Sessions liefen insgesamt reibungslos ab. Nur vor der Einspielung von „Watermelon Man“ spürte ich Bedenken aufkommen. Wie würde Billy Higgins, eigentlich ein Bebop- und Post-Bebop-Trommler diese funky Nummer spielen? Glücklicherweise hatte er einen Stil drauf, der zwischen geraden Achtelnoten und den für den Jazz typischen swingenden Triolen lag, womit er dem Stück ein großartiges funky-jazziges Feeling verlieh. Alles fügte sich zu einem wunderschönen Resultat.
Takin’ Off erschien im Mai 1962 und kletterte auf Platz 84 der Billboard 100. Zu der Zeit hatte Billboard noch keine eigenen Genre-Charts für Pop, Jazz und R&B. Für alle veröffentlichten Alben gab es eine Hitparade, und für ein Jazz-Album wurde das Erreichen der Top 100 schon als recht gut angesehen. „Watermelon Man“ war die das Album „anschiebende“ Single, und als ich sie im Radio hörte, fand ich das verdammt cool.
Nach der Veröffentlichung von Takin’ Off erhielt ich noch mehr Angebote von anderen Musikern. In dem Jahr spielte ich mit Freddie Hubbard auf seinem Album Hub-Tones und mit Roland Kirk auf Domino.
Eric Dolphy gehörte zu den Musikern, die mich damals grundlegend beeinflussten. Eric war der Leader der Avantgarde-Bewegung, im Jazz ein verhältnismäßig neues Underground-Phänomen. Ich hatte seine Musik gehört und schätzte sie. Er veröffentlichte in den Jahren 1960 und 1961 vier Platten, trat überall in New York auf, aber ich verstand seine Herangehensweise nicht. Sein Stil unterschied sich grundlegend von dem Jazz, den die meisten von uns spielten – war viel lockerer, ungezwungener, freier und weniger strukturiert. Im Herbst 1962 lud mich Eric zu einer kleinen Tour ein, doch zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich das Spiel mit ihm überhaupt kapieren würde.
„Hast du bestimmte Songs?“, fragte ich ihn. „Oder fangt ihr alle einfach an?“
Eric lachte. „Ja, wir haben Songs und sogar Akkordwechsel.“
Das überraschte mich, denn die Musik klang ganz und gar nicht so. Wollte ich mit Eric auftreten, musste ich Akkordwechsel anders interpretieren, denn meine Herangehensweise und Auffassung führten in dem Kontext nicht zum Ziel. Ich spürte die Nervosität, doch ich dachte: Wenn ich einige der Regeln breche, auf die ich normalerweise alles aufbaue, könnte mich das auf die richtige Spur bringen. Ich entschied mich, es einfach zu versuchen.
Bei den Auftritten mit Eric brach ich absichtlich die vorherrschenden rhythmischen und harmonischen Gesetze und auch die Regeln der Improvisationslinien innerhalb eines Solos. Ich begab mich auf unbekanntes Terrain und fühlte mich in eine Spielweise ein, die ich vorher nicht einmal in Erwägung gezogen hätte. Zuerst fand ich es beängstigend, die Grenzlinien des von mir so mühselig und langwierig Erlernten zu überschreiten, doch es war zugleich berauschend. Aus dieser Erfahrung zog ich eine ungemein wichtige Lehre: Ich lernte, aus dem Bauch heraus zu spielen. So zu agieren, erforderte Mut, Ehrlichkeit, das „Anzapfen“ von grundlegenden und ungefilterten Emotionen, doch der Lohn war enorm.
Eric war für mich ein wichtiger Lehrer, ein liebenswerter, sanfter Mann, der die Musiker immer ermutigte und sich neuen Ideen gegenüber öffnete. Er war in der Lage, den Balanceakt zwischen den Jazz-Konventionen und der Avantgarde zu meistern und produzierte dabei unvergleichbare Musik. Mich stimmt es traurig, dass wir noch mehr kreative und wunderschöne Musik von Eric hätten genießen können, doch er verstarb tragischerweise weniger als zwei Jahre, nachdem ich mit ihm gespielt hatte in Berlin. Eric kollabierte bei einer Show, und als er im Krankenhaus ankam, nahm das medizinische Personal an, er sei offensichtlich auf Drogen und ließ ihn zur Entgiftung einfach im Bett liegen. Doch Eric hatte mit Drogen nichts am Hut – er war Diabetiker. Hätte man ihm Insulin gespritzt, wäre er heute möglicherweise noch am Leben, doch so verstarb er im Alter von nur 36 Jahren im Krankenhaus.
Die mit Eric verbrachten Wochen im Winter 1962/1963 stellten einen wichtigen Entwicklungsschritt dar, denn ich musste zum ersten Mal meinen Platz in einer freien musikalischen Struktur finden. Das, was ich von Eric lernte, sollte nicht nur meinen Stil bei Miles Davis beeinflussen, sondern sich auch auf die Formation und Evolution der Band Mwandishi auswirken. Das Zusammenspiel öffnete mich mental, ließ mich die Möglichkeiten im Jazz erkennen.
Darin lag der Zauber, sich in den Sechzigern in New Yorks Jazz-Szene zu bewegen. Es gab so viele talentierte Musiker, so viele unterschiedliche Entwicklungsstränge im Genre, die man in der ganzen Stadt erkundete, so dass es beinahe einem Oberseminar des Jazz glich. Die Gestaltungsmöglichkeiten, wie man etwas spielte, waren grenzenlos. Sie reichten vom Cool Jazz über Hard Bop und Avantgarde bis hin zum Latin Jazz. Man konnte beinahe jeden Club besuchen und dort einige der weltbesten Musiker hören. Wir empfanden uns als Kinder in einem riesigen Süßwarengeschäft. Ende 1962 nahm ich meinen ersten Job bei einer Latin-Band an. Der Leader war der kubanische Conga-Spieler Mongo Santamaria. Sein Pianist – erst Jahre später fand ich heraus, dass es Chick Corea gewesen war – hatte gerade die Gruppe verlassen. Mongo brauchte für das Wochenende einen Mann fürs Klavier, und ich erklärte mich bereit, auszuhelfen. Ich hatte noch niemals Latin gespielt, doch Mongo meinte, er werde mir leichte Montunos beibringen – einfacher ausgedrückt: Latin-Pattern – und dass ich den Gig damit gut überstünde.
Wir traten in einem Supper Club in der Bronx auf, nicht weit von Donalds und meinem Apartment entfernt. Am dritten Abend kam Donald vorbei, um zu sehen wie es so läuft. Mittlerweile ähnelte er einem großen Bruder, achtete immer auf mich und versicherte sich, dass es mir gutging. An dem Abend herrschte im Club eine apathische Stimmung. Das Publikum saß an den Tischen, unterhielt sich und trank, doch die Tanzfläche war wie leergefegt. Nach Beendigung des ersten Sets schlenderte Donald zum Musikpavillon und stellte sich vor.
Während der Pause unterhielten sich er und Mongo angeregt, denn mein Mitbewohner war ein wahrer „Musikstudent“, der Gespräche über Musikgeschichte und -theorie liebte, mit jedem, der sich dafür interessierte. Die beiden führten eine tiefschürfende Diskussion über afrokubanische Musik und den afroamerikanischen Jazz. Mongo verriet ihm, dass er schon lange nach einem gemeinsamen Bindeglied zwischen den Stilen suche, bislang aber noch keines gefunden habe. Doch er sei sich sicher, dass es dort draußen etwas gebe, eine von der afrikanischen Diaspora ausgehende Verbindung.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn ich empfand es als recht komplexes Gespräch für eine Spielpause bei einer Show in einem Supper Club. Dann rief Donald: „Hey, Herbie – spiel doch mal ‚Watermelon Man‘ für Mongo.“
Mongo nickte mit seinem Kopf im Rhythmus und meinte: „Einfach weiterspielen.“ Er trat vor seine Congas und spielte dazu einen Latin-Beat – er nannte ihn Guajira –, und was soll ich sagen, es passte perfekt. Der Bassist warf einen verstohlenen Blick auf meine linke Hand, um zu sehen, was ich gerade spielte, und kopierte die Basslinie. Kurz danach stieg die komplette Band ein und jammte bei der Latin-gewürzten Neufassung von „Watermelon Man“.
Zwischenzeitlich standen die Leute auf – die den ganzen Abend förmlich an den Stühlen geklebt hatten – und gingen paarweise zur Tanzfläche. Innerhalb von wenigen Minuten ging es unglaublich heiß zur Sache, und das Publikum tanzte und kreischte vor Freude. Auf Mongos Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen. Die Musiker schauten sich gegenseitig verblüfft an. Was geschieht hier? Wir begannen zu lachen, denn der Song machte Spaß. Als wir die Nummer beendeten, jubelten einige Leute und klatschten mir auf den Rücken. „Das ist ein Hit! Das ist ein Hit!“ Mongo fragte: „Darf ich es aufnehmen?“
„Bitte, mach nur“, antwortete ich. Ich konnte nicht fassen, was gerade geschehen war, denn bei „Watermelon Man“ hatte ich niemals an einen Latin-Beat gedacht, aber der Rhythmus brachte frisches Leben in den Song.
Mongo Santamaria veröffentlichte seine Version von „Watermelon Man“ im Frühjahr 1963. Es wurde ein großer Hit, erreichte schließlich sogar Platz 10 der Cash Box und Platz 11 in den Billboard-Charts. Ich ging die Straße hinunter und hörte die Nummer laut aus den Fenstern und aus den vorbeifahrenden Autos dröhnen. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt – beinahe schon dreiundzwanzig – und hatte einen Riesenhit! Und dank Donalds Ratschlag hinsichtlich des Musikverlags sollte ich endlich ordentliches Geld verdienen!
Nach dem Erfolg von Mongos Version von „Watermelon Man“ erteilte ich dem Urheberrechtsanwalt Paul Marshall ein Mandat, der mir riet, mich bei der BMI als Verlag registrieren zu lassen und nicht nur als Komponist.