alten Mannes hinter einem Grabstein, bis die Luft rein war. Oder er schlich bereits Richtung Friedhofsausgang, nagende Angst im Nacken, ein gejagtes, wildes Tier. Ich durfte das Tier nicht provozieren.
Also tat ich nichts. Ich wischte mir bloß die Finger im Gras ab und schaute mich nach allen Seiten um. Es blieb ruhig.
Obwohl ruhig nicht das richtige Wort ist. Erst wenn man darauf achtet, wenn man den Atem anhält, merkt man, was für ein Spektakel sich mitten in der Nacht auf einem einsamen Friedhof ereignet. Wie belebt so ein Totenacker ist: Mal knackt es, mal schwirrt etwas vorbei, Schatten zucken und greifen nach einem. In der Ferne schrie wieder das Käuzchen, und um mich herum rauschten die Laubbäume mit ihren zarten, jungen Blättern. Sie wisperten und flüsterten, aber ihre Unterhaltung war nicht für menschliche Ohren bestimmt.
Und dann gab es noch ein Geräusch: ein fernes Rumpeln und Ächzen. Unten fuhr die Straßenbahn aus Leimen durch die Rohrbacher Straße, Metall presste auf Metall, Funken sprühten. Sie existierte also noch, die Welt jenseits der Friedhofsmauern, die Zivilisation mit ihren Alltagsgeräuschen, vom Quietschen der Bremsen bis zum Hüsteln der Passagiere.
Meine Muskeln entspannten sich. Akute Gefahr schien nicht zu drohen. Ich lebte, ich atmete, ganz im Gegensatz zu dem armen Teufel vor mir auf dem Grab. Er lag da, als hätte er schon immer an dem Platz gelegen. Als gehörte er hierher. Hätte er sich keine schönere Stelle aussuchen können? Das hier waren so ziemlich die armseligsten Ruhestätten, die der Bergfriedhof zu bieten hatte. Eine lange Reihe roh behauener Steinplatten, am Kopfende jeweils ein Holzkreuz, auf den Platten selbst der Name, die Lebensdaten, hie und da ein frommer Spruch. Dahinter die nackte Felswand des Berges, davor ein schmaler, verwachsener Pfad, den ein niedriges Geländer zum Tal hin begrenzte. Die reinsten Armengräber.
Wie alt der Mann wohl war? 75? 80? Er hatte wirklich etwas von einem Penner, selbst wenn er nicht unbedingt verwahrlost wirkte, trotz seines Alkoholatems und des muffigen Kleidergeruchs. Nein, er sah eher aus wie ein Mann, der es aufgegeben hatte, sich um seine äußere Erscheinung zu kümmern.
Und das sollte mein Auftraggeber sein?
Das Alter mochte stimmen, aber sonst stimmte überhaupt nichts. Der Mann, der mich telefonisch zum Bergfriedhof beordert hatte, war von ganz anderem Kaliber gewesen. Ein Mann mit Geld, mit Übersicht und Selbstbewusstsein. Einer, der wusste, was er wollte. Der sich niemals unrasiert, in einem derart abgewetzten Anzug auf die Straße gewagt hätte. Obwohl man sich in solchen Dingen ja irren konnte. Die Stimme eines Menschen am Telefon verriet einiges, aber nicht alles.
Wie auch immer, mein Honorar war futsch. Ich hatte die Verabredung eingehalten, Punkt 11 auf dem Bergfriedhof, und der Einzige, den ich antraf, war nicht in der Lage, mir die versprochene Anzahlung zu leisten. Wie heißt es doch? Das letzte Hemd hat keine Taschen …
Vielleicht fand sich etwas in den Taschen des Toten. Nachschauen kostete nichts.
»Ist er tot?«, fragte jemand hinter mir.
Ich fuhr herum.
Vor mir stand ein älterer Mann. Er musste sich auf Zehenspitzen angeschlichen haben: ein gut gebauter Senior in Kaschmirmantel und Hut, der offenbar sein Vergnügen an bizarren Auftritten hatte.
Ich sagte: »Wer sind Sie?« – weil mir nichts Besseres einfiel. Meine Stimme klang seltsam. Irgendwie krächzend.
Statt einer Antwort nieste der Alte. Er zog ein Stofftaschentuch aus einer Hosentasche hervor und schnäuzte hinein. Ich nutzte die kleine Pause, um ihn von Kopf bis Fuß zu mustern. Er war ein paar Zentimeter größer als ich, hielt sich kerzengerade, ein rüstiger Rentner mit klaren blauen Augen hinter der randlosen Brille. Unter der Hutkrempe lugten weiße Haare hervor. Sein faltiger Hals schmiegte sich in ein Seidentuch. Nur diese Falten und seine Haut verrieten, dass er die 70 bereits weit hinter sich gelassen hatte.
»Und?«, fragte er. »Ist der Mann tot?«
Ich nickte.
»Haben Sie ihn untersucht?«
»Verdammt, ich habe Sie was gefragt«, entfuhr es mir. »Wo kommen Sie jetzt plötzlich her?«
Sorgfältig zusammengefaltet, wanderte das Taschentuch zurück an seinen ursprünglichen Platz. Ein Lächeln huschte über die Lippen des Mannes.
»Habe ich Sie erschreckt?«, entgegnete er. »Dann entschuldigen Sie bitte vielmals, Herr Koller.«
Ich starrte ihn schweigend an. Wenn der Mann meinen Namen kannte, musste er es sein, der mich vor wenigen Stunden angerufen hatte. Ich hatte niemandem von der Verabredung auf dem Bergfriedhof erzählt, nicht einmal meinem besten Freund Fatty. Also stand ich meinem Auftraggeber gegenüber.
»Verstehe«, sagte ich. »Ihretwegen bin ich hier. Und das ist Teil Ihres Auftrags?« Ich zeigte auf die Leiche.
»Damit«, sagte er, »habe ich nichts zu tun. Aber auch nicht das Geringste.«
»Was?«, lachte ich. »Sie machen wohl Witze!«
Das war natürlich Unsinn. Ich hatte den Mann noch nie gesehen, aber dass er keine Witze zu machen pflegte, war offensichtlich. Einen Witz hielt er vermutlich für etwas Unanständiges. Oh, ich kenne diese Typen, in Heidelberg gibt es viel zu viele davon. Sie sind satt und intelligent, sie bekleiden wichtige Posten in der Industrie oder an der Universität, sie duzen eine Handvoll Bundestagsabgeordnete, tragen Seidenschals und italienische Lederschuhe, sie fördern harmlose Kunstprojekte und langweilen sich in ihren schicken Wohngettos zu Tode. Ab und zu stirbt einer von ihnen an Krebs, dann haben die Ärzte gepfuscht. Und wenn sie zusammensitzen, bestätigen sie sich gegenseitig ihre ungebrochene Potenz und lästern über die Einöde, in die es sie verschlagen hat. So einer war der Alte in meinen Augen.
Und weil es so schön passte, begann der Unbekannte mich mit einer Geringschätzigkeit zu mustern, die ihresgleichen suchte. Er legte den Kopf ein ganz klein wenig zur Seite und ließ seine Blicke über mich gleiten. Von oben bis unten, von rechts nach links, über meine komplette Durchschnittlichkeit hinweg. Wie ein Lehrer seinen schwächsten Prüfling examiniert. Abtreten, Koller. Versetzung gefährdet.
»Was soll das?«, herrschte ich ihn an. »Wer ist dieser Mann und warum sollte ich auf den Bergfriedhof kommen? Ihren Namen könnten Sie mir auch verraten.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Was weiß ich! 10 Minuten, eine Viertelstunde. Ich war pünktlich.«
»Und Sie haben den Mann so vorgefunden?«
»Ja.«
»Was ist ihm zugestoßen? Sie sind der Fachmann, Herr Koller. Ein Herzinfarkt?«
Mir platzte der Kragen. »Hören Sie mal, großer Häuptling«, rief ich, und es fehlte nicht viel und ich hätte ihn geschüttelt. Er wich zurück. »Sie halten mich wohl für bescheuert! Klären Sie mich gefälligst auf, was hier gespielt wird. Was ist mit dem Mann passiert? Warum liegt er auf dem Grab? Was tue ich hier? Und erzählen Sie mir nicht, Sie hätten den Kerl nie gesehen.«
»Bitte, Herr Koller.«
»Nichts da! Beantworten Sie meine Fragen.«
Er räusperte sich. »Ich kenne den Mann nicht. Glauben Sie mir.«
»Ach, nein? Und warum bin ich dann hier?«
»Tja, warum sind Sie hier?« Er sah mich ernst, fast sorgenvoll an. Plötzlich aber erblühte ein winziges Lächeln in seinen Mundwinkeln, ein kaum wahrnehmbares Zeichen dafür, dass er sich über irgendetwas prächtig amüsierte, und er sagte: »Vielleicht als Zeuge?«
»Wie?«
»Ja, als Zeuge für meine Unschuld. Für die Tatsache, dass ich mit dem Tod dieses Mannes nichts zu tun habe. Rein theoretisch natürlich, denn Sie werden keine Aussage machen müssen.«
»Als Zeuge, so ein Quatsch. Wer weiß schon, was Sie in der letzten halben Stunde getrieben haben.«
»Jedenfalls keinem meiner Mitmenschen Gewalt angetan«, sagte er bestimmt. »Sehe ich vielleicht so aus? Und hätte ich Sie dann herzitiert? Ich weiß nicht, wie