Lisa Dickey

Möglichkeiten


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mehr zur Verfügung standen. Somit rasselte ich bei einigen Prüfungen durch.

      Es war das zweite Semester des zweiten Universitätsjahres, und das Datum für das Konzert lag knapp vor den Abschlussprüfungen. Als der Tag näherrückte, ging ich gar nicht mehr zu den Vorlesungen – ich hatte einfach viel zu viel zu tun! Ich arbeitete Tag und Nacht mit den Musikern und schlief kaum. Doch als der große Tag anbrach, waren wir bereit. Oder besser gesagt, so bereit, wie wir sein konnten.

      Das Konzert fand im Mai 1958 im Alumni Recitation Hall Auditorium statt. Die Zuschauer hatten niemals daran gedacht, in Grinnell, Iowa, ein Jazz-Konzert zu hören. Bedenkt man die niedrig angesetzten Erwartungen, klangen wir fantastisch. Bei jedem Song klatschte und jubelte das Publikum frenetisch. Ich liebte die Bühnenerfahrung der Improvisation mit einer Gruppe von Jazz-Musikern, sich gehen zu lassen, egal welche Richtung ich einschlagen wollte. Der ganze Abend fühlte sich magisch an.

      Doch dann kam der eklige Weckruf zurück in die Realität: Ich hatte die Seminare so einschneidend ignoriert, dass die Gefahr wie ein Damoklesschwert über mir schwebte, von der Uni geworfen zu werden, würde ich nicht die Abschlussprüfung mit akzeptablen Noten bestehen. In der nächsten Woche „prügelte“ ich mir alles in den Schädel. Als ich bei den Prüfungen auftauchte, schienen einige Professoren, die mich schon seit Wochen nicht mehr gesehen hatten, erstaunt zu sein. Meine Eltern wären bei einem Versagen wie am Boden zerstört gewesen, und so versuchte ich verzweifelt, zumindest so gute Resultate abzuliefern, dass ich weiterstudieren durfte.

      Und irgendwie gelang mir das. Ich bestand alle Abschlussprüfungen, womit ich das Semester mit dreimal Note „gut“ und einem „befriedigend“ abschloss. Ein Professor zeigte sich davon so verblüfft, dass er glaubte, ich hätte geschummelt. Er bestellte mich in sein Büro und wollte nachdrücklich wissen, wie mir die guten Abschlüsse gelungen seien, da ich doch fast das gesamte Semester gefehlt hätte. Er begann mich mit Fragen zu löchern und wollte prüfen, ob ich den Lernstoff tatsächlich nachweisen konnte. Ich war zum Glück in der Lage, ihm die Antworten zu liefern, weshalb er schließlich nachgeben musste.

      Danach zog ich mich völlig erschöpft in meine Studentenbude zurück und starrte in den Spiegel. Ich sah verdammt schlecht aus, hatte blutunterlaufene Augen. „Was willst du werden?“, fragte ich das Gesicht im Spiegel. Ich versuchte mein Möglichstes, um mich dem Studiengang Elektrotechnik anzupassen, doch es lag auf der Hand, wohin mich die Leidenschaft zog. Zu dem Zeitpunkt gab es keine Wahlmöglichkeit mehr. Und so entschied ich mich an dem Tag für das Hauptfach Musik.

      Als ich die Einführungskurse des ersten Jahres besuchte, war ich erleichtert, schon beinahe den gesamten Lernstoff draufzuhaben. Ich hatte schon so viel Zeit mit den Themen Theorie, Harmonie und Struktur verbracht, dass ich die Seminare übersprang und nur zur Abschlussprüfung erschien.

      Um mir etwas zusätzliches Geld zu verdienen, jobbte ich in der Mensa des Studentenwerks, nahm Bestellungen entgegen und bediente die Gäste. An einem Wochenende hatte ich einen Gig als Pianist in Des Moines und war regelrecht geschockt, als ich herausfand, dass ich für den einen Abend mehr erhielt als für eine Woche in der Mensa. Die Erkenntnis verwirrte mich: die Vorstellung, all die langen Stunden Essen durch ein Restaurant zu schleppen, wenn ich doch so viel mehr bei einer Tätigkeit verdienen konnte, die ich liebte. Von dem Moment an war es mir unmöglich, in der Mensa zu arbeiten, und ich schmiss den Job.

      Der Trip nach Des Moines stellte sich jedoch nicht als so angenehm heraus, was wie eine Ironie des Schicksals anmutete. Der Gig lief gut, doch danach geschah etwas Merkwürdiges: Ich war damals achtzehn Jahre alt, doch die in dem Nachtclub spielenden Typen hatten schon von mir gehört. Ich erklärte mich bereit, mit ihnen in Des Moines aufzutreten, plante aber schon, in den frühen Morgenstunden zur Grinnell zurückkehren, um das Geld für ein Hotelzimmer zu sparen. Einer der Musiker bot mir jedoch an, in dem Haus zu übernachten, das er und seine Frau bewohnten. Ich dachte: Cool! Ein kleines Abenteuer! Der Typ war ein waschechter Profimusiker, und ich würde bei ihm abhängen.

      Der Gig endete um etwa zwei Uhr morgens. Als ich mit ihm zum Wagen ging, meinte er: „Ich muss noch einige Male einen Zwischenstopp einlegen, bevor ich nach Hause fahre.“ Ich antwortete: „Das stört mich nicht.“ Mir war es egal, wohin es ging, denn ich freute mich über die gemeinsame Fahrt.

      Beim Wagen warteten noch einige andere Leute, und wir quetschten uns ins Auto. Der Typ fuhr vom Parkplatz los, und schon kurz darauf stoppten wir vor einem Haus. Sobald wir die Auffahrt hochfuhren, gingen alle Lichter in dem Gebäude an. Ich fand das ein wenig seltsam – warteten die etwa auf uns? Jemand sprang aus dem Auto, hastete zur Vordertür und kam mit einer kleinen Papiertasche zurück. Danach ging es zu einem anderen Haus, wo wir die Frau des Musikers abholten. Ich bemerkte voller Verwirrung, dass sie zitterte, obwohl es draußen noch sehr warm war.

      Wir hielten noch einige Male an, um Mitfahrer abzusetzen, und dann saßen nur noch der Musiker, seine Frau und ich in dem Gefährt. Er fuhr zu seinem Haus, und wir gingen über eine Hintertreppe in das Gebäude. Als er die Tür öffnete, klappte meine Kinnlade runter: Es war ein winzig kleiner Raum mit nur einem Bett. Der Typ und seine Frau legten sich hin und winkten, ich solle mich zu ihnen gesellen.

      „Willst du high werden?“, fragte er mich, dabei den Inhalt der Papiertüte über die Matratze ausbreitend. Ich schaute auf die herausgefallene Injektionsnadel und das kleine Tütchen mit Pulver und antwortete: „Nein, vielen Dank.“ Ich war zuvor noch nie von irgendeiner Substanz high gewesen und hatte auch nicht vor, mich von dem Zeug abhängig zu machen. Doch ich war neugierig und fragte: „Kann ich dabei zusehen?“ Wenn ich schon mal hier war, wollte ich auch wissen, wie man so was macht.

      Ich beobachtete ihn, wie er das Pulver vorsichtig in einen Löffel mit ein wenig Wasser schüttete, das Feuerzeug anmachte und dann die Unterseite erhitzte. Das Pulver verwandelte sich in eine schwarze Flüssigkeit, die er in die Spritze füllte. Er band seinen Arm mit einem Plastikschlauch ab, klopfte auf die Vene, so wie man es im Kino sah, und setzte sich den Schuss. Seine Frau zitterte, weil sie von einem High runterkam, doch als er ihr die Spritze anbot, griff sie zu. Ich konnte kaum glauben, dass ich hier saß und sie beim Fixen beobachtete, ihre Gesichter musterte, um eine Veränderung zu erkennen, und wurde zunehmend nervös. Würden sie auf komische Gedanken kommen?

      Offensichtlich hielten sie nicht viel vom dem Stoff, denn nach einiger Meckerei meinte der Typ: „Wir werden jetzt schlafen.“ Ich dachte: Okay, und wo zum Teufel soll ich pennen?

      Schließlich lag ich auf der einen Seite des Betts, der Typ in der Mitte und seine Frau auf der anderen. Ich glaube, ich war so nervös, dass ich die ganze Nacht kein Auge zutat. Sie schienen mir nicht besonders high zu sein, doch ich hatte bislang keinen Kontakt zu Junkies gehabt. Was wusste ich schon? Was härtere Drogen anbelangte, war ich ein Novize, obwohl ich kürzlich mit dem Trinken begonnen hatte. Ich empfand das hier als eine mir unbekannte Welt. Bislang hatten mich Drogen nicht angezogen, doch das sollte sich noch ändern.

      1960 verließ ich die Grinnell und kehrte nach Chicago zurück, nur eine Prüfung von einem regulären Abschluss entfernt, denn ich war in meinem ersten Jahr bei einem Seminar durchgefallen. Ich wollte den Abschluss, doch ich brannte für den Jazz, für das ernsthafte Spielen, und die Grinnell war sicherlich nicht der Ort dafür.

      Ich zog zurück zu meinen Eltern und nahm während der Suche nach Arbeit für einen Pianisten einen Job bei der Post an. Meine Aufgabe bestand darin, fünfmal täglich Post zuzustellen, und wenn ich Gigs hatte, machte ich von einundzwanzig Uhr bis vier oder fünf Uhr am Morgen Musik. Die Arbeitszeiten stellten sich als brutal heraus, denn mir blieb fast keine Zeit für Schlaf. Meist musste ich noch den Zug zu und von den Gigs nehmen. Im „L“ sackte ich vor Erschöpfung zusammen, während er in den frühen Morgenstunden an der South Side entlangratterte.

      Doch ich brauchte den Job bei der Post, denn ich verdiente noch nicht genügend mit den Auftritten. Und so trug ich im Herbst 1960 immer noch Briefe aus, als mich ein Anruf von Coleman Hawkins erreichte. Hawkins war ein legendärer Saxofonist, der Mann, der das Sax im Jazz popularisierte und an die „vorderste Front“ brachte. Er spielte schon seit den frühen Zwanzigern, als er seine Karriere mit Mamie Smith’s Jazz Hounds begonnen hatte. In den darauffolgenden vier Jahrzehnten war er mit all den großen Namen aufgetreten: Louis Armstrong,