Lisa Dickey

Möglichkeiten


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Bronx. Du kannst bei mir einziehen.“

      Ich konnte mir ungefähr vorstellen, in was für einem Luxus Donald lebte, und so nahm sich das Angebot dankend an. Doch als ich wenige Tage später in sein Apartment einzog – nachdem ich meine Habseligkeiten fünf Etagen hochgeschleppt hatte –, war ich erstaunt, dass die Wohnung nur über ein Schlafzimmer verfügte. Im Wohnzimmer gab es ein versenkbares Klappbett, und dort sollte ich nächtigen. Der Jaguar gehörte übrigens nicht ihm, sondern seiner Freundin, die er jedoch nie fahren ließ.

      Donald stellte drei Regeln für das Apartment auf. Erstens: Alles musste penibel sauber sein, um das Heer der Kakerlaken zu dezimieren. Zweitens: Ich musste jeden Morgen mein Bett machen. Drittens: Falls jemand vor neun Uhr klingeln sollte, musste ich ihn zuerst wecken, bevor ich an die Tür ging.

      Ich hatte keine Vorstellung, aus welchem Grund die dritte Regel aufgestellt worden war. Eines Morgens fand ich es heraus. Die Klingel läutete vor neun Uhr, und ich ging in Donalds Schlafzimmer, um ihn zu wecken. Er war ziemlich groggy, sprang aber geschmeidig aus dem Bett, riss das Fenster auf und stieg auf die Feuerleiter. Als ich die Tür öffnete, stand ein Vollzugsbeamter des Finanzamts dort, der sich mit Donald unterhalten wollte – als hätte er es geahnt! Ich schätze mal, Donald hatte seit geraumer Zeit keine Steuern entrichtet, aber solange er den Finanzschnüfflern aus dem Weg gehen konnte, war er ihnen natürlich immer eine Länge voraus.

      Donald hatte meinen Eltern versprochen, sich um mich zu kümmern, und er hielt sein Versprechen. Doch er war ein Freigeist, und die Feststellung ist durchaus berechtigt, dass sich seine Art der Fürsorge von der meiner Eltern unterschied. Kurz nach dem Einzug führte er mich in die Welt des Marihuanas ein. Wir fuhren zu einem Gig – irgendwo im Mittleren Westen, möglicherweise Detroit –, und ich kann mich nur noch daran erinnern, die ganze Nacht gelacht zu haben. Das erste Mal war großartig, doch letztendlich mochte ich das Kiffen nicht. Ich stand weder darauf, mich von der Realität zu entfernen, noch mochte ich die Art, wie das Kiffen manchmal meine Stimmung runterzog, und das Gefühl der Paranoia gefiel mir schon gar nicht. Ich bin eher ein „High-Energy“-Mensch, womit sich Marihuana als Droge für mich erledigte. Ich mochte jedoch das Trinken und entwickelte eine hohe Toleranz demgegenüber. Im ersten Jahr in New York blieb ich aber meist nüchtern und hielt mich zurück.

      Ende 1961 hatte ich schon auf meinen ersten beiden Platten gespielt: Donald Byrds Royal Flush und Out Of This World von Donalds und Peppers Quintett. Für die Aufnahme von Royal Flush wählte Donald sogar eine meiner Kompositionen aus, ein Song mit dem Titel „Requiem“. Damals hatte ich keine große Erfahrung hinsichtlich des Songwritings. Als Kinder hatten Wayman, Jean und ich uns ein Stück mit dem Titel „A Summer In The Country“ einfallen lassen, und auf der Grinnell schrieb ich auch einige Nummern. In Chicago half ich bei den Kompositionen anderer Musiker, die nicht viel vom harmonischen Hintergrund wussten, was mich ein bisschen Erfahrung sammeln ließ. Ich wollte aber mehr komponieren. Als Donald mir von seinen Absichten berichtete, ein neues Album einzuspielen, schrieb ich „Requiem“ in der Hoffnung, dass er es für die Scheibe auswählen würde.

      Es schien ein recht viel versprechender Start gewesen zu sein, auf diesen Platten zu spielen und meine Songs aufzunehmen. Doch ein Jahr, nachdem ich in New York angekommen war, arbeitete ich immer noch nicht so viel wie erwartet. Daraufhin fällte ich im Januar 1962 die Entscheidung, mich in der Manhattan School of Musik einzuschreiben. Statt tatenlos herumzusitzen, vertiefte ich meine Ausbildung, weshalb ich mich für Seminare in klassischer Komposition und Orchestrierung anmeldete.

      Donald hatte seinen Master an diesem Institut gemacht. Gelegentlich schaute er vorbei, um sich mit mir zum Lunch zu treffen. Eines Tages kam er in die Mensa und sah den ihm bekannten Pianisten Larry Willis. Er stellte uns vor, und Larry starrte mich an: „Du bist der Herbie Hancock?“ Ich lachte, mir nicht sicher, ob er mich auf den Arm nehmen wollte. Larry hatte allerdings noch nie Platten aufgenommen, und ich hingegen schon ganze zwei (!) Scheiben, womit ich mir im Alter von nur einundzwanzig Jahren schon einen gewissen Ruf in New York erarbeitet zu haben schien.

      Nach der Immatrikulation und der Bezahlung der Seminare – und das war wirklich ironisch – wurde ich von Anfragen überhäuft, so dass ich das Semester nicht beenden konnte. In dem Winter absolvierte ich unzählige Auftritte, darunter eine Performance im Birdland im Januar mit dem Posaunisten Al Grey, die man für das Album Snap Your Fingers mitschnitt. Nun entschied Donald, dass der nächste Schritt erfolgen musste.

      „Herbie, es ist Zeit für deine eigene Platte.“

      „Nein“, erwiderte ich. „Ich bin noch nicht bereit.“

      „Doch, das bist du“, bekräftigte er seine Aussage. „Und ich werde dir erklären, wie man das anpackt.“

      Donald stand bei Blue Note unter Vertrag, dem Top-Jazz-Label, das sich damit rühmte, Platten der „jungen Wilden“ des Jazz zu veröffentlichen – der heißen Musiker, die gerade ihre Karriere begannen. Freddie Hubbard, Wayne Shorter und Horace Silver waren alle bei Blue Note, und ihre Karrieren entwickelten sich steil nach oben. Doch es gab einen Haken: Die Verantwortlichen von Blue Note wollten einen jungen Künstler erst dann vertraglich verpflichten, wenn sie genau wussten, dass er Alben verkaufen konnte. Das ließ sich mit dem alten „Huhn-und-Ei“-Dilemma vergleichen, denn niemand stimmte einer Plattenproduktion zu, bis man bewiesen hatte, dass man auch genügend Platten absetzte.

      Doch Donald hatte einen Plan ausgeheckt. Er riet mir: „Du musst Folgendes machen. Geh zu Alfred Lion“ – einem der Mitbegründer von Blue Note – „und erzähl ihm, sie hätten dich eingezogen.“ Es war die kurze Zeit zwischen dem Korea- und dem Vietnamkrieg. Obwohl die USA nirgendwo kämpften, nahm die Rekrutierung ihren gewohnten Lauf. „Sag ihm, dass du eine Platte machen willst, bevor du zur Armee gehst. Das ist der erste wichtige Punkt“, erklärte Donald.

      „Zweitens: Die eine Hälfte des Albums kannst du für dich aufnehmen, die andere musst du für Blue Note einspielen.“ Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, woraufhin er seine Erklärung fortsetzte. Die Hälfte der Titel durften Eigenkompositionen sein, doch ich sollte mich darauf vorbereiten, mindestens genauso viele Versionen von Standards aufzunehmen. „Du musst was machen, das die Leute kennen“, setzte Donald seine Unterweisung fort. „Denn nur so verkauft man Platten. So läuft das Business eben, Herbie.“

      Ich dachte einige Tage über Donalds Ratschläge nach, besonders über die Tipps zu den eigenen Songs. Ich mochte das Spielen von Standards wie jeder andere auch, doch mit der Komposition von eigenen Stücken wollte ich die Hörer packen. Komponisten wie Horace Silver hatten Stücke geschrieben, die sich verkaufen ließen. Seine heißen, funky Nummern gingen dabei am besten. Konnte ich einen „funky“ Song komponieren, der dem Verkauf eines Albums zuträglich war?

      Ich beabsichtigte, etwas Authentisches zu schreiben, das auf der afroamerikanischen Erfahrung basierte. Allerdings wollte ich Themen wie Gefängnis, Chain-Gang oder Baumwollpflücken im Süden vermeiden. Ich war schwarz, stammte aber aus dem Norden, aus einer großen Stadt, und hatte somit nicht den blassesten Schimmer von Baumwollfeldern und Chain-Gangs. Ich besaß noch hochfliegende Ideale hinsichtlich meiner Integrität als Musiker und wollte, dass meine Songs mit dem wirklichen Leben übereinstimmten. Okay, warum also nicht eine Nummer schreiben, die auf der Erfahrung als Schwarzer in Chicago beruhte? Und dann blitzte das Bild des Watermelon Man vor meinem geistigen Auge auf, eines wohl eindeutig ethnisch prägnanten Charakters meiner Kindheit.

      In den Vierzigern rollte der sogenannte „Wassermelonenmann“ [erst ab den Siebzigern wurde der Begriff „Watermelon Man“ mit einem Drogenhändler gleichgesetzt, A.T.] mit seinem Wägelchen durch die South Side und die Gassen entlang, um seine Früchte zu verkaufen. Damals bestand die Straßendecke noch aus altem Kopfsteinpflaster, und so wuchs ich mit dem Geräusch des Klack-Klack-Klack, Klack-Klack-Klack auf, das die Räder des von einem Pferd gezogenen Wagens machten. Ich hatte dieses rhythmische Klackern so oft gehört, weshalb es mir leichtfiel, es in ein Song-Pattern zu übertragen. Doch wie sollte die Melodie klingen?

      Ich erinnerte mich, wie der Watermelon Man seine Ware mit einer Art Sing-Sang anpries. „Watey-mee-low! Red, ripe, watey-mee-low!“ Er rief das zu den Fenstern der Bewohner hoch, schwärmte davon, dass er den Leuten die Wassermelonen „stecken“ wolle, was bedeutete,