Francesco Tristano an einem Album arbeitete. „Ich war es gewohnt, Musik auf mich gestellt und auf meine Weise zu machen. Ich hielt mich dabei an meinen eigenen Zeitplan, egal, wie lange es letztlich dauerte“, erklärt er. „Ich war es nicht gewohnt, gesagt zu bekommen, was ich tun sollte, mit wem ich zu arbeiten hätte, oder dass ich etwas ändern müsste, weil jemand der Meinung war, dass es dann besser klingen würde.“ May arbeitete weiterhin als DJ, doch es waren andere, die die Musik vorantrieben, indem sie Inspiration aus ihrer eigenen Interpretation dessen bezogen, was Detroit bedeuten konnte.
Cornelius Harris und ich ließen das Underground-Resistance-Headquarter hinter uns und fuhren zur nahegelegenen Packard Automotive Plant, einer stillgelegten Autofabrik, die schon in den Fünfzigerjahren geschlossen worden war und seitdem zu einem heruntergekommenen Symbol dieser ruinierten Boomtown geworden ist. Wir stiegen vorsichtig über den Schutt hinweg und kletterten die gebrochenen Treppen hoch. Auf unserem Weg hinauf aufs Dach passierten wir Graffiti von dämonischen Fratzen und Smileys. Oben angekommen überblickten wir 330.000 Quadratmeter toter Industrie, von Plünderern leergeräumt und dem Verfall preisgegeben – eine frühe Warnung davor, was noch auf einen großen Teil der restlichen Stadt zukommen sollte.
Das Packard-Gebäude kam als akkurat apokalyptischer Drehort für diverse Hollywood-Filme zum Einsatz und fand sogar Erwähnung im wehmütigen Weltuntergangsgedicht The Last Shift des US-Poeten Philip Levine. Der britische Straßenkünstler Banksy verzierte hier einst eine Mauer mit einem Schablonenbild, das einen traurig dreinblickenden Jungen und die Worte „Ich erinnere mich, als hier nur Bäume standen“ zeigte. Es wurde später entfernt und die Detroit Free Press schrieb, dass es, sollte es je verkauft werden, mehr Geld einbringen würde als die gesamte verlassene Anlage wert wäre.
Hier in diesem mit Graffiti überzogenen Skelett eines Gebäudes veranstalteten in den Neunzigerjahren Richie Hawtin und John Acquaviva ihre Raves. Die beiden weißen Technoheads stammten ursprünglich aus Großbritannien und Italien, waren aber in den kanadischen Städten Windsor und London, nicht allzu weit von Detroit entfernt, aufgewachsen. Sie besuchten die Stadt regelmäßig, um Derrick May zu lauschen, der von 1988 bis 1990 im Music Institute von Mitternacht bis zum Morgengrauen auflegte. Mays manische Kunstfertigkeit befand sich damals auf ihrem jugendlichen Zenit, wie es Alan Oldham in einem Abgesang auf den nicht besonders langlebigen Club formulierte: „Oftmals spielte er über sein Fostex-Zweispurgerät Tracks, die er erst ein paar Stunden zuvor in seinem Studio fertiggestellt hatte. Das war etwas, das ich nie fassen konnte. Er wechselte zwischen dem Tonbandgerät und den Technics 1200ern hin und her und verwendete den Tonhöhenregler für das Tonband. Er schnitt, editierte und zerstörte auch die Tracks anderer Leute, etwa bei seiner abgefuckten Psycho-Neubearbeitung der Music-Institute-Hymne ‚We Call It Aciiiieeed‘ von D-Mob.“15
Nachdem das Music Institute seine Pforten schließen musste, sahen sich Hawtin und Acquaviva nach anderen Orten um, an denen sie ihre eigenen Partys veranstalten konnten. So wie in Großbritannien in den späten Achtzigern, als aufgrund der Rezession leerstehende Lagerhallen und Industriegebäude das perfekte Ambiente für illegale Raves boten, gab es auch in Detroit keinen Mangel an infrage kommenden Optionen. „Detroit besaß den Vorteil, dass es nicht schwer war, verlassene Gebäude und Ecken in der Stadt ausfindig zu machen, die die Polizei nicht wirklich kontrollierte und wo wir tun und lassen konnten, wonach auch immer uns eben war“, erinnert sich Hawtin. Im Packard-Gebäude überzogen sie die Wände mit schwarzem PVC und beschallten sie anschließend mit jenen gestört-psychotronischen Sounds, die ihre frühen Tracks, die sie auf ihrem Label Plus 8 veröffentlichten, so aufregend machten. „Die Leute begaben sich auf diesen irren Trip innerhalb dieses düsteren, mit schwarzem Plastik ausgeschlagenen Raumes. Man hatte dabei stets das Gefühl, als hätte sie die Intensität dieses Sounds zusammengebracht“, sagt Hawtin.
Eine der Packard-Partys 1993 stand ganz im Zeichen der Veröffentlichung von Hawtins erstem Album als Plastikman, Sheet One, einer beachtlichen Sammlung von Acid-House-Tracks mitsamt eines Covers, das an einen perforierten LSD-Blotter erinnern sollte. (Tatsächlich mutete das Cover so realistisch an, dass in Texas jemand für dessen Besitz sogar verhaftet wurde – die Polizei konnte einfach nicht fassen, dass es sich hier nicht um echte Drogen handelte!) Der Vibe jener Tage besaß zweifellos eine utopische Note, betont Hawtin: „Vermutlich zielte das Ethos von Techno auf eine glücklichere Zukunft ab. Auch glaube ich, dass das der Grund dafür ist, warum Techno in Detroit entstanden ist. Es bot für viele Menschen die Gelegenheit, einer vorbestimmten Zukunft zu entkommen. Elektronische Musik ermöglichte es uns, von einer glücklicheren Zukunft zu träumen – und tatsächlich schuf sie für viele von uns eine glücklichere Zukunft.“
Raves wurden also in stillgelegten Fabriken, Lagerhallen und sogar in einer Autowerkstatt organisiert, wo der DJ in einer Kabine aus übriggebliebenen Autoteilen auflegte. In den späten Neunzigerjahren begann die Polizei jedoch, gegen die illegalen Partys vorzugehen. Im Jahr 2000 war die Techno-Szene der Stadt schließlich in der Versenkung verschwunden. Detroit hatte der Welt den Techno geschenkt und die europäische Rave-Explosion entfacht, doch zu Hause waren die Pioniere de facto Unbekannte, die nur mehr auf sehr wenige Locations für ihre Auftritte zurückgreifen konnten.
„Detroit war ein soziales Experiment im großen Stil. Die Zukunft Amerikas nahm hier ihren Ausgang.“
DJ Seoul, Detroit Techno Militia
Der Detroiter Autor Charlie LeDuff beschrieb seine Heimatstadt als „postindustriellen Sarkophag“.16 Derrick May hat seine eigene Bezeichnung auf Lager. „Detroit gleicht dem Wrack der Titanic – nur eben über der Wasseroberfläche“, erklärt er, als wir auf der Dachterrasse seines Studios in der Gratiot Street sitzen, während langsam die Dämmerung über die Stadt hereinbricht. Die warme Abendluft fühlt sich sanft an und trotz heulender Polizeisirenen unten auf der Straße kann man immer noch verspieltes Vogelgezwitscher hören. Auf der anderen Straßenseite sind die Fenster, die Mays Studio gegenüberliegen, zugemauert worden. Im Erdgeschoss befindet sich ein Shop namens Cheap Charlies, in dem man Arbeiterklamotten aus zweiter Hand und Krimskrams für einen Dollar erstehen kann. An der Ampel stehen ein paar Reklamewände, auf denen unter anderem Cheeseburger und Kredite angepriesen werden. Die Zielgruppe scheint offensichtlich. Obwohl Eastern Market sich langsam zu einem der angesagtesten Viertel der Stadt mauserte – mit neuen Boutiquen und Hipster-Restaurants, die entlang des Techno-Boulevards eröffneten –, richteten sich die Werbeslogans nicht an die Wohlhabenden. Wir befanden uns nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, wo Zehntausende sich für die größte Rave-Party des Jahres versammelt haben. Allerdings gab es hier nur wenig Anzeichen für Leben – abgesehen von ein paar Stadtstreichern, die an diesem Freitagabend vorbeiflanierten.
Als ich May 1988 zum ersten Mal interviewte, befand sich Detroit bereits seit Jahrzehnten in einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale. Dennoch war es mit einer Bevölkerung von ungefähr einer Million Menschen immer noch die siebtgrößte Stadt der USA. „Seventh City Techno“ lautete sogar die Überschrift der ersten großen Reportage über Techno, einem bahnbrechenden Artikel von Stuart Cosgrove, erschienen in der britischen Jugendkultur-Zeitschrift The Face. „Zehn Jahre nachdem Motown in wärmere Gefilde weitergezogen ist, bewegt sich die Motor City zu einem Beat, der eher aus Henry Fords Fabriken denn aus Berry Gordys Träumen entsprungen zu sein scheint“, versprachen die einleitenden Worte. „Techno ist der Sound des jungen Detroits: maschinell und von Verzweiflung getrieben.“ May belieferte Cosgrove für seinen Artikel mit seinem berühmtesten Zitat und beschrieb Techno als Sound, der klang „wie Kraftwerk und George Clinton, die in einem Fahrstuhl feststeckten – und nur ein Sequenzer leistet ihnen dabei Gesellschaft“.17
Seit fast 25 Jahren konnte sich Detroit nicht mehr als Amerikas siebtgrößte Stadt bezeichnen. Vielmehr war es aus den Top-20 der größten US-Städte gepurzelt. Die Bevölkerung umfasste nicht einmal mehr 700.000 Menschen, was ungefähr jener Einwohnerzahl entsprach, die Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Beginn des Automobil-Booms, die Stadt bevölkert hatte. Allein zwischen 2000 und 2010 war die Einwohnerzahl um unglaubliche 25 Prozent gesunken – ein wahrer Exodus. Mehr als 80.000 Gebäude standen leer. Es war nicht unbedingt verwunderlich, dass sich die Auswirkungen dieser Abwanderung im Straßenbild bemerkbar machten. Das Fehlen von Menschen vermittelte ein unheimliches Gefühl – als ob eine Epidemie oder ein gewaltsamer Konflikt die Menschen dahingerafft hatte. Der urbane Verfall hat eine