energisch genug einzufordern. Manchmal kaufte er als eine Art Großhändler für andere Familiengeschäfte voluminöse Fleischstücke von den Schlachthöfen, was in die gleiche Story mündete. Er gewährte ihnen einen Kauf auf Pump und brachte es nicht übers Herz, das ausstehende Geld zu verlangen. Dads Großzügigkeit gefährdete seine geschäftliche Existenz, und er verkaufte schließlich das Geschäft. Während ich aufwuchs, ging er verschiedensten Jobs nach, ungelernten Tätigkeiten wie der als Bus- und Taxifahrer, da er ja nur zwei Jahre auf der Highschool gewesen war. Letztendlich stieg er allerdings zum behördlichen Fleischbeschauer in den Chicagoer Schlachthöfen auf.
Meine Onkel sahen meinen Vater als Helden, der sich für sie geopfert hatte. Was seine mangelnde Bildung betraf, zog ihn Mutter jedoch manchmal mit scharfer Zunge auf gemeine und rechthaberische Weise auf, nannte ihn dumm oder wählte noch schlimmere Wörter. Sie machte das nicht oft, und es ließ sich meist auf ihre Erkrankung zurückführen, doch sie wusste genau, wie man Sprache einsetzte, um ihn zu verletzen.
Ich war mir dessen bewusst, dass sich meine Eltern liebten, und beobachtete, wie geduldig Vater mit Mom umging, sogar wenn sie sich in ihrer „starrsinnigen“ Phase befand. Doch manchmal wurden aus ihren Tobsuchtsanfällen regelrechte Übergriffe. Eines Nachmittags sah ich Dad zufällig in seinem Unterhemd und entdeckte auf dem ganzen Rücken Kratzspuren. Er redete auch später nie darüber. Ich habe niemals erlebt, dass er auch nur ein einziges negatives Wort über Mutter verlor. Egal, wie launisch und sprunghaft sie sich verhielt, er gab sich immer ausgeglichen und beständig. Darin liegt vermutlich der wichtigste Grund, warum ich mich an meine Kindheit als eine stabile, glückliche Zeit erinnere.
Doch dafür gab es auch noch einen weiteren Grund: Schon als kleines Kind tendierte ich dazu, eher das Gute und nicht das Schlechte in verschiedenen Situationen zu sehen. Nicht, weil ich versuchte, ein tugendhafter Mensch zu sein oder es anderen zu zeigen – ich habe die negativen Aspekte einfach nicht wahrgenommen oder ihnen Aufmerksamkeit geschenkt. Ich bin von ganzem Herzen ein Optimist – und dies immer gewesen.
Jahre, nachdem meine Schwester Jean von Chicago fortgezogen war, verfasste sie einen knappen Lebenslauf für ein Seminar. Und sie beschrieb das Umfeld, in dem wir aufgewachsen waren, folgendermaßen:
Die Mädchen wurden schon in der Pubertät schwanger, die Jungs verehrten die Heroindealer und kopierten schließlich deren Angewohnheiten. Der Tratsch in der Küche drehte sich um den Kauf gestohlener Waren, die Messerstechereien am Wochenende und die „Berufswahl“ einer netten jungen Lady mit einem schönen Körper. Bei uns gab es – was die Geschäfte anbelangte – überwiegend Schnapsläden, stinkende Gemischtwarengeschäfte, gut gesicherte Wechselstuben und schäbige Billigläden …
Konnte das alles wahr sein? Ich schätze mal, ja. Aber wenn ich mich an unsere Nachbarschaft entsinne, denke ich an das Murmelspielen mit meinem Bruder oder daran, wie ich im Geschäft meines Dads Goldenrod-Eiscreme bekam oder mit Freunden an einer Ecke stand und R&B-Songs von Gruppen wie den Five Thrills oder den Ravens sang. Seit ich mich erinnern kann, tendiere ich dazu, die gute und nicht die schlechte Seite einer Sache zu sehen. Es ist ein Charakterzug, der mich glücklich stimmt.
Einige ältere Brüder wollen sich nicht mit ihren jüngeren Geschwistern abgeben, doch mein Bruder Wayman verhielt sich anders. Obwohl drei Jahre älter, nahm er mich überallhin mit.
Er liebte Spiele und Sport, und so nahm er mich zum Murmelspielen mit oder zum Softball, obwohl ich darin schrecklich schlecht war. Für mein Alter war ich klein geraten und hatte auch kein Interesse an Sport, doch er schien es trotzdem zu mögen, mich bei sich zu haben.
Wayman erinnert sich an ein spezielles Softball-Spiel, in dem sein Team zwanzig Runden vorne lag und er mich ermutigte, es als Pitcher zu versuchen. Ich war ungefähr sechs Jahre alt, und sie stellten mich nahe an die Base, doch ich konnte keine Strikes erzielen. Ich ging dann näher heran, doch es klappte immer noch nicht. Als ich endlich einen Ball weit genug geworfen hatte, jubelte das ganze Team.
Die Beziehung zu meiner Schwester lässt sich hingegen als schwierig beschreiben. Jean war das einzige Mädchen und zudem die Jüngste in der Familie, wodurch sie sich manchmal ausgeschlossen fühlte. Sie versank in eine regelrechte Frustration, denn sie wollte zu den Jungs gehören. Einmal erwischten wir Jean, als sie im Badezimmer versuchte, im Stehen zu pinkeln, woran wir sie natürlich immer erinnerten.
Jean war zwar drei Jahre jünger als ich, doch sie konnte so clever und scharfzüngig wie meine Mutter sein. Da sie so klug war, fiel es ihr leicht, sich verbal in allen Situationen durchzusetzen. Hatte sie sich erst mal eine Meinung gebildet, verbiss sie sich wie eine Bulldogge darin. Eigentlich hätte sie als Siegerin aus jeder Debatte gehen können, da sie genau wusste, wie man Auseinandersetzungen provozierte und manipulierte. Wir kamen gut miteinander aus, doch wenn wir stritten, drängte sie mich immer in eine Ecke. Einmal war ich sogar so genervt, dass ich sie schlagen wollte. Doch meist, zumindest in unserer frühesten Kindheit, verstanden wir uns gut.
Obwohl jünger, wirkte Jean manchmal einschüchternd. Sie verhielt sich dann stürmisch, und sowohl sie als auch Mutter wussten, wie man andere verbal verletzte. Mom und meine Schwester hatten oft Auseinandersetzungen, vielleicht, weil sie sich in ihrer Angriffslust so sehr ähnelten. Die bipolare Erkrankung meiner Mutter eskalierte während der Kinderjahre von Jean, weshalb sie, verglichen mit uns, bereits in jungen Jahren die ganze Wucht des Verhaltens in einem stärkeren Ausmaß zu spüren bekam.
Meine Schwester zog in ihrem Leben in vielerlei Hinsicht oftmals den Kürzeren, obwohl sie daran nicht die Schuld trug. Sie war brillant, übersprang in der Schule die Klassen, brachte sich selbst das Gitarrenspiel bei und trieb Sport. Sie konnte fast alles besser als andere Menschen, doch für eine junge schwarze Frau, die in den Fünfzigern und Sechzigern aufwuchs, gab es nur wenige Ausnahmen von der Regel und noch weniger Möglichkeiten. Sie musste sich um alles über die Maßen bemühen und kämpfen, worüber ich erst Jahre später gründlich nachdachte, nach Ende ihres allzu kurzen Lebens.
Zu dem Zeitpunkt realisierte ich, wie sehr Jean meine Anerkennung brauchte. Sie war ein zutiefst leidenschaftlicher Mensch, deutlich passionierter als ich selbst, hochemotional, wohingegen ich tendenziell zu Rationalität und vernunftgeleitetem Handeln neige. Manchmal versuchte sie bei mir, Reaktionen zu provozieren, doch ich erkannte den Beweggrund dafür nicht. Es war keine Provokation an sich, sondern ein Bedürfnis ihrerseits, Anerkennung zu erlangen. Wie bei so vielen Themen, die mich nicht direkt bewegten, verschwendete ich kaum einen Gedanken daran. Ich tendierte schon immer dazu, mich auf das unmittelbar vor mir Liegende zu konzentrieren. Das ist der Grund, warum ich die Nuancen im Leben anderer nicht bemerke und das, was mit ihnen geschieht.
Schon von frühester Kindheit an verfügte ich über die Fähigkeit – eigentlich ist es sogar eine Art Zwang –, mich in meiner jeweiligen Tätigkeit komplett zu verlieren. Ich war von mechanischen Objekten regelrecht besessen und verbrachte Stunden damit, Uhren bzw. Armbanduhren auseinanderzunehmen, um mir ihr Innenleben anzuschauen. Mich überkam ein regelrechter Drang, die Mechanik eines Gegenstands zu verstehen, und wenn ich es nicht kapierte, schirmte ich mich mental ab und fokussierte mich obsessiv auf die Lösung. Zuerst inspizierte ich alle nur erdenklichen Gerätschaften, die ich im Haus fand. Nachdem mir meine Eltern das Klavier geschenkt hatten, lenkte ich mein obsessives Fokussieren dann auf das Erlernen des Instruments.
Als das Klavier in unserer Wohnung stand, wollte ich nur noch spielen. Mein Bruder und ich nahmen Stunden bei derselben Lehrerin, einer gewissen Mrs. Jordan, die etwa ein Dutzend schwarzer Schüler unterrichtete. Wir erlernten die Klassik, was auf alle anderen schwarzen Kids zur damaligen Zeit auch zutraf, denn es gab keinen Unterricht in Blues, R&B oder vergleichbaren Stilen. Das Erlernen des Klavierspiels bedeutete das Studium klassischer Musik, was Mom natürlich nur recht war.
Bei Mrs. Jordan standen Klavierkonzerte und Wettbewerbe auf dem Lehrplan, und es dauert nicht lange, bis ich mich für die Laufbahn eines Konzertpianisten entschied. Von dem Punkt an füllte die Musik mein ganzes Leben aus. Ich verbrachte jeden freien Augenblick am Klavier, nahm mir Akkorde und Melodien vor, lernte das Notenlesen und machte Fingerübungen. Egal, wie viel ich auch lernte – es gab noch mehr zu lernen, was ich liebte und immer noch liebe.
Natürlich gefiel mir das Klavierspiel auch und reizte mich,