John Taylor

Gefährlich gute Grooves


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ihre Haare war.

      Dad rührte etwas Tapetenkleister an und klebte die Blätter in meinem Zimmer an die Wand über meinem Bett. Über meinem Kopfkissen hing bereits der allgegenwärtige Jesus am Kreuz. Ein Katholik, der etwas auf sich hält, ist nie weit von einem Kruzifix entfernt. Jetzt bekam er in meiner Vorstellungswelt Konkurrenz.

      Der geschundene Jesus. Blut tropfte von den Nägeln, die man so brutal durch seine Hände gehämmert hatte. Die Dornenkrone. Es war eine Albtraum-Vision, die den Katholiken ein Gewissen geben sollte. Alles, was sie mir gab, waren Schuldgefühle.

      Dads Bilder der Schönheit und des Abenteuers zeigten, was es jenseits der Meere und Ozeane zu entdecken gab. Sie schienen mir zuzuflüstern: „Es gibt mehr im Leben als das hier, Junge. Es gibt nicht nur Hollywood, Ihn und die Schule.“

      Nacht für Nacht, wenn meine Lampe schon lange ausgeknipst war, sah ich hoch zu den Bildern; nur das durch die Vorhänge gefilterte Straßenlicht schien auf sie. Und ich begann, von Romanzen, Reisen und Flucht zu träumen.

      In der nächsten Phase der häuslichen Erziehung, die mein Vater einführte, begann er, mit mir Geografie zu pauken; Hauptstädte, Flüsse und Fahnen wurden eins meiner Lieblingsgebiete, und ich wurde ein richtiger Experte. Was ganz nützlich ist, wenn man sechs Monate im Jahr unterwegs ist.

      Wenn ich am Wochenende morgens zu Mum und Dad ins Bett kletterte, bettelte und flehte ich, er möge mein geografisches Wissen abfragen.

      „Frag mich nach Flüssen“, bat ich aufgeregt und sah ihn erwartungsvoll an.

      Dad faltete dann seinen Daily Sketch zusammen und sagte: „Kannst du ihn nicht fragen, Jean?“

      „Ich kenne mich nicht aus, Jack, mich brauchst du nicht darum zu bitten“, antwortete Mum.

      Dad lächelte resigniert und fragte: „Amazonas?“

      „Brasilien!“, schnappte ich zurück wie ein Piranha. Und wir waren drin.

      Es ist ein angenehmes Leben als einziges Kind, besonders wenn beide Eltern da sind und es an Liebe nicht mangelt. Ich hatte es richtig gut.

      Wir hatten im Laufe der Jahre drei Nachbarn im Nebenhaus, der Nummer 36. Die schlimmsten waren Polizeibeamte. Ich wusste, die Siebziger waren da, als ich das blassblaue Polizeiauto in die Einfahrt rollen sah.

      Das waren Faschisten, Mann – das sah man schon an den Uniformen.

      Sie hatten keine Kinder, also hieß es: „Mach die Musik leiser!“, „Mach den Fernseher leiser“ und „Nein, du bekommst deinen Ball nicht zurück, wenn du ihn immer über den Zaun schießt!“ Der Mann war ein richtiger Idiot, und sein Anblick, als er Dad mit aufgerissenen Augen anschrie – „Wenn du dir deinen Bengel nicht vorknöpfst, werde ich es tun!“ – versetzte mich in Angst und Schrecken.

      Ich war einfach ein Kind. Als ich älter wurde und die Musik bestimmend wurde, wollte ich die ganze Zeit Musik hören, am liebsten, wenn niemand sonst im Haus war und ich die Lautstärke richtig aufdrehen konnte. Allerdings hatte ich keine Vorstellung davon, wie es für die auf der anderen Seite dieser hauchdünnen Mauern gewesen sein muss.

      Meine Eltern hassten diese Konfrontationen mit den Nachbarn. Mum war sehr ängstlich, und Dad hatte keine Lust mehr auf Kämpfe. Er war doch Soldat gewesen, ein Held. Da konnte ich nicht verstehen, warum er sich nicht mit fliegenden Fäusten dazwischen warf. Es dämmerte mir, dass die Macht meiner Eltern begrenzt war.

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      6: Mittendrin und unsichtbar

      Ich hatte Spaß am Lernen, was sich aber nur selten im Klassenzimmer bemerkbar machte. Lediglich zu Hause, in der heimeligen, perfekt sitzenden Welt von Mum, Dad und mir, war ich selbstsicher genug, es rauszulassen.

      Intelligenz braucht Übung, und üben bedeutet, Fehler zu machen. In der Welt meiner Eltern fühlte ich mich nie bewertet; in der Schule war ich ständiger Beurteilung ausgesetzt. Ein Einzelkind zu sein, hatte in der Schule auch seine Nachteile; ich mochte es nie, mein Spielzeug zu teilen.

      Und ich hasste das System der Benotung, die ständigen Vergleiche: Wer ist gut in diesem, wer ist der Beste in jenem? Der Beste und der Schlechteste. Immer.

      Das Fach „Spiele“, dieser Euphemismus für Sport, war am schlimmsten. Wettkampf für Wettkampf tat ich mich mit meinen vier Augen schwer auf den Sportplätzen von Our Lady of the Wayside. Nicht einmal kam der Ruf: Deine Schule braucht dich. Kein einziges Mal durfte ich meine Schule sportlich repräsentieren. Ich entwickelte schließlich nagende Selbstzweifel.

      Gibt es etwas Schlimmeres, als ausgelacht zu werden? Ich würde jederzeit eine Operation vorziehen. Ich konnte es nicht ertragen – und kann es immer noch nicht. Zum Glück kennen mich meine Freunde und Familie heute gut genug, um es außer Hörweite zu tun. Aber damals wurdest du ausgelacht, wenn du Letzter warst. Das war zu vermeiden. Ich begann, mich aus dem Rennen zu nehmen.

      Erster werden wollte ich aber auch nicht, denn dann musste man in der Klasse oder, schlimmer noch, in der Aula nach vorne kommen, einen Preis entgegennehmen und vielleicht sogar laut vor all den Hooligans „Thank you, Sir“ sagen. Vorzutreten, um von Mr. Lahive meinen Bobby-Moore-Geschenkgutschein für meine Arbeit über „Das Leben der Heiligen“ zu empfangen, war bis heute mein beschämendster Moment. All die Augen, die sich in meinen Rücken bohrten, das vorwurfsvolle Gekicher. Nein danke, auf Auszeichnungen kann ich auch verzichten. Ich versuchte, mittendrin und gleichzeitig unsichtbar zu sein.

      Als ich zehn Jahre alt war, 1970, war ich nicht mehr so häufig Gast im Bett meiner Eltern (ich erinnere mich aber noch, wie ich zwischen sie kroch und etwas über die Trennung der Beatles las. Das war für uns so unfassbar wie der Untergang der Titanic). Ich musste also andere Wege finden, um ihre Anerkennung zu bekommen.

      Insbesondere die von Dad.

      Militärmodellbau war damals das angesagte Hobby. Es war gerade bei Jungen meiner Generation äußerst beliebt und außerdem ein toller Zeitvertreib für Vater und Sohn. Das Zusammenbauen der Airfix-Modelle von Centurion-Panzern, Spitfire-Flugzeugen oder Victory-Schiffen („enthält lebensechten Nelson mit amputiertem Arm“) hat in den späten Sechzigern mehr Söhne und Väter zusammengeschweißt als irgendetwas sonst, von Lederfußbällen mal abgesehen.

      Dad legte die Latte für mich hoch, als er zu meinem achten Geburtstag das Short-Sunderland-Wasserflugzeug perfekt zusammenbastelte. Da wusste ich, dass ich langsam auf Touren kommen musste.

      Was ich auch tat. Ich wurde süchtig danach, Modelle zu bauen. Ob es am Kleber, dem „Bindemittel“ und dem Emaillelack lag?

      Flugzeuge, Schiffe, Lastwagen und Autos – ich baute sie, malte sie an und stellte sie in kleinen Landschaften auf, die in der Bruderschaft der Modellbauer „Dioramen“ heißen.

      Mein Taschengeld ging jede Woche für etwas Neues drauf, das ich meiner Sammlung hinzufügen konnte. Spätestens Samstag nachmittag störte ich Vater in der Garage: „Schau mal, Dad, was hältst du davon? Das ist Monty auf der Straße nach El Alamein.“

      „Das ist sehr gut, Junge“, sagte er dann. „Hast du Lust, dir im Laden eine Limo zu holen?“

      Sieg!

      Meine Vorliebe für Modellbau war nicht nationalistisch motiviert. Einen japanischen Zero Fighter oder einen deutschen Panzer baute ich ebenso gerne wie General Montgomerys Humber-Dienstwagen. Die Graf Spee oder die Ark Royal, Grumman- oder Messerschmitt-Flugzeuge, egal, es war alles eins, Teil eines großen Spiels: Krieg, die Schlacht der Uniformen und Kampfanzüge, Kreuze gegen Kokarden. Der Airfix-Katalog war erstaunlich lehrreich, und er gab meiner Generation eine großartige Einführung ins Industriedesign. Außerdem entwickelte sich die Auge-Hand-Koordination. Man lernte dabei mindestens so viel wie in der Schule, und an einem Game Boy macht mich keiner fertig.

      Es war eine durch und durch männliche Welt. Die einzige weibliche Figur, die Airfix anbot, war Johanna von Orleans, die mich nicht interessierte. Die menschlichen Figuren, die ich bastelte und bemalte,