Charles Dickens

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus


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      In dem für Oliver besser gesorgt wird als jemals zuvor und die Erzählung zu dem fröhlichen alten Herrn und seinen jungen Freunden zurückkehrt.

      Die Kutsche ratterte davon, Mount Pleasant hinab und die Exmouth Street hinauf, und nahm beinahe denselben Weg, den Oliver gegangen war, als er London in Begleitung des Dodgers zum ersten Mal betreten hatte, bis sie schließlich, nachdem sie am Angel in Islington in eine andere Richtung abgebogen war, vor einem hübschen Haus in einer ruhigen schattigen Straße in Pentonville hielt. Hier wurde unverzüglich ein Lager bereitet, in das Mr. Brownlow seinen jungen Schützling behutsam und bequem betten ließ, und hier wurde er mit einer Fürsorge und Hingabe gepflegt, die keine Grenzen kannte.

      Doch viele Tage lang blieb die Güte seiner neuen Freunde von Oliver unbemerkt. Die Sonne ging auf und unter, und wieder auf und unter, und das viele weitere Male, und der Junge lag noch immer ausgestreckt auf seinem Krankenlager und schwand unter der trockenen und verzehrenden Hitze des Fiebers dahin. Der Wurm verrichtet sein Zerstörungswerk am Leichnam nicht wirkungsvoller als dieses schwelende Feuer das seine am lebendigen Leib.

      Matt, abgemagert und bleich erwachte er endlich aus etwas, das ein langer böser Traum gewesen zu sein schien. Seinen Kopf auf den Arm gestützt, richtete er sich mit Mühe im Bett auf und blickte sich bange um.

      »Was ist das für ein Zimmer? Wohin hat man mich gebracht?«, fragte sich Oliver. »Das ist nicht der Ort, an dem ich eingeschlafen bin.«

      Er sprach die Worte mit leiser Stimme, da er noch schwach und matt war, doch hat man sie sogleich vernommen, denn schnell wurde der Vorhang am Kopfende des Bettes zurückgezogen, von einer reinlich und adrett gekleideten mütterlichen alten Dame, die in einem Lehnstuhl gleich neben dem Krankenlager mit einer Näharbeit beschäftigt gewesen war.

      »Still, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft. »Du musst ganz ruhig bleiben, sonst wirst du wieder krank. Und dir ist es sehr schlecht gegangen, schlimmer ging’s nicht, dem Tode nahe. Leg dich wieder hin, so ist’s brav!« Mit diesen Worten bettete die alte Dame Olivers Kopf auf das Kissen, strich ihm das Haar aus der Stirn und blickte ihm so liebevoll und gütig ins Gesicht, dass er mit seiner kleinen ausgedörrten Hand unwillkürlich nach der ihren griff und sie sich um den Nacken legte.

      »Guter Gott!«, rief die alte Dame mit Tränen in den Augen. »Was für ein dankbarer kleiner Junge er doch ist. So ein liebes Kerlchen! Was würde seine Mutter wohl empfinden, wenn sie so wie ich bei ihm gesessen wäre und ihn jetzt sehen könnte?«

      »Vielleicht sieht sie mich sogar«, flüsterte Oliver und faltete die Hände, »vielleicht hat sie wirklich an meinem Bett gesessen. Mir kam es fast so vor.«

      »Das war das Fieber, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft.

      »Wahrscheinlich«, erwiderte Oliver, »denn der Himmel ist weit weg, und dort sind sie zu glücklich, um ans Bett eines armen Jungen hinabzusteigen. Aber wenn sie wüsste, dass ich krank bin, würde sie sogar dort Mitleid mit mir haben, denn sie war selbst sehr krank gewesen, bevor sie starb. Doch sie kann ja nichts von mir wissen«, fuhr Oliver nach kurzem Schweigen fort. »Hätte sie gesehen, wie ich verletzt wurde, wäre sie sehr traurig gewesen, aber ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr geträumt habe.«

      Darauf erwiderte die alte Dame nichts, sondern wischte sich zuerst ihre Augen, und dann noch ihre Brille, die auf der Tagesdecke lag, als würde auch diese weinen. Dann holte sie Oliver ein kühles Getränk, tätschelte ihm die Wange und hieß ihn, ganz still zu liegen, damit er nicht wieder krank würde.

      Also verhielt Oliver sich vollkommen ruhig, teils weil er bestrebt war, der alten Dame in allen Dingen zu gehorchen, und teils weil er, um die Wahrheit zu sagen, von den wenigen gesprochenen Worten bereits völlig erschöpft war. Bald fiel er in einen sanften Schlummer, aus dem ihn der Schein einer Kerze weckte, die sich seinem Bett näherte und in deren Licht er einen Herrn erkannte, der eine sehr große und laut tickende goldene Taschenuhr in der Hand hielt, seinen Puls fühlte und verkündete, es ginge Oliver schon viel, viel besser.

      »Es geht dir doch schon viel besser, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Herr.

      »Ja, danke, Sir«, erwiderte Oliver.

      »Genau wie ich mir gedacht habe«, sagte der Herr. »Und hungrig bist du sicher auch, nicht wahr?«

      »Nein, Sir«, erwiderte Oliver.

      »Ahem!«, machte der Herr. »Das dachte ich mir. Er ist nicht hungrig, Mrs. Bedwin«, sagte der Herr und machte ein schlaues Gesicht.

      Die alte Dame neigte ehrerbietig den Kopf, als wolle sie damit sagen, dass sie den Doktor für einen sehr gescheiten Menschen hielt. Eine Ansicht, die der Doktor voll und ganz zu teilen schien.

      »Du bist müde, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Doktor.

      »Nein, Sir«, entgegnete Oliver.

      »Nein«, wiederholte der Doktor mit wissender und zufriedener Miene, »du bist nicht müde. Und auch nicht durstig, nicht wahr?«

      »Doch, Sir. Sehr sogar«, antwortete Oliver.

      »Genau das habe ich erwartet, Mrs. Bedwin«, sagte der Doktor. »Es ist völlig normal, dass er Durst hat. Gebt ihm etwas Tee, Madam, und ein wenig trockenes Röstbrot ohne Butter. Es darf ihm nicht zu warm werden, Madam, aber achtet auch darauf, dass er nicht friert – wollt Ihr wohl die Güte haben?«

      Die alte Dame machte einen Knicks. Nachdem der Doktor das kühle Getränk probiert und für gut befunden hatte, eilte er fort, wobei seine Stiefel auf der Treppe wichtig und behäbig knarrten.

      Oliver döste bald wieder ein, und als er aufwachte, war es kurz vor zwölf. Die alte Dame wünschte ihm kurz darauf zärtlich eine gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die soeben eingetroffen war und in ihrem kleinen Bündel ein schmales Gebetbüchlein und eine große Nachthaube mitgebracht hatte. Sie setzte letztere auf den Kopf und legte ersteres auf den Tisch, und nachdem die Alte Oliver mitgeteilt hatte, dass sie die Nacht bei ihm wachen werde, rückte sie ihren Stuhl dicht ans Feuer und nickte, von Räuspern und Stöhnen begleitet, immer wieder kurz ein, und zuweilen sackte ihr dabei auch das Kinn auf die Brust, was jedoch keine schlimmere Wirkung zeitigte, als dass sie aufwachte, sich kräftig die Nase rieb und sogleich wieder einschlief.

      Und so schlich die Nacht dahin. Oliver lag eine Weile wach und zählte die kleinen Lichtkreise, die vom Binsenschirm des Nachtlichts an die Decke geworfen wurden, oder er verfolgte mit seinen schläfrigen Augen das verschlungene Muster der Wandtapete. Die Dunkelheit und die tiefe Stille des Zimmers wirkten sehr feierlich, und als sie den Jungen auf den Gedanken brachten, dass der Tod, der hier viele Tage und Nächte über ihm geschwebt hatte, auch jetzt noch das Gemach mit der Düsternis und dem Schrecken seiner furchtbaren Anwesenheit erfüllen könnte, drehte er sein Gesicht ins Kissen und schickte ein inbrünstiges Gebet gen Himmel.

      Allmählich fiel er in jenen tiefen, ruhigen Schlaf, den allein die Genesung von einem jüngst überstandenen Leiden gewährt, ein ungestörter und friedvoller Schlummer, aus dem aufzuwachen als schmerzlich empfunden wird. Wäre das der Tod, wer wollte wohl wieder erwachen zu all den Kämpfen und Nöten des Lebens, zu all den Sorgen der Gegenwart, den Ängsten um die Zukunft und vor allem zu den drückenden Erinnerungen an das Vergangene!

      Als Oliver die Augen öffnete, war schon seit Stunden helllichter Tag, und als er es tat, fühlte er sich froh und glücklich. Der Tiefpunkt seiner Krankheit war überwunden. Die Welt hatte ihn wieder.

      Nach drei Tagen konnte er bereits von Kissen gestützt in einem Lehnstuhl sitzen, und da er noch zu schwach zum Gehen war, hatte Mrs. Bedwin ihn die Treppe hinabtragen lassen, in die kleine Hausmädchenkammer, die ihr gehörte. Dort setzte die gute alte Dame ihn an den Kamin, nahm ebenfalls Platz, und fing vor lauter Freude, den Jungen in einem so viel besseren Zustand zu sehen, sogleich heftig zu weinen an.

      »Keine Sorge, mein Schatz«, sagte die alte Dame. »Ich muss mich nur mal richtig ausweinen. Siehst du, es ist schon vorbei, mir geht’s wieder gut.«

      »Ihr seid sehr freundlich zu mir, Madam«, meinte Oliver.