Bart wachsen zu lassen, doch sogar dann sah Tony noch wie der Teenager aus, der er war.
Clubbesitzer versuchten damals, die Altersbeschränkung mit einigen Tricks zu umgehen. Sie trennten einen Teil des Clubs für jüngere Gäste mit einer Kordel ab, wo man der Klientel nur Mineralwasser ausschenkte. Manchmal verzichteten sie sogar ganz auf den Alkoholausschank, wenn Tony die Bühne betrat. Wir spielten einen Gig, bei dem Miles einen anderen Drummer für das erste Set engagierte, damit die Leute ihr System genügend „auftanken“ konnten. Als Tony die Bühne betrat, wurde der Alkoholausschank dann eingestellt. Einige Zuschauer bei den „Konzerten ohne Alkohol“ nahmen an, Miles sei auf einen möglichst stillen Club bedacht, da er die Musik so ernst nehmen würde, dass ihn das Klickern der Eiswürfel in den Drinks gestört hätte. Doch der ganze Aufwand fand nur wegen seines Schlagzeugers statt.
Miles liebte Tonys Stil, weshalb er auch auf andere Kompromisse einging. Zum ersten Mal seit Wochen spielten wir damals alle Nummern in einem hohen Tempo, flogen förmlich, sogar bei Balladen – alles lief boom-boom-booom ab, gelegentlich dreimal so schnell wie das Grundmetrum. Das war unglaublich aufregend, aber auch extrem anstrengend. Eines Tages hatten wir genug davon und inszenierten eine Revolution. Ron ging zu Miles und sagte mit Nachdruck: „Es wird uns zu viel, jedes Mal so schnell zu spielen. Wir brauchen einige langsamere Nummern und sollten einige Balladen auch wie Balladen spielen.“ Danach achtete Miles auf ein eher gemischtes Programm.
Zuerst konnte ich mir nicht erklären, warum Miles das schnellere Tempo für die Band anvisierte. Als ich darüber nachdachte, schien mir, dass er es wegen Tony machte. In den frühen Tagen des Quintetts fühlte sich Tony bei mittleren oder langsamen Tempi unwohl. Da er aber so ein wichtiger Faktor in der Band war, wollte Miles vermutlich seine Stärken betonen, während Tony musikalisch reifte. Ich habe ihn nie danach gefragt, und somit könnte ich mit dieser Vermutung auch danebenliegen. Allerdings ist es die einzige Schlussfolgerung, die mir einfällt.
Miles und Tony hatten eine intensive und aufreibende Beziehung, sowohl persönlich als auch finanziell. Tony lebte in einem Apartment, das Miles gehörte, einige Stockwerke über ihm. Manchmal krachte es bei den beiden auch, was Themen wie Miete oder die Gage anbelangte. Tony konnte ein richtiger Hitzkopf sein, und er rieb sich an Miles, ähnlich einem Bock, der sein Geweih in einen Baumstamm rammt. Gelegentlich sprachen sie nicht mehr miteinander, und jeder meckerte über das, was der andere angestellt habe. Während dieser Phasen antwortete Miles schroff und zischend, wenn wir etwas diskutieren wollten: „Fragt nicht mich, fragt ihn.“ Doch um nichts in der Welt hätte ich mich in solchen Situationen in die Schusslinie zwischen den beiden begeben.
Tony erdreistete sich sogar, Miles’ Spiel zu kritisieren. Das hörte ich allerdings erst geraume Zeit später. Tony studierte die Musik wie ein Besessener, lernte alles über verschiedene Stilistiken, was sogar so weit ging, dass er alle Parts bestimmter Stücke auswendig draufhatte. Manchmal begann er einen Vortrag über das „modale Tonleitersystem der europäischen Harmoniegeschichte, zurückreichend ins zwölfte Jahrhundert“, als sei es ein Lehrfach, von dem wir alle wüssten. Er arbeitete so obsessiv, dass ihn Miles irritierte, der sein Interesse an Proben und Studien nicht teilte.
„Mann, warum übst du nicht?“, fragte Tony frei heraus, als sei es völlig normal, wenn ein Schlagzeuger im Teenageralter den bedeutendsten Trompeter seiner Generation belehrte, einen Mann, alt genug, um sein Vater zu sein. Tonys einziges Kriterium, ob ein Musiker einen anderen kritisieren durfte, war Talent – weder Alter noch Erfahrung, sondern nur Talent zählte. Jahre später meinte Bryan Bell – der Mann, der einen Großteil der elektronischen Musiktechnologie entwickelt und praktisch umgesetzt hatte – zu Tony, er sei ein großartiger Schlagzeuger. Tony antwortete: „Bryan, du bist nicht gut genug, um so ein Urteil zu fällen.“
Bryan fühlte sich vor den Kopf gestoßen, doch er antwortete: „Mir gefiel deine Performance.“
Darauf antwortete Tony: „Das darfst du sagen.“
Hatte Tony einen Zwist mit einem der Musiker des Quintetts, dann bestrafte er denjenigen, indem er bei dessen Solo die Drum-Begleitung verweigerte. Er hörte einfach auf, ließ ihn in der Luft hängen, um ihm eine Lektion zu erteilen. Tony war gelegentlich sehr temperamentvoll und launisch, doch egal, welche Probleme den Stimmungsschwankungen zugrunde lagen – sie wurden durch seine „monströsen“ Fähigkeiten relativiert. Da er so jung war, ließen wir ihm seine Launen durchgehen. Als Teenager spielte er mit der heißesten Jazz-Band der Szene. Sich plötzlich in so einer Situation wiederzufinden, hätte auf jeden einen ungeheuren Druck ausgeübt.
Während der Jahre mit Miles wurde Tony ein enger Freund. Bevor Wayne einstieg, war er mein Kumpel in der Band, der, mit dem ich mich am intensivsten über das Leben, die Musik und andere Themen unterhielt. Er trieb sich erbarmungslos an, um ein besserer Musiker und Komponist zu werden, und ich lernte so viel von ihm wie von den damaligen Kollegen, zu denen ich aufschaute. Tony glaubte an seine Fähigkeiten, aber suchte immer einen Lehrer, auch wenn es sich um keine pädagogisch ausgebildete Kraft handelte. Ständig studierte er, lernte dazu.
Als Tony die Songs für sein erstes Album Life Time komponierte, saß er vor dem Piano und „pflückte“ sich die Melodien mit dem Zeigefinger, wie ein kleines Kind, das gerade mit dem Klavierspiel beginnt. Er wollte kein Pianist werden, sondern benötigte nur ein Vehikel zum Ausarbeiten von Melodien. Ich verbrachte Stunden damit, ihm zu helfen, transkribierte die von ihm gespielten Melodien und versuchte dann, mittels „trial and error“ die Harmonien zu finden, die ihm vorschwebten. Tonys Songs ließen sich als komplex beschreiben, waren so ganz anders als simple Popsongs und sicherlich nicht zum Mitsingen geeignet.
Aber auch Tony half mir beim Lernen, indem er bei mir eine bestimmte Offenheit gegenüber anderen Musikstilen anregte. Der Altersunterschied zwischen uns betrug lediglich sechs Jahre, doch es waren entscheidende Jahre, denn wie alle nach 1945 Geborenen wuchs Tony im Zeitalter des Rock’n’Roll auf. Als dieser Stil überaus populär wurde, beschäftigte ich mich schon längst ausschließlich mit Jazz. Jazz und die Klassik waren die einzigen Genres, die ich mir zu Gemüte führte. Man kann mich zu der Zeit als schrecklichen Musik-Snob bezeichnen. Tony und Miles – der sich alles von Janis Joplin über James Brown bis hin zu Cream anhörte – halfen mir darüber hinweg.
Darüber hinaus machte mich Tony mit den neuesten musikalischen Entwicklungen bekannt. Lange, bevor ich mich damit beschäftigte, war er in der Avantgarde-Szene aktiv und fühlte sich auch wohler mit der Entwicklung, die das Subgenre nahm. Meist stellte ich ihm viele Fragen, wollte herausfinden, was ihn beeinflusst hatte. Er verfügte über das beeindruckende Talent, immer mit etwas Neuem aufzuwarten, aus seinen Drums Klänge hervorzuzaubern, die noch niemand gehört hatte. Was die Musik anbelangte, kannte er keine Ängste, und diese Furchtlosigkeit wirkte sich auf den Rest des Quintetts aus, ging uns in Fleisch und Blut über.
Eines Abends hatten wir gerade in Chicago eine Show im Lyric Theatre beendet, als George Coleman in die Garderobe kam und sagte: „Hey, Mann – Billy Eckstine hängt mit einigen Typen in seiner Garderobe ab und säuft. Er erzählt Scheiße über Miles.“ Eckstine war ein legendärer Sänger und der Leader des Billy Eckstine Orchestra, einer bedeutenden Bigband. Einige der größte Musiker der Ära hatten in dem Orchester gespielt, darunter Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Art Blakey und Dexter Gordon, nicht zu vergessen Miles, was aber schon Jahre zurücklag. Was in aller Welt quasselte er über Miles?
„Komm schon“, forderte mich George auf. Wir gingen beide zu Eckstines Garderobe, um herauszufinden, was da abging. Eckstine war sternhagelvoll und arbeitete sich an Miles ab – ich kann mich zwar nicht mehr an die genauen Worte erinnern, doch keiner der Ausdrücke war schmeichelhaft. Ich schätze, irgendjemand steckte Miles die Info, denn wenige Minuten später kam er plötzlich durch die Tür. Eckstine schaute ihn an und lallte: „Hey, Raben-Schwarzer.“
Oh, mein Gott, dachte ich nur, Miles wird ausrasten. Eckstine war zwar ein Schwarzer, aber mit einem helleren Teint und Augen, die ihn zu einem Frauenschwarm machten. Ja, und Miles war für seinen sehr schwarzen Teint berühmt. Einen Mann mit einer dunkleren Hautfarbe so zu beschimpfen, war indiskutabel, außer, man wollte ihn provozieren. Ich wusste von Miles’ Vergangenheit als Boxer und stellte mir vor, wie er Eckstine ausknockte. Ein armer Hausmeister würde heute Nacht noch Billy Eckstines Blut aufwischen