ich eine Aktivität gefunden, bei der ich genauso gut sein konnte wie mein Bruder und seine Freunde. Wayman erwies sich als großartiger Pianist, doch er hatte nicht meine obsessive Konzentrationsfähigkeit, und schon nach kurzer Zeit spielte ich besser als er. Als das Klavier erst einmal in unserer Wohnung stand, habe ich nie mehr mit Wayman und seinen Freunden Sport getrieben.
In unserem Viertel fand man es übrigens cool, Klavier zu spielen! Da ich so klein war, wurde ich von anderen Kindern manchmal herumgeschubst. Das geschah einmal direkt vor dem Big House, wo einige Kids mich niederrissen und auf mich drauf sprangen. Doch als es erst mal die Runde gemacht hatte, dass ich Klavier spielte, fand ich mich in einer höheren Liga wieder. Musik zu machen, veränderte alles in meinem Leben. Ich hatte ein Ziel und das Bestreben, es zu erreichen. Die anderen sahen mich plötzlich in einem anderen Licht, doch am wichtigsten war meine neue Selbstwahrnehmung.
Im Alter von elf Jahren meldete mich Mrs. Jordan beim jährlich stattfindenden Wettbewerb des Chicago Symphony Orchestra an. Als Teil der Jugendförderung lud das CSO Schüler ein, um einen Satz aus einem Konzert vorzuspielen. Dem Gewinner wurde die Ehre zuteil, das Stück live mit dem CSO aufzuführen.
Damals hatte ich schon vier Jahre Unterricht genommen und meine Zeit fast ausschließlich mit Klavierspiel verbracht. Ich übte ein Jahr lang beinahe täglich Mozarts 18. Klavierkonzert in B-Dur, KV 456, und war mehr als bereit zum Vorspielen. Man hielt den Wettbewerb in der Orchestra Hall ab, heute bekannt als das Symphony Center. Von jedem Schüler wurde ein Soloauftritt erwartet, in Gegenwart des zweiten Dirigenten George Schick.
Ich betrat die Bühne, setzte mich ans Piano und schaute auf die Zuschauerreihen hinunter. Dort saß Mrs. Jordan, und ich bemerkte auch zwei andere Ladys, die hereinkamen und neben ihr Platz nahmen. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Klavier, und von dem Moment an, in dem ich die ersten Töne anschlug, schien die Welt um mich herum nicht mehr zu existieren. Ich spielte den ersten Satz, und erst, nachdem die letzten Töne verklungen waren, schaute ich auf.
Tja, das war sehr gut, dachte ich. Als ich die Bühne verließ, ging ich zu Mrs. Jordan, die mich drückte und mir versicherte, dass ich gut gespielt habe. Sie verriet mir, dass die beiden Frauen auch Klavierlehrerinnen seien und dass beide nach Ende des Vorspielens geweint hätten. Für einen Elfjährigen kam so ein Urteil einem Rausch gleich.
Wenige Monate darauf fand ich in der Post eine Karte mit der Aufschrift „Herzlichen Glückwunsch“. Ich hatte den Wettbewerb gewonnen und erhielt somit die Einladung, am 5. Februar 1952 mit dem Chicago Symphony Orchestra aufzutreten. Unglücklicherweise stand auf der Postkarte, dass das CSO sich nicht in der Lage sehe, für das von mir vorgetragene Konzert die Orchester-Partituren zu besorgen. Somit musste ich ein neues Stück erlernen oder diese großartige Chance verstreichen lassen.
Ich starrte schockiert auf die Postkarte. Wie konnte das nur sein? Während eines ganzen Jahres hatte ich das Konzert in- und auswendig gelernt, und nun standen mir nur wenige Monate zur Verfügung, ein brandneues einzuüben. Und hier ging es nicht um einen simplen Vortrag, es handelte sich um mein Bühnendebüt mit dem Chicago Symphony Orchestra. Ich wollte mir die Chance auf gar keinen Fall entgehen lassen – auf gar keinen Fall! Und so wählten wir ein neues Konzert aus – das 26. Klavierkonzert in D-Dur, KV 537 –, und ich begann, fieberhaft zu üben. Ich spielte das Stück Stunde um Stunde, und als der Konzerttermin immer näher rückte, konnte ich es gut, wenn auch nicht so gut wie Nummer 18.
Schließlich war der große Abend gekommen. Ich stand nicht an erster Stelle des Programms, weshalb ich nervös an der Bühnenseite verharrte, während das Orchester sein erstes Stück aufführte. Neben dem Podium des Dirigenten befand sich ein Fahrstuhlschacht. Kurz vor dem Auftritt wurde damit ein Konzertflügel hochbefördert und in Position gebracht. Ich holte tief Luft, ging auf die Bühne und nahm vor dem großen Instrument Platz.
Ich muss beim Rausgehen wohl recht niedlich gewirkt haben, denn mit elf war ich noch sehr klein und schmächtig. Nur mit Müh und Not ließen sich die Pedale des Flügels erreichen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was ich trug, glaube aber, es waren ein Jackett, kurze Hosen und Kniestrümpfe. Doch in dem Moment, als ich mit dem Stück begann – das ähnelte dem Vorspiel –, verschwand die Welt um mich herum. Nur noch ich und die Musik existierten.
Am Ende des Konzerts explodierte das Publikum förmlich mit einem lauten Applaus, und einige Leute baten mich sogar um ein Autogramm. Ich schrieb eines für ein Mädchen meines Alters, sorgfältig darauf achtend, „Herbert Hancock“ in einem geschwungenen Zug aufs Papier zu setzen. Stolz erfüllte mich und zugleich Erleichterung, das neue Konzert in so kurzer Zeit gelernt zu haben.
Ein oder zwei Wochen später erhielt ich von Mrs. Jordan eine Einladung zu einem Konzert der britischen Pianistin Dame Myra Hess in der Chicago Symphony als eine Art Geschenk zu meinem Erfolg. Als wir das Programmheft sahen, erstarrten wir beinahe von Verblüffung: Mozarts 18. Klavierkonzert in B-Dur, KV 456! Irgendwie war es ihnen gelungen, die Noten für das Orchester aufzutreiben. Vielleicht waren sie aber auch nie verschwunden gewesen? Es wäre leichtgefallen, misstrauisch zu sein, die Frage aufkommen zu lassen, ob das CSO einen kleinen afroamerikanischen Jungen habe entmutigen wollen, der jeden erstaunt und den prestigeträchtigen Wettbewerb gewonnen hatte. Für einen Schwarzen, der in den USA der Vierziger und Fünfziger aufwuchs, gehörten die rassistischen Seitenhiebe zu einem Teil des Lebens. Doch schon mit elf Jahren tendierte ich dazu, mögliche Anzeichen von Rassismus zu ignorieren, statt ihnen Gewicht einzuräumen. Das lag einfach in meiner Natur.
In der Highschool sah ich zum ersten Mal einen weißen Schüler. Während der Zeit in der Grundschule in Forestville waren alle schwarz gewesen, bis auf die Ausnahme einiger Lehrer. In meinem Viertel lebten keine weißen Familien, und da ich im Grunde genommen nirgendwo hinging, traf ich auch nie Andersfarbige. In unserem Teil von Chicago waren die einzigen Weißen, denen man begegnete, Menschen, die Geld von einem haben wollten – der Mann von der Versicherung oder der Vermieter.
Nur durch die Geschichten und Erzählungen meines Vaters erfuhr ich etwas über die weißen Kids. Er hatte die ersten Jahre seines Lebens in einem von der Rassentrennung gekennzeichneten Süden verbracht, wonach er eine gemischte Grundschule in Chicago besuchte, in der er oft in Schlägereien verwickelt wurde. Als ich das erste Jahr in der Hyde Park High School begann – drei Viertel aller Schüler waren weiß –, verhielt ich mich verständlicherweise vorsichtig und wachsam.
Ich hatte eine Klasse in der Grundschule übersprungen und war somit noch sehr jung für einen „Freshman“ – erst zwölf, als ich erstmalig einen Fuß in die Hallen der Hyde Park setzte. Eigentlich mussten wir die Highschool nicht besuchen, denn wir lebten nicht im Hyde Park District, doch die akademische Ausbildung war eindeutig besser, weshalb sich Mom fest entschlossen zeigte, uns dorthin zu schicken.
Da eine Tante und ein Onkel in dem Viertel wohnten, benutzten meine Eltern deren Adresse, als sie uns anmeldeten.
Als ich am ersten Tag meines Freshman-Jahrs zur Highschool ging, schwirrten die ganzen Geschichten in meinem Kopf herum, die mir Dad erzählt hatte. Ich erwartete, dass etwas Schlimmes passieren würde, und bereitete mich auf eine Prügelei vor, doch zu meiner großen Überraschung waren die weißen Kids – einfach ganz normale Kids. Nach dem ersten Schultag rannte ich nach Hause, riss die Tür zu unserer Wohnung auf und schrie: „Mama! Mama! Sie sind ja so wie wir!“ Aus heutiger Sicht klingt das albern und naiv, aber damals stellte das für mich eine große Überraschung dar.
Die Hyde Park war eine liberale Schule, und so empfanden wir uns als fortschrittlich, was die verschiedenen Nationalitäten und andere Themen anbelangte. Doch so fortschrittlich wir uns selbst einschätzten, es waren immer noch die Fünfziger, und viele Menschen runzelten die Stirn, wenn sie sahen, dass Schwarze ein Rendezvous mit Weißen hatten. Allerdings erlebte ich offenen Rassismus eher seitens entfernter Verwandter und nicht seitens der Highschool-Freunde. Verglichen mit der Verwandtschaft hatte ich eine dunklere Hautfarbe, und in schwarzen Familien stellt das ein leichtes Angriffsziel dar. Wenn ich manchmal aus der Rolle fiel, nannte man mich einen „bösen schwarzen Schurken“. Doch so gut ich mich erinnern kann, beschimpfte mich