sagte er nur: „Spiel dir den Arsch ab, Muthafucka!“ Er gab mir Selbstvertrauen.
Ich hatte aber einige Fragen und entschied mich, ihn anzusprechen. „Miles, alle agieren so frei auf der Bühne. Herbie legt mühelos seine Akkorde, und Tony ähnelt einem großen Feuerball. Und dann spielst du, und manchmal scheint etwas vom Himmel zu kommen, durch deinen Kopf zu schießen und dann in das Horn. Was willst du von mir? Alle spielen so frei – die Form ist da und auch die Wechsel –, aber nur du weißt das, da du es einfach weißt. Niemand wird in ein Muster gepresst, und so bin ich mir nicht sicher, was ich machen soll. Soll ich die Wechsel mitspielen? Oder soll ich das Fundament legen. Oder darf ich so frei spielen wie die anderen?“
Miles schaute mich mit einem großen Lächeln an. Er sagte: „Buster, wenn sie schnell spielen, dann spielst du langsam. Und wenn sie langsam spielen, dann spielst du schnell.“ Auf irgendeine Art und Weise klärte sich für mich alles, obwohl er mir immer noch nicht gesagt hatte, was ich tatsächlich machen sollte.
Dieses Zitat drückt die Quintessenz von Miles’ Verhalten aus: eine Frage mit einem Rätsel zu beantworten, und sich auf den anderen zu verlassen, dass er es löst. Er gab niemals eine schlichte Antwort, wenn er sein Gegenüber stattdessen zum Denken anregen konnte. Und das ist das Kennzeichen eines wahrhaft großen Lehrers.
Einmal befand er sich in einem Club, um sich eine Gruppe junger Musiker anzuhören. Sie wussten, dass er im Publikum saß, und wollten ihn verständlicherweise beeindrucken. Nach Ende des Auftritts ging ein junger Mann zu Miles rüber und fragte: „Mr. Davis, was halten Sie von meinem Spiel?“ Miles schaute ihn einfach an und antwortete: „Tanzt du so mit deiner Freundin? Küsst du sie so?“ Der Junge ließ jede Art von Leidenschaft vermissen, doch Miles hätte ihm das niemals direkt gesagt. Stattdessen wollte er, dass er sich Gedanken über die Leidenschaft machte und das Gefühl auf den Ausdruck des Musikmachens übertrug.
Auch Miles versuchte, sich permanent zu übertreffen. Einmal traten wir in einem Club in Detroit auf. Er drehte sich zu Tony und mir um und fragte: „Warum spielt ihr nicht ein Backing so wie bei George?“ Er hatte gemerkt, dass wir bei Soli von George Coleman die Rhythmen „aufmischten“, was in ein freieres Spiel mündete. Wir „zerbrachen das Metrum“ und spielten stark versetzte Rhythmen. Das brachte den Solisten in der Regel zu einer freieren Interpretation des Songs.
Wir taten das, weil George damals von John Coltrane beeinflusst war und „Tranes“ Band hinsichtlich der Rhythmen und des Metrums in abgefahrene Dimensionen vordrang. George liebte es, wenn Tony und ich eher unkonventionell spielten, da es auch ihn „öffnete“. Im Gegensatz dazu folgten wir bei Miles einem eher bekannten Pfad, wenn er zum Solo ansetzte, egal, um welche Nummer es sich handelte. Ich hatte schon so viele Jahre Miles’ Scheiben gehört, dass ich davon ausging, er wolle uns so spielen hören, wie die anderen Musiker auf den jeweiligen Alben es machten. Doch so lief das nicht. Miles stand darauf, wenn Tony und ich ihn spielerisch zu musikalischen Herausforderungen führten.
Als Miles uns besagte Frage stellte, schauten wir uns überrascht an und versprachen ihm, den Background gehörig „aufzumischen“. Das machten wir an dem Abend in Detroit. Ich begann damit, verschiedene Ansätze einzubringen und unterschiedliche Atmosphären, um somit Miles’ Gewohnheiten zu unterminieren. Zuerst kam er ins Straucheln. Er spielte eine Art abgehackter Phrase – begann und hörte wieder auf –, da Tony, Ron und ich das rhythmische Fundament unter ihm auseinandernahmen. Die ihm gewohnte rhythmische Palette war plötzlich verschwunden, was ihn aus der Bahn warf. Ich las das an der Art ab, wie er die Schultern bewegte, seinen Körper krümmte, um den Rhythmus zu beherrschen.
Miles beschwerte sich nicht, und so legten wir ihm die ganze Nacht einen komplexen rhythmischen Teppich aus. Seine Soli muteten erratisch an, doch am folgenden Abend wollte er noch weitergehen. Wir performten noch weniger vorhersehbar, doch Miles stellte sich besser darauf ein und zeigte sich in der Lage, längere Phrasen zu spielen. Er begann, sich einzupegeln. Und am dritten Abend „zerriss“ er alles, und nun war ich derjenige, der musikalisch sprang und zuckte, dabei versuchend, mit ihm mitzuhalten. An dem Abend spürte ich, dass ich ein ganz anderes Level erreicht hatte. Meine Aufgabe als Instrumentalist sollte sich von nun an radikal vom Bisherigen unterscheiden.
Es bedeutete einen großen Schritt vorwärts, doch erst mal in Form gekommen, wollte Miles uns noch weiterdrängen. Verschiedene Rhythmen zu vermischen, brachte mich zum Spiel offener Harmonien – aber warum konnte ich sie nicht ohne ungewohnte Metren anklingen lassen? Miles mochte es, wenn ich unkonventionelle Akkorde und Harmonien anschlug und damit die Möglichkeiten für einen Solisten erweiterte, auch ohne rhythmische Raffinessen.
Das Spiel in einem Quintett bedeutete tägliches Lernen und Forschen, doch manchmal geriet man auch auf einen ausgetretenen Pfad. Die Lösung, um dem zu entrinnen, bestand darin, einfach weiterzuspielen, doch an einem Abend – wir traten im Club Lennie’s-on-the-Turnpike in Peabody, Massachusetts, auf – musste ich regelrecht kämpfen und hatte das Gefühl, dass alles gleich klang. Meine Frustration spürend, trat Miles hinter der Bühne an mich heran und flüsterte vier Worte in mein Ohr: „Spiel nicht die Buttertöne.“
Ich hatte keine Vorstellung, was er damit ausdrücken wollte, doch ich wusste, dass es wichtig war, denn sonst hätte er geschwiegen. Ich ließ mir die Worte durch den Kopf gehen. Was ist Butter? Butter ist Fett. Fett bedeutet Exzess. Spielte ich exzessiv? Butter konnte sich aber auch auf etwas Leichtes oder Offensichtliches beziehen. Wie Butter. Gab es etwas Offensichtliches in meiner Stilistik? Und wenn ja, wie konnte ich das ändern?
Harmonisch gesehen sind Terzen und Septimen die eindeutigsten Töne eines Akkords. Sie verraten dem Hörer, ob es sich um einen Moll- oder Dur-Akkord handelt oder einen Dominantseptakkord oder Majorseptakkord. Ich überlegte. Wenn ich nun auf die Terz oder Septime verzichtete? Sie nicht spielte? Das würde sicherlich neue Möglichkeiten eröffnen. Da ich nicht an so eine Spielweise gewohnt war, konnte es mich jedoch auch auf ein vollkommen anderes Terrain bringen.
Ich entschied mich, es zu versuchen. Nicht nur bei Akkorden – was an sich schon schwierig genug ist –, sondern auch bei den improvisierten Melodielinien der rechten Hand. Das war verdammt tückisch, denn das ging mir gegen den Strich, war gegen alles bisher Gelernte und Gespielte. Ich war jedoch fest entschlossen, es umzusetzen. Da Miles uns Raum zur freien Entfaltung gab, wusste ich, dass er nichts dagegen hätte. Er würde sich meiner Meinung nach sogar freuen, wenn wir an etwas Neuem arbeiten würden.
Da das Quintett niemals probte, begann ich mein Experiment eines Abends direkt auf der Bühne. Ich musste mich so sehr konzentrieren, dass es eher einer Übung glich, ähnlich dem Spielen von Tonleitern, und nicht reiner Musik. Die Läufe klangen unregelmäßig, und ich musste ständig aufhören, da meine Finger automatisch zu den Terzen und Septimen wanderten. Ich empfand mein Spiel als unbeholfen, bekam an dem Abend aber mehr Applaus als in der ganzen Woche. Das Publikum spürte, dass ich meine Grenzen überschritt, etwas Neues versuchte, und die Leute mochten es.
Normalerweise besteht ein Akkord aus drei Grundnoten. Da ich nun die „Buttertöne“ vermied, reduzierte sich der volle Akkord auf ein oder zwei Noten. Manchmal spielte ich zwei nebeneinanderliegende Noten, also Sekunden. Doch ich schlug nie die Terzen und Septimen an, wodurch die Akkorde offen klangen. Das ermöglichte dem Solisten mehr Raum, gab ihm verschiedenste Wahlmöglichkeiten der Richtung, die er einschlagen wollte. Das klang minimalistisch und ungewöhnlich, doch am wichtigsten war mir eine neue Perspektive, um die Musik zu betrachten und das der Improvisation zugrundeliegende kompositorische Element.
Nachdem ich mich erst mal an ein Spiel ohne „Buttertöne“ gewöhnt hatte, begab ich mich auf den umgekehrten Weg und setzte sie wieder ein. Nun waren es allerdings keine „Buttertöne“ mehr: Ich spielte sie nicht, weil ich es musste, so wie früher. Ich spielte sie, weil ich es wollte. Und das änderte alles für mich – und das nur, nur weil Miles die vier Worte gesagt hatte.
Eine kleine Anekdote. Jahre später kam mir das Gerücht zu Ohren, Miles habe mir tatsächlich geraten, auf die tiefen Töne zu verzichten [„bottom notes“], was ich angeblich missverständen hätte [„butter notes“]. Wie auch immer: Diese vier Worte, die ich hörte – oder die ich zu hören glaubte – veränderten mein Leben.
Tony Williams