Lisa Dickey

Möglichkeiten


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wir auch an dem Tag. Die Band spielte alle Tracks für Seven Steps To Heaven ein. Es wurde eine phänomenale Session. Jeder brachte es, besonders der siebzehnjährige Tony Williams, ein richtiger Killer. Ich hatte so viel Spaß mit diesen großartigen Musikern, wollte, dass es ewig so weiterginge. Am Ende der Session fragte ich Miles erneut: „Also bin ich jetzt in der Band?“

      „Du hast doch die Platte gemacht, oder?“ So lautete also die Antwort auf meine Frage.

      Ich spielte das letzte Konzert vor meiner Zeit als Full-Time-Pianist für Miles als Begleitmusiker für Judy Henske in Greenwich Village. Judy war eine große Brünette mit einer rauen Stimme, die obszönen Blues sang und noch obszönere „Backroom-Balladen“. An dem Abend spielte sie vor Woody Allen, der eine Reihe von Auftritten im Village Gate absolvierte. Geplant waren einige Gigs, und nach einer Show tauchte Miles im Club auf.

      „Brauchst du ’ne Mitfahrgelegenheit?“

      „Nein, danke. Ich habe mir gerade ein Auto gekauft und bin heute damit gekommen.“

      Miles betrachtete mich einen kurzen Augenblick. „Es ist aber kein Maserati“, meinte er.

      Miles war natürlich für wunderschöne Autos, Kleidung und Frauen bekannt.

      „Nein, ist es nicht. Aber er ist irgendwie ganz niedlich.“

      Wir gingen die Treppe hoch und auf die Bleecker Street, wo mein Cobra direkt vor dem Club parkte. Ich zeigte mit dem Finger darauf, und Miles sagte nachsichtig: „Ah, der ist ja wirklich niedlich.“ Dann ging er die Straße hoch und verschwand. Ich setzte mich in den Wagen, fuhr aus der Parklücke, bog rechts in die Sixth Avenue ab und nahm die 93rd Street für den direkten Weg in den Norden, wo ich erst kürzlich ein eigenes Apartment bezogen hatte. An einer Ampel fuhr Miles plötzlich gemächlich neben meine Karosse. Er schaute mich an, ich schaute ihn an, und wir wussten beide, was als Nächstes geschehen würde. Als die Ampel auf Grün sprang, drückten wir beide das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

      Wir flogen regelrecht über die Sixth Avenue, wo alle Ampeln auf „grüne Welle“ geschaltet waren. Mein Cobra hängte ihn um Längen ab, der Maserati fuhr sprichwörtlich in meiner Staubwolke. Als Miles mich ungefähr zwanzig Blocks weiter bei einer roten Ampel einholte, hatte ich Zeit zum Anzünden einer Kippe. Ich schaute zu ihm rüber und versuchte dabei so lässig und cool wie möglich zu wirken. Miles kurbelte das Fenster runter und sagte: „Werd den Wagen los.“

      „Was? Warum denn?“

      „Viel zu gefääääährlich“, antwortete er mit krächzender Stimme. Und exakt in dem Moment – als hätte er es geplant – schaltete die Ampel auf Grün, und er schoss mit dem Maserati in die dunkle Nacht.

      Am Anfang bestand das Quintett aus Miles, Tony, Ron, George und mir. Als George im folgenden Jahr ausstieg, holte Miles Sam Rivers als Ersatz, doch erst, als Wayne Shorter Sam Ende 1964 ersetzte, war das Quintett komplett. Wayne brachte nicht nur seine musikalischen Fähigkeiten als fantastischer Saxofonist ein, sondern auch als Komponist, der Stücke schrieb, die sich als ideal für unsere Zielsetzung erwiesen. Der Einstieg von Wayne verwandelte die Gruppe schließlich in das „Second Great Quintet“.

      Miles ermöglichte seinen Musikern viel Freiheit, was ich wunderschön und inspirierend fand. Er schrieb uns niemals vor, was oder wie wir etwas spielen sollten – er gab uns eine Plattform, von der aus wir auf eine Entdeckungsreise gehen konnten. Wir begannen zum Beispiel mit einer Nummer und spielten uns ein. Je tiefer wir in den Song vordrangen, desto abenteuerlicher wurden die neuen improvisatorischen Verästelungen. Ein Song klang niemals gleich. Oft erkannte man die Stücke erst kurz nach Ende. Sogar die bekanntesten Jazz-Standards verwandelten sich in kreisförmige, unvorhersehbare klangliche Erkundungen. Wir nannten das „kontrollierte Freiheit“.

      Jeder Musiker hatte seine Freiräume für Soli. Bei diesen Passagen „flogen“ wir förmlich in unbekannte Dimensionen. Miles legte uns keine Beschränkungen auf, sondern ermutigte uns, so abenteuerlich und mutig wie möglich zu agieren. Manchmal gingen unsere Erkundungen so weit, dass wir beinahe den ursprünglichen Song verloren. Doch in exakt solchen Momenten zeigte sich Miles’ Vermögen, einzuspringen und ein Solo zu spielen, das alles wieder zusammenbrachte.

      Jede Nacht wurde zu einem Hochseilakt, aber selten nur verlor sogar Miles die Spur und wusste nicht, wo wir gerade waren. Mein Bruder Wayman erzählt die Geschichte eines unserer Gigs in Chicago folgendermaßen:

      Die Band begann zu spielen, und sie klang großartig. Miles spielte eine Zeitlang mit, verließ dann die Bühne, schritt durch das Publikum und ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Während dieser Zeit brachten die Musiker ihre jeweiligen Soli. Die Gruppe begann immer mit einem allseits bekannten Song, doch wenn alle ihre Soli beendet hatten, wusste man, dass sie jammten und Riffs einbrachten.

      Einmal hatte Miles einige Kippen geraucht, schlenderte zurück, kam an meinen Tisch und meinte beiläufig: „Ich habe vergessen, welche Nummer wir spielen.“ Ich verriet es ihm, er ging zurück zur Bühne und beendete das Stück.

      Wir probten nie im traditionellen Sinn, versammelten uns aber manchmal zu einer „Brainstorming-Session“. Miles sagte zum Beispiel: „Wir werden nächste Woche aufnehmen. Bringt eure Stücke mit.“ Dann flogen die Ideen durch den Raum, und wir diskutierten, wie man die Stücke von dem Punkt aus entwickeln konnte.

      Miles hielt sich mit Kommentaren zu unserem Spiel zurück. Er war nicht der Leader, der uns Noten vorlegte oder Vorschläge unterbreitete. Das geschah nur, wenn wir ihn fragten. Aber sogar dann antwortete er mit eher kryptischen Kommentaren, die kleinen Rätseln ähnelten, die wir lösen mussten. Miles redete niemals über die Strukturen von Musik, über Noten, Tonarten oder Akkorde. Es war wahrscheinlicher, dass er von einer Farbe sprach oder einer Gestalt oder Form, die er kreieren wollte. Einmal sah er eine Frau, die die Straße hinunterging und stolperte. Er deutete auf sie und meinte: „Spielt das.“

      Während Miles es vorzog, in Metaphern oder Bildern über Musik zu sprechen, verbrachten Tony, Ron und ich lange Nächte damit, nach jedem Gig die performte Musik theoretisch auseinanderzunehmen. Wir redeten über das „Was wäre gewesen, wenn …“ und darüber, was wir am nächsten Abend möglicherweise spielen wollten. Ich liebte Diskussionen über die Musik mit den Kollegen und lernte während der nächtlichen Gespräche unglaublich viel. Ich sog die Informationen förmlich auf, ganz versessen darauf zu lernen, denn Musiker in Miles’ Quintett zu sein, bedeutete ein Erbe zu wahren, eine Blutlinie fortzusetzen, die zurück zu den besten Jazz-Musikern der Geschichte reichte. Möglicherweise empfand ich einen tiefen, eher unbewussten Drang, sie nicht zu enttäuschen.

      Zuerst spielte ich zu bemüht. Im Bestreben, Miles alles zu zeigen, was ich draufhatte, überreizte ich meinen Stil. Miles spielte zum Beispiel ein Intro, das ich praktisch konzertierte und dabei die Leerstellen mit Verzierungen und schweren Akkorden füllte. Einige Male kam er zum Klavier und deutete mit Gesten an, mir die Hände abzuhacken, damit ich endlich ruhig war. Ich empfand das als eine von Miles humorvollen Marotten, fand später aber heraus, dass eine ernsthafte Intention dahintersteckte.

      Natürlich spielte ich weiterhin Fills, darüber nachdenkend, wie ich das Stück erweitern oder meine eigenen Limits überschreiten konnte. Doch es gab immer wieder Momente, in denen ich nicht wusste, was ich machen sollte oder was man von mir erwartete. So entschied ich mich nach einer Show, Miles direkt darauf anzusprechen.

      „Miles, manchmal weiß ich nicht, was sich spielen soll.“

      „Dann spiel nichts“, antwortete er, mich nicht mal eines Blickes würdigend. So einfach war das.

      Ich hatte niemals daran gedacht, bei einem Song nichts zu spielen. Doch sobald Miles die Worte ausgesprochen hatte, ergaben sie Sinn – perfekt! Ich realisierte endlich, warum er den Witz machte, mir die Hände abzutrennen: Das Fehlen eines Instruments veränderte den Sound eines Songs wohl grundlegender als der Wechsel von Akkorden oder Einzeltönen. Das war Miles pur – er lehrte mich mit nur wenigen Worten etwas Profundes über Musik.

      Der Bassist Buster Williams erzählte mir von einer ähnlichen Erfahrung, als er mit dem Quintett Ende der Sechzigerjahre einige Gigs machte.

      Miles