freien Lauf zu lassen im Gegensatz zum bewussten Spiel. Damit setze ich mich auch heute noch auseinander: zu lernen, mir selbst aus dem Weg zu gehen! Es ist sicherlich nicht einfach, doch wenn es gelingt, erscheinen diese Augenblicke wie die reinste Magie. Die Improvisation gleicht dem Öffnen einer Schatztruhe, in der alles daraus Entnommene neu ist. Man langweilt sich nie, denn der Inhalt der Truhe variiert jedes Mal.
Jazz ist keine vollkommen zu beherrschende Musik, da der Stil vom Moment abhängt. Jeder Moment ist einzigartig und verlangt vom Musiker, dass er sein tiefstes Inneres ausschöpft. Die klassische Musik erschien mir hochgeistig, wohingegen der Jazz das Geistige und Intuitive vereint. Jazz zog mich wie ein Magnet an, und ich konnte es kaum erwarten, mehr zu lernen.
Im Herbst 1956 setzte ich meine Laufbahn auf dem Grinnell College fort. Die Grinnell war eine kleine, hauptsächlich geisteswissenschaftlich geprägte Hochschule in Iowa, was für mich keine naheliegende Wahl bedeutete. Doch eine der engsten Freundinnen meiner Eltern, Mrs. Smith, die auch in der South Side lebte, hatte sie besucht, und so entschied ich mich zur Immatrikulation. Ich gewann ein Pullman-Stipendium und machte mich im Alter von sechzehn Jahren nach Iowa auf. Dort fand ich einen angenehmen und warmherzig anmutenden Campus mit Studenten aus aller Welt vor. Der Besuch der Hyde Park High School hatte meine Augen geöffnet und mich mit Menschen aus den verschiedensten Bereichen in Kontakt gebracht. Die Grinnell aber sollte meinen Horizont noch einmal immens erweitern.
Noch bevor ich auch nur einen Fuß auf den Campus setzte, beschäftigte ich mich analytisch mit meinen Optionen. Sollte ich Musik als Hauptfach studieren? Oder eine Wissenschaft? Ich liebte beides, doch wollte ich eine kluge Entscheidung treffen. Und so fragte ich mich: Wie gut stehen die Chancen, mit Jazz den Lebensunterhalt zu bestreiten? Bedenklich. Und wie stehen die Chancen, mit einem wissenschaftlichen Studiengang das Auskommen zu sichern? Wahrscheinlich sehr gut. So sehr ich Jazz auch liebte, entschied ich mich also für den pragmatischen Weg und somit für das Hauptfach Ingenieurswissenschaften/Elektrotechnik. Ich versprach sogar meiner Mutter, die sich einen „handfesten“ Studienabschluss wünschte, dass ich vom Musikstudium absähe.
Im ersten Jahr trug ich mich nicht für Musikseminare ein, doch nahm Klavierunterricht und verbrachte Stunden mit dem Studium des Jazz. Meine Noten waren eher durchschnittlich, da ich mich im Fach Elektrotechnik nie großartig bemühte. Zwar traf man auf dem College kaum Jazz-Musiker, doch mir begegneten einige außergewöhnlich gute Instrumentalisten, mit denen ich die Zeit beim Spielen und mit Gesprächen verbrachte. Das waren der dänische Drummer Bjarne Nielsen, ein Bassist namens Dave Kelsen und die beiden wirklich guten Trompeter John Scott und Bob Preston. John wurde ein enger Freund, und wir schrieben sogar gemeinsam einen Song, den ich später für mein zweites Album My Point Of View aufnahm.
Einige professionelle klassische Musiker probten acht oder mehr Stunden am Tag, doch das war nichts für mich. Tatsächlich übte ich nie länger als eine Stunde täglich, verbrachte jedoch ungezählte Stunden mit dem Studium, dem Erlernen neuer Musik und dem Analysieren. Ich unterhielt mich scheinbar endlos lange mit den anderen über Strukturen, Theorie und Improvisation, und wir „warfen“ uns die Noten bis tief in die Nacht zu. Ich wurde niemals müde und begeisterte mich zunehmend, je mehr ich lernte.
Auch heute noch fasziniert mich die Improvisation. Höre ich Platten von Oscar Peterson, muss ich immer rätseln: Wie hat er das gerade gemacht? Ich liebte das Spielen verknüpft mit dem Jammen, denn es stellte eine gute Möglichkeit dar, um sich auszudrücken. Man musste nicht die Noten eines anderen lesen, man drückte sich selbst aus, indem man die eigene Musik exakt im Moment erschuf.
Während des zweiten Studienjahrs entschied ich mich zur Organisation des ersten Jazz-Konzerts auf der Grinnell. Das sollte doch nicht schwer sein, oder? Ich würde mir einige Bigband-Aufnahmen anhören, die Noten der anderen Instrumente heraushören und das komplette Arrangement selbst schreiben. Dann musste ich nur noch genügend Musiker für die verschiedenen Parts finden, ihnen die Phrasierungen und die Dynamik beibringen und sie „konzertbereit machen“. In meinem siebzehnjährigen Kopf schien das alles umsetzbar.
Auf der Grinnell gab es nur 1.200 Studenten, und zudem lag die Universität mitten in Iowa. Wo sollte ich also genügend Jazz-Musiker für ein komplettes Konzert finden? In der ganzen Universität befestigte ich Zettel an den schwarzen Brettern und suchte Musiker mit genügend Spielerfahrung, besonders solche, die schon einmal in einer Highschool-Tanzband gewesen waren. Ich wusste, dass die sechzig Meilen östlich der Grinnell gelegene University of Iowa tatsächlich eine Jazz-Band hatte, und so lieh ich mir von ihnen einige Arrangements. Irgendwie gelang es mir letztendlich, fünf Saxofone, drei Posaunen, vier Trompeten, Bass und Schlagzeug und sogar eine kleine Vokalgruppe zusammenzuwürfeln.
Dann versuchte ich, mehr über die Arrangements einiger Count-Basie-Platten zu erfahren, und arbeitete exakt wie bei den George-Shearing-Songs: Ich hörte mir die Musik an und notierte danach die verschiedenen Instrumente. Das stellte sich als kompliziert und zeitraubend heraus, aber ich lernte viel dabei.
Nach der abschließenden Transkription der einzelnen Parts begann ich mit Einzelproben für jedes Instrument des Orchesters. Dabei entdeckte ich, dass zwar alle die einzelnen Töne spielen konnten, doch nur zwei Musiker etwas über Jazz-Phrasierung wussten. Ich wollte mir nicht all die Mühe machen und danach ein mittelmäßiges Konzert abliefern, weshalb ich selbst alle Einzelproben dirigierte – die der Saxofonisten, der Posaunisten und der Trompeter. Da niemand auch nur den blassesten Schimmer von einem Solo hatte, musste ich diese Abschnitte ausnotieren. Ich benötigte das gesamte