„Netter Anschlag.“
Als ein Jahr darauf die Gerüchte die Runde machten, dass er nach mir Ausschau halte, konnte ich es trotz des Kompliments von damals nicht glauben. Jeder wollte mit Miles spielen, und so schien es mir unvorstellbar, dass er es von allen Pianisten dieser Welt gerade auf mich abgesehen hatte. Ich machte mir nicht viel aus dem Gerede, doch der Tratsch riss nicht ab.
Donald muss daran geglaubt haben, denn eines Nachtmittags Anfang Mai saßen wir zusammen im Apartment, und er meinte: „Okay, Herbie! Wenn Miles anruft, musst du ihm unbedingt sagen, dass du momentan mit niemandem arbeitest.“
„Lass mal, Donald. Ich weiß nicht, ob er mich anrufen wird, aber auch, wenn er es macht, könnte ich dir das nicht antun.“ Donald hatte mich nach New York geholt, und seit dem Zeitpunkt war ich immer ein festes Mitglied seiner Gruppe gewesen. Er war wie ein Bruder für mich, und dessen versicherte ich ihm. „Du hast mir so viel geholfen, mit dem Plattenvertrag und dem Verleger-Deal …“
„Halt die Klappe, Mann“, fuhr er mich an. „Stünde ich dem Job im Weg, könnte ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen.“ Donald machte gerne einen Witz, doch jetzt gab er sich verdammt ernst. „Falls Miles fragt, machst du genau das, was ich gesagt habe.“
Am nächsten Nachmittag klingelte das Telefon in unserem Apartment. Ich nahm ab und hörte die unverkennbare raue Stimme von Miles Davis. „Hallo, Herbie. Du arbeitest doch im Moment mit niemandem?“ Miles war keiner, der zu viele Worte verlor.
„Nein, momentan nicht“, lautete meine Antwort.
„Gut, komm morgen um halb zwei Uhr zu mir nach Hause.“
Ich setzte gerade an zu antworten: „Okay, Miles …“, da hörte ich schon ein Klicken – sofort nach dem Satz hatte er aufgelegt. Er gab mir nicht mal die Adresse! In der Aufregung und bei meiner Nervosität kam es mir nicht in den Sinn, Donald zu fragen – ich dachte nur noch daran, dass Miles mich zum Spielen eingeladen hatte und ich mich nicht mehr erinnerte, wo er wohnte! Als das Telefon erneut läutete, riss ich den Hörer von der Gabel, darauf hoffend, dass es Miles war, doch stattdessen hatte ich Tony Williams am anderen Ende der Leitung.
Kurze Rückblende:
Tony war gerade erst siebzehn geworden, doch trotz seiner Jugend konnte man ihn als den heißesten Jazz-Drummer der Szene bezeichnen. Ich hatte ihn Ende 1962 bei einem Gig mit Eric Dolphy in Boston getroffen, wo er damals noch lebte, doch ihn nie trommeln gehört. Dann, nach seinem Umzug von Boston nach New York zu Beginn des Jahres 1963, rief er mich an und ließ mich wissen, dass er nun auch in der Stadt lebe. Was aber sollte ich mit einem Drummer im Teenageralter anfangen? Mit ihm abhängen? Ich wusste nicht, wie ich mich gegenüber Tony verhalten sollte, und wimmelte ihn erst mal ab. Ungefähr eine Woche später erhielt ich einen Anruf des Saxofonisten und Bandleaders Jackie McLean. Jackie stellte eine Gruppe für einen Gig im Blue Coronet in Brooklyn zusammen und fragte mich, ob ich auftreten wolle. „Wer ist denn noch dabei?“, fragte ich. „Eddie Kahn am Bass, Woody Shaw an der Trompete und Tony Williams hinter der Schießbude.“
„Hör mal, Jackie“, begann ich. „Kann Tony denn wirklich trommeln? Oder klingt er für einen Siebzehnjährigen einfach nur gut?“
„Ich erzähl dir mal was, Herbie“, antwortete er. „Spiel den Gig, und du wirst es herausfinden.“
Das machte ich. Wir hatte keine Probe, da wir Standards aufführten, Stoff, den alle kannten. Als Jackie die erste Nummer einzählte, begann ich mit einem Akkord – wonach Tony den beeindruckendsten Rhythmus hinlegte, den ich jemals gehört hatte. Ich hob die Hände von den Tasten und drehte mich mit weit offenem Mund zu ihm zurück. Es war unglaublich, was ich von dem kleinen, mageren Bürschchen hörte. Ich hatte keine Vorstellung, wie er auf diese Rhythmen kam, und ich brauchte mehr als einen Chorus, bis ich mich gesammelt hatte und weiterspielte.
Tony verfügte über ein irres Talent. Er konnte wie kein anderer trommeln und hatte sogar schon in seinem jugendlichen Alter ein absolutes Vertrauen in seine Fähigkeiten. Bei einigen Musikern scheint es so, als hätten sie schon bei der Geburt ihr Instrument gespielt, und Tony gehörte zu ihnen. Ihn zu beobachten und zu hören war pure Magie, da pure Energie und Kreativität von ihm ausgingen. Noch eine Woche zuvor hatte ich Tony abgewimmelt, doch nach dem Gig rief ich ihn an und fragte: „Hey, Mann, was geht ab? Hast du was vor? Kann ich mal rüberkommen?“ Und so begann meine Freundschaft mit Tony Williams.
Als Tony mich an besagtem Tag anrief – nachdem Miles mich kontaktiert hatte –, berichtete er, ebenfalls eingeladen worden zu sein. Ich spürte eine Aufregung in mir hochkochen und fühlte mich zudem erleichtert, weil er die Adresse von Miles kannte und ich damit einen konkreten Anhaltspunkt hatte.
Am nächsten Nachmittag stand ich vor Miles’ Haus an der West 77th Street. Er öffnete die Tür und führte mich die Stufen einer Treppe hinunter, an deren Ende sich sein Proberaum befand. Dort sah ich Tony, den Bassmann Ron Carter und den Saxer George Coleman. Wir quatschten ein wenig, dann nannte Miles ein Stück, zählte es ein, und wir begannen zu spielen, um uns aufeinander einzuschwingen. Miles begleitete uns einige Takte, warf danach das Flügelhorn auf die Couch und verschwand die Treppe hoch. Von da an wählte Ron die Nummern aus.
Der einige Jahre ältere Ron war schon eine Weile in der Szene und hatte auch bereits mit Eric Dolphy gespielt. Er hatte mit klassischer Musik begonnen, setzte sich als Junge in Michigan mit dem Cello auseinander, wonach er sich dem Jazz und dem Kontrabass widmete. Wie waren uns schon begegnet, kannten uns aber nicht gut, was auch auf George Coleman zutraf. Doch an dem Nachmittag lernten wir uns auf die Art kennen, wie Jazz-Musiker Bekanntschaft schließen – indem sie zusammensitzen und einige Nummern jammen.
Wir spielten den ganzen Nachmittag, der sich dann bis in den Abend erstreckte, und manchmal kam Miles runter, nahm sein Flügelhorn und spielte einige Töne, warf es wieder auf die Couch und rannte nach oben. Was ich damals noch nicht wusste, aber Jahre später erfuhr – in Miles’ Haus war tatsächlich eine Sprechanlage installiert. Saß er nun im dritten Stock, konnte er genau hören, was wir gerade spielten. Er wusste, dass ein Haufen junger Musiker wie wir möglicherweise durch seine Anwesenheit eingeschüchtert war. Aber er wollte unsere Fähigkeiten genau kennenlernen, weshalb er Ron die Führung überließ und einige Noten-Sheets auf das Piano legte. Ron spielte Bass mit einem wunderschönen Ton und makellosem Timing, war zudem noch sehr gut organisiert und nahm die ihm übertragene Verantwortung ernst. Er achtete auf den Fokus der Musiker.
Das Vorspielen erstreckte sich schließlich über drei Tage. Wir jammten, analysierten Akkord-Progressionen und lernten die gegenseitigen Stile kennen, während Miles rauf und runter ging und seinem Geist freien Lauf ließ. Am dritten Tag – endlich – gesellte er sich zu uns und spielte einige Nummer komplett mit. Dann sagte er: „Okay, das war’s. Kommt am Dienstag ins 30th Street Studio.“ Und dann wollte er schon wieder die Treppe hochgehen.
„Miles“, sprach ich ihn verwirrt an, „bin ich jetzt in der Band?“
Miles drehte sich um, den Hauch eines Lächelns auf dem Gesicht: „Du machst ’ne Platte, Muthafucka!“
Am Dienstag, dem 14. Mai, machte ich mich also mit den anderen auf den Weg ins 30th Street Studio der CBS. Wir hatten die Songs für das Album noch niemals richtig ausgespielt, doch Miles interessierten Proben nicht.
Er wollte, dass wir mit laufender Bandmaschine einfach drauflosspielten und das einfingen, was gerade passierte. Später fand ich heraus, dass Miles immer so produzierte. Er beabsichtigte die erste, ehrlichste und unverfälschteste Version eines Songs einzufangen, auch wenn sie fehlerhaft war. Miles glaubte, dass man die Kreativität durch zu häufiges Proben erstickte. Für ihn drückte Musik Spontaneität aus, den Versuch, etwas zu entdecken, und exakt das wollte er auf seinen Alben einfangen. Wenn die Bläser die komplette Melodie erstmalig durchspielten, war es für ihn der Take, den man für die Platte nutzte.
Miles verschwendete weder Worte noch Zeit. 1956 nahm er mit seinem ersten Quintett vier Alben an einem einzigen Tag auf – Cookin’, Relaxin’, Workin’ und Steamin’ –, zu denen er nur noch wenige Tracks einer früheren Session beisteuerte. Er ging einfach ins Studio und spielte. Nimmt man mit so einer Methode auf, ist es zuerst