eines Niemandslands thronen. „Detroit vermittelt einem das Gefühl eines Ground Zeros für … na, was denn eigentlich?“, fragte Autor Mark Binelli in seinem Buch über seine Heimatstadt. „Das Ende des amerikanischen Traums? Oder den Anfang von etwas anderem?“18
Detroit wurde 2013 tatsächlich für insolvent erklärt, der größte Bankrott einer Stadt in der Geschichte der USA. Der Titel eines ungefähr zur gleichen Zeit von Underground Resistance veröffentlichten Tracks stellte eine berechtigte Frage: „Has God Left This City?“
Die Unterhaltung, die wir an diesem Abend im Transmat führten, drehte sich um die aktuelle Einwohnerzahl und darüber, dass der Detroiter Polizeichef James Craig, ein Cousin Carl Craigs, den von Kriminalität heimgesuchten Bewohnern der Stadt gerade in der Verbandszeitschrift der National Rifle Association hatte ausrichten lassen, sich besser zu bewaffnen. „Die Leute können sich kaum vorstellen, dass ich immer noch hier wohne. Sie fragen mich, warum ich immer noch in Detroit bin“, erklärt May. „Aber ich bin glücklich. Ich habe alles, was ich brauche. Außerdem kann ich ja mit dem Flugzeug überall hin, wohin es mich gerade zieht. Warum sollte ich also abhauen?“
Zudem war rund um die Jahrtausendwende etwas Seltsames passiert. Nachdem ihre verhärmte Stadtlandschaft von Fotografen wie Camilo José Vergara und Websites wie The Fabulous Ruins of Detroit in all ihrer heruntergekommenen Pracht verewigt worden war, hatte sich die Stadt zu einer Touristenattraktion bei Fans von sogenanntem ruin porn entwickelt. „Die Besucher kommen, um eine Stadt zu erleben, die aussieht wie das Set eines Katastrophenfilms“, sagte May. „Sie besichtigen die Ruinen, in denen wir nach wie vor wohnen.“
Detroit war jener Ort, an dem sich die Flutwelle des Autokapitalismus im 20. Jahrhundert gebrochen und anschließend wieder zurückgezogen hatte. Hinterlassen hatte sie dabei eine urbane Schutthalde, die tatsächlich mitunter so aussah, als hätte hier ein Tsunami gewütet. Dies leistete unweigerlich einen Beitrag zur Mystik rund um Techno und verstärkte die pervertierte Romantik, die dessen europäische Bewunderer so in ihren Bann zog. „In Bezug auf Detroit gibt es in Europa diese Blade-Runner-Fantasie, bei der sich wunderbare Musik aus den Betonruinen erhebt“, sagt Alan Oldham. Eine Musik, die einem die Flucht in den Kosmos oder hinunter in die Tiefen des Meeres ermöglicht, erfüllt von apokalyptischen Visionen aus einer Welt, über die die ewige Nacht hereingebrochen war, voller zorniger Lärmausbrüche, mit denen ein Aufstand gegen einen brutalen Unterdrücker untermalt werden konnte.
Doch gab es nun noch etwas anderes, das in Detroit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte: städtisches Farmland und Gemeinschaftsgärten auf verlassenen Grundstücken, auf denen einst Häuser gestanden hatten. Neue Bewohner waren eingezogen. Bohemiens und unerschrockene Künstler, die die Landschaft für sich in Beschlag nahmen, als ob die Motor City das neue amerikanische Grenzland darstellte. Nicht nur die niedrigen Mieten und die Freiräume, die zum Experimentieren einluden, lockten die jungen Kreativen an, sondern auch die progressive Aura, die zum Entstehungsprozess von Techno beigetragen hatte. „Detroit ist ein Paradebeispiel für das, was die Propaganda bezüglich der Vereinigten Staaten gerne verkündet. Du hast die Freiheit zu tun, was du willst – und du kannst es zu deinen eigenen Bedingungen tun“, betonte Carl Craig. Ein Hochglanzmagazin, das ich am Flughafen kaufte, verkündete sogar, dass die Stadt „Amerikas großartigste Comeback-City“ wäre. „Tausende dieser neuen Siedler kommen hierher. Vielleicht, bloß vielleicht, bleiben ja ein paar von ihnen hier und tragen dazu bei, eine neue kreative Kaste zu bilden, die dabei behilflich ist, die Stadt wiederaufzubauen“, mutmaßte May.
Ein Symbol der erhofften kreativen Revitalisierung war das Heidelberg Project – eine Fläche, die ungefähr zwei Häuserblocks entsprach und vom Detroiter Künstler Tyree Guyton als surreales urbanes Stückwerk neu imaginiert wurde: Häuser, Bäume und alte Autos, die mit einem wilden Wirrwarr hausgemachter Holzuhren, abgelegter Kinderspielsachen, einzelner Schuhe und allerlei Haushaltsgegenständen verziert waren, die Guyton gesammelt hatte, um ihnen auf diese Weise einen neuen Sinn zu verleihen. Tatsächlich handelte es sich bei ihm um einen alten Freund Derrick Mays, der seine Kunst in mancherlei Hinsicht auf dieselbe Weise verstand, als alchemistischen Akt, bei dem Verfall in Schönheit umgewandelt wurde. „Es ist Magie – so wie das, was Derrick macht. Es geht darum, anzunehmen, was einem das Leben hat zukommen lassen, um dann etwas Besseres damit zu machen. Kunst funktioniert als Medizin, so wie auch Musik. Es hilft einem dabei, klar zu sehen“, erklärt Guyton. „Derrick hob die Musik auf eine neue Ebene. Ich mache das Gleiche mit Kunst und hebe sie auf eine neue Bewusstseinsebene. Ich verwende die Kunst, um Umgebungen zu transformieren – und auch Menschen.“
Unabhängige Kunstprojekte, städtische Farminitiativen auf verlassenen Grundstücken und hippe Restaurants wie das vielsagend benannte Craft Work erzeugten jede Menge Medieninteresse, obwohl sich einige Anwohner verständlicherweise skeptisch zeigten, wie viel ein paar enthusiastische weiße Bohemiens zu retten imstande wären. Immerhin war das mehrheitlich schwarze Detroit immer noch die ärmste Großstadt der USA und benötigte eine umfassende finanzielle Wiederbelebung. „Es heißt, Kunst und Kultur würden die Stadt retten können, doch ich sehe das sehr skeptisch“, sagte Mike Banks, während er seinen Blick von der hinteren Veranda des Underground-Resistance-Gebäudes aus über ein Grundstück schweifen ließ, das von postindustriellen Pilgern bestellt wird. „In den Problemvierteln hast du drei Möglichkeiten, wenn du ausbrechen willst. Du kannst dich dem Sport widmen, du kannst in der Fabrik arbeiten, wenn sie gerade ein paar Autos verkaufen, und du kannst dich dem Militär anschließen. Wir sind hier ja so was von gefickt. Der Kapitalismus frisst der Demokratie den Arsch ab.“
Und dennoch stellte sich immer noch die Frage, ob die Stadt – vielleicht, nur vielleicht – wieder von einem Aufschwung erfasst werden könnte. „Wer weiß das schon? In Detroit sind schon verrücktere Dinge passiert“, sinnierte Mark Binelli 2013. Es ist ein so durchgeknallter Ort, dass die wildesten Experimente, Ideen, die in keiner funktionierenden Stadt jemals ernst genommen würden, hier vielleicht eine Chance hätten.“19
Jeder, der während des Movement-Festivals im Mai 2014 rund um die Hart Plaza abhing, konnte sich eventuell weismachen, dass diese Art von Optimismus nicht fehl am Platze war. Vielleicht, ja nur vielleicht … Wenigstens ein Wochenende lang war Downtown Detroit zum Leben erwacht. Immerhin machten die Kinder des Transmat, des Metroplex, des KMS, von UR und Submerge sowie Carl Craigs Planet E und all die anderen ihre Aufwartung. Die Straßen der Innenstadt waren voller Technoheads: obsessive Electronic-Music-Fans in kultigen T-Shirts mit Plattenlabel-Motiven, jugendliche „Candy Raver“ in farbenprächtigen Cyber-Outfits, mit kindischen Rucksäcken und fluffigen Moonboots ausstaffiert, Hipster mit akribisch gestylten Bärten, aufgepumpte Sportskanonen in Shorts und geschmeidige Disco-Queens in Hotpants sowie gewöhnliche Männer und Frauen jeglicher Hautfarbe, die Techno schon immer geliebt hatten – und immer lieben werden. Ein paar Ausgeflippte waren sogar kostümiert erschienen. Da fanden sich etwa ein Captain America und ein Mann, der sich als Sternenbanner verkleidet hatte, sowie ein wunderlicher Kleinwüchsiger, der von Kopf bis Fuß in einem purpurnen Bodystocking steckte, was ihm die Optik eines Zeichentrick-Kobolds verlieh. Außerdem präsentierte sich ein Mädchen nur in Höschen und BH, dafür aber mit chirurgischen Bandagen, die ihr ganzes Gesicht verhüllten.
Techno war selbstverständlich omnipräsent an diesem Wochenende: überall in der Innenstadt und nicht nur auf dem Festival, sondern auch bei Afterpartys, Symposien, Vorträgen, spontanen Raves, die mithilfe tragbarer Soundsystem auf Gehwegen initiiert wurden, in Plattenläden, im Rahmen von Internet-Broadcasts und zufälligen Begegnungen von Gleichgesinnten aus allen Ecken der USA und auch darüber hinaus. Sogar ein ältlicher frommer Prediger hatte Lautsprecher auf dem Bürgersteig postiert und bolzte nun Hard Trance, während er dazu bizarre atonale Riffs auf seinem Keyboard improvisierte. Neben seinem Kommandostand ermahnte ein Plakat die Passanten: „Gebt euer Herz Jesus.“
In einer Reihe von Verkaufsständen wurde eine Auswahl von T-Shirts mit Slogans und Motiven feilgeboten, die die Loyalität der Partygäste zur Stadt, ihrem Stamm und den Drogen zum Ausdruck bringen sollten: „Detroit Hustles Harder“, ein Siebdruckporträt von Frankie Knuckles mitsamt dem Motto „Frankie Forever“, eine Karikatur eines Aliens, der sich gerade ein paar bunte Pillen gönnte.
Am Flussufer hypnotisierte der Berliner DJ Dixon (bürgerlich: Steffen Berkhahn) die Hörerschaft