Lisa Dickey

Möglichkeiten


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wo sie einen ungefähr 35 Kilogramm schweren Ventilator abmontierten. Die Fahrt endete an den Ufern des Tallahatchie River, wo man Till in den Kopf schoss, den Ventilator als Gewicht an seinem Hals befestigte und ihn dann ins Wasser warf.

      Drei Tage danach fanden im Fluss fischende Kinder den Leichnam Tills. Seine trauernde Mutter bestand darauf, dass man den Körper ihres Sohnes in einem Piniensarg aufbahrte und mit dem Zug nach Chicago überführte, statt ihn in Mississippi zu beerdigen. Der Sarg erreichte A. A. Rayners Bestattungsunternehmen Anfang September. Als Tills Mutter das schrecklich entstellte Gesicht ihres Sohns erblickte, entschied sie sich, bei der Beerdigung den Sarg offen zu lassen, damit die ganze Welt sehen konnte, was diese Männer in Mississippi Till angetan hatten.

      Zufälligerweise fuhren wir exakt an dem Tag der Ankunft von Tills sterblichen Überresten an Rayners Bestattungsunternehmen vorbei, das nicht weit entfernt von unserem Apartment in der South lag. Ich beobachtete weinende Menschen, die aus der Tür herausstolperten, und sah schockiert, wie ein tränenüberströmter und verzweifelt um Worte ringender Mann auf die Straße trat und mit in den Himmel gestreckten Händen hilflos gestikulierte. Niemals zuvor hatte ich Menschen so außer sich gesehen, und das verängstigte mich zutiefst.

      Das Jet-Magazin publizierte eine Nahaufnahme von Tills verschwollenem und verunstaltetem Antlitz. Obwohl meine Eltern versuchten, uns davon abzuschirmen, überkam mich die Neugier. Als ich das Magazin nahm, zum Foto blätterte und es sah, überwältigten mich panische Angst und Entsetzen. Egal, wie sehr ich auch geglaubt hatte, meine Gefühle zu kontrollieren – nichts hätte mich darauf vorbereiten können, das grausam entstellte Gesicht eines Jungen meines Alters zu sehen, aus meiner Nachbarschaft, den man für eine Lappalie brutal ermordet hatte. Wochen danach noch plagten mich Albträume.

      Die Radiosendung des WGES-DJs Al Benson stellte meinen erstmaligen Kontakt zum Jazz her. Bekannt als der „Godfather of Chicago Black Radio“ legte Benson den ganzen Tag Platten auf, meist Blues oder R&B, gewürzt mit einer gelegentlichen Jazz-Nummer. „Moonlight In Vermont“ – gespielt von dem Gitarristen Johnny Smith, mit Stan Getz am Tenorsax – war die erste Jazz-Performance, die ich bewusst wahrnahm. Es war eine Ballade, einfach ein schöner Song, den ich mochte, aber sicherlich keine Offenbarung des Jazz. Zum Erscheinungstermin im Jahr 1952 hörte ich wie auch die anderen Kids in der Nachbarschaft überwiegend R&B.

      Meistens standen wir an Straßenecken, sangen und imitierten unsere Lieblingsgruppen – die Orioles, die Midnighters, die Five Thrills und die Ravens. Später hörte ich die Four Freshmen, ein Gesangsquartett, das Mitte der Fünfziger mit Songs wie „Mood Indigo“ und „Day By Day“ berühmt wurde.

      Die Four Freshmen sangen Harmonien, die weit entfernt von den sogenannten Vier-Part-Barbershop-Tonschichtungen entfernt lagen, die in den Dreißigern populär gewesen waren. Sie sangen eher jazzige Harmonien mit großen Septimen und sogar einigen Nonen-Akkorden, die mich faszinierten und dazu brachten, selbst den Gesang zu erlernen. Ich liebte auch die Hi-Lo’s, eine weitere Vokalgruppe, deren Pianist Clare Fisher viele ihrer Songs arrangierte. Fishers Arrangements übten einen unglaublichen Einfluss auf mein Verständnis harmonischer Zusammenhänge aus.

      Ich liebte die Art des Gesangs so sehr, dass ich in der Hyde Park meine eigene Gesangsgruppe gründete. Obwohl mich R&B und benachbarte musikalische Genres interessierten, kam es mir nie in den Sinn, etwas anderes als klassische Musik auf dem Klavier zu spielen.

      Meist spielte ich bei den Proben des Highschool-Orchesters, um die Geiger und andere Instrumentalisten zu unterstützen, die mühselig ihre Stimmen lernten. Allerdings trat das Orchester nie mit einem Pianisten auf, weshalb ich bei Konzerten Becken und generell Percussion übernahm. Die Hyde Park hatte auch eine Tanzband, deren Pianist Don Goldberg hieß. Er war zwar in meiner Stufe, doch ich hatte ihn damals noch nicht kennengelernt. Don spielte in einem Schüler-Jazz-Trio. Als ich sie schließlich an einem Nachmittag in meinem zweiten Jahr sah, machte er etwas, das mein Leben radikal veränderte: Jedes Semester führte die älteste Stufe eine Varieté-Show für alle Klassen auf. Dons Trio – Klavier, Kontrabass und Drums – ging auf die Bühne, und als sie zu spielen begannen, beobachtete ich natürlich sein Spiel. Sein Auftritt haute mich förmlich um, denn er improvisierte! Ich hatte keine Ahnung, dass das Jungs in unserem Alter konnten, denn ich dachte immer, dass nur ältere Musiker improvisierten. Bitte denken Sie daran – „älter“ bedeutete für mich: mit vierzehn, neunzehn oder zwanzig Jahren.

      Seit dem Alter von sieben Jahren hatte ich Klassik gespielt und war somit ziemlich gut im Notenlesen, doch Don konnte etwas auf meinem Instrument, das mir bisher vorenthalten war. Er selbst kreierte die Musik, exakt in dem Moment, und las sie nicht von einem Blatt Papier ab! Mein Herz begann wie verrückt zu rasen, und nachdem das Trio die drei Stücke beendet hatte, hetzte ich zur Garderobe, wo ich Don fand. Schnell stellte ich mich vor, und dann konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.

      „Mann, wo hast du nur gelernt, so zu spielen? Ich habe überhaupt nicht verstanden, was du gemacht hast, stand aber total drauf. Ich will das auch lernen – lernen, wie man Jazz spielt.“

      Don lachte und meinte: „Tja, wenn dir mein Spiel gefiel, solltest du dir als Erstes unbedingt eine Platte von George Shearing besorgen.“ Er riet mir, Shearings Stil anzuhören und danach die Parts zu imitieren, die ich mochte. So hatte er es gelernt und war im Alter von fünfzehn Jahren schon ziemlich gut in der Improvisation.

      Als der Schulbus mich nachmittags absetzte, rannte ich nach Hause, raste durch die Wohnungstür und rief: „Mama! Wir müssen uns unbedingt Platten von George Shearing kaufen!“ Sie starrte mich an, als hätte ich drei Köpfe. „Herbie“, meinte sie ungläubig, „du hast doch schon welche.“

      „Nein, Mama“, entgegnete ich. „Du verstehst mich nicht. Wir brauchen ganz dringend George Shearing-Platten. Nicht irgendwelche Platten.“

      „Herbie“, antwortete sie belehrend, „kannst du dich an letztes Jahr erinnern, als ich dir einige Platten mit nach Hause brachte? Du warst sauer auf mich, weil du andere wolltest, hast gesagt, es seien die falschen. Das waren Platten von George Shearing! Geh, schau mal in den Schrank.“

      Ich ging durch das Wohnzimmer zum mit 78ern gefüllten Schrank, und da standen sie: Alben von George Shearing und seinem Quintett. Ich hatte sie mir niemals angehört, immer den Jazz als die Musik der Älteren empfunden, als etwas, das irrelevant für mich war. Aber nun – dank des Erlebnisses, einen Gleichaltrigen beim Improvisieren gesehen zu haben – fand ich die Musik aufregend und wollte sie selbst machen.

      Ich ließ die 78er aus der Hülle in meine Hand gleiten und legte sie auf den Plattenteller. Dons Trio hatte drei Songs des George Shearing Quintett aufgeführt: „Lullaby Of Birdland“, „I’ll Remember April“ und „A Nightingale Sang In Berkeley Square“. Ich setzte die Nadel bei „I Remember April“ auf und erkannte, während ich mir das Stück anhörte, dass es stark nach Don klang! Das verriet mir alles – wenn Don das spielen konnte, warum sollte ich es nicht können? An dem Nachmittag versuchte ich, es zu erlernen.

      Die ersten Ansätze waren schrecklich. Ich klang so, wie ich immer spielte, wie ein Klassiker, der das Improvisieren zu erlernen versucht. Doch dann kam mir die Liebe zur Mechanik und den Wissenschaften in den Sinn, und ich entschied mich, die Improvisation auf demselben Weg zu erkunden, wie ich eine Uhr auseinandernahm: analytisch. Ich suchte mir eine Phrase aus, die mir gefiel, und hörte die Töne heraus, indem ich sie mir wieder und wieder anhörte – auch wenn ich nur eine Einzelton-Improvisation mit der rechten Hand fand. Danach versuchte ich, über die Melodie hinaus die improvisierten Abschnitte zu hören, um die einzelnen Töne einzugrenzen, die ich für mein Spiel benötigte.

      Waren die richtigen Noten erst mal gefunden, spielte ich zu der Aufnahme. Doch am Anfang hatte ich den Eindruck, als gelänge es mir nicht, den einzelnen Tönen den gleichen Charakter zu verleihen, woraufhin ich zur nächsten Phrase überging und danach längere und längere Phrasen lernte, bis ich sie endlich im Einklang mit dem spielen konnte, was ich auf der Platte hörte.

      Ich arbeitete weiter, fand neue Phrasen, die ich mochte, und transkribierte sie auf Notenpapier. Damals wusste ich es noch nicht, aber ich absolvierte im Grunde genommen ein Hörtraining, da ich zeitgleich zum Lernen der Abschnitte mein Gespür für