Marcus Imbsweiler

Bergfriedhof


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als würde ihm gleich ein Backenzahn gezogen; meine Anwesenheit schien ihm physische Schmerzen zu bereiten. Ein paar Sekunden verharrten seine Gesichtszüge in dieser Stellung, dann entspannten sie sich wieder. »Sehen Sie, Herr Koller …«, begann er. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und tastete in dem Fach unterhalb des Radios nach einer Bonbondose. Auf der Hand wuchsen dunkle und einige schon ergraute Haare. Lange, starke Haare.

      »Sehen Sie …«, wiederholte er, dabei gab es nichts zu sehen. Er kramte weiter in dem Fach herum und ließ die Fahrbahn nicht aus den Augen. Endlich wurde er fündig und warf ein Hustenbonbon ein.

      »Es war ein anstrengender Tag, Herr Koller. Ich würde ihn gerne zu einem guten Ende führen. Akzeptieren Sie meinen Vorschlag, und ich werde Sie weiterempfehlen. In meinem Bekanntenkreis benötigt man immer mal wieder die Dienste eines verlässlichen Detektivs. Wenn ich ein gutes Wort für Sie einlege, werden Sie sich vor Aufträgen kaum noch retten können.«

      »Leichen auf dem Bergfriedhof inklusive?«

      »Apropos: Ich weiß nicht, ob Sie die Polizei über diesen … diesen Vorfall informieren möchten.«

      »Erste Bürgerpflicht, finden Sie nicht?«

      »Dann rate ich Ihnen, anonym zu bleiben. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, verstehen Sie? Die Behörden hegen gewisse Vorurteile gegen Ihren Berufsstand.«

      »Wer hegt die nicht?«, lächelte ich. »Was arbeiten Sie eigentlich, Herr …?«

      »Oh, ich bin Rentner«, wehrte er ab. »Ich habe mein Berufsleben lange hinter mir.«

      »Also doch Schnabeltasse. In welchem Altersheim verdämmern Sie wohl Ihren Lebensabend?«

      Nun brachte er ein kleines Lächeln zustande; nicht zu viel, nicht zu wenig, gerade richtig, seiner Ansicht nach. Vermutlich fand er mich recht drollig und bemitleidenswert, weil ich so weit unten am Fuß der Gesellschaftspyramide beheimatet war, Lichtjahre von seiner eigenen Position entfernt.

      »Es gibt mehr suizidgefährdete alte Menschen, als man ahnt«, murmelte er nachdenklich vor sich hin. Sein Bonbon wanderte von einem Mundwinkel in den anderen. Er war überhaupt nicht nachdenklich, tat aber so.

      »Und seine Waffe?«, brummte ich. »Die hat er wohl verschluckt?«

      »Die wird sich finden. Vielleicht haben Sie sie eingesteckt.«

      »Habe ich. Und deshalb verraten Sie mir jetzt Ihren Namen, sonst gibt es ein Blutbad.«

      »Oder es war ein Unfall. Nachts, im Dunkeln, wer weiß … Die Polizei wird es herausfinden, da vertraue ich auf unsere Behörden.«

      Mir gefiel nicht, wie er ›unsere‹ sagte. Wahrscheinlich verachtete er Polizisten genauso wie Privatflics. Hielt sie wohl beide für käuflich. Natürlich, er als geschröpfter Steuerzahler, an dessen starke Schulter sich Vater Staat in Zeiten der Rezession lehnte. Ermittelt wurde immer mit seinem sauer verdienten Geld. Mit seinen Steueralmosen und seinen Honoraren. Deshalb verachtete er uns. Zugeben würde er das freilich nicht, beschwor vielmehr wortreich die Gemeinschaft der Werktätigen, holte uns alle in sein großes Wir-Boot, ohne dabei rot zu werden. Er musste ja nicht ewig lügen. Noch fünf Minuten, dann war er mich los.

      Der Wagen surrte zufrieden. Unter uns leuchteten die Lichter der Altstadt. Wir hatten diesen Umweg nehmen müssen, weil der Steigerweg, der zur Seitenpforte des Bergfriedhofs führte, einseitig gesperrt war. Die halbe Straßenbreite hatten sie wegen Kanalarbeiten aufgerissen. Auf dem Hinweg war ich durch die Weststadt gekommen und am Alois-Link-Platz von der Rohrbacher Straße abgebogen. Der Rückweg führte uns notgedrungen weiter bergan, durch den Wald Richtung Schloss und in engen Serpentinen hinab in die Altstadt. Wir erreichten die Friedrich-Ebert-Anlage und bogen links ab. Die Straßen waren menschenleer, nur hinter den erleuchteten Fenstern strich ab und zu ein Schatten vorbei.

      Wenn es wenigstens in dem BMW einen Hinweis auf den Besitzer gegeben hätte! Aber der Innenraum des Wagens war penibel aufgeräumt, da hing nicht einmal ein Talisman vom Rückspiegel. Ich sah mich um. Keine Musikkassette, die Hutablage verwaist, die Heckscheibe ohne einen einzigen Aufkleber. Nur die dämliche Bonbondose und ein paar Autokarten in den Türfächern. Der BMW erwies sich als genauso verschwiegen wie sein Besitzer.

      Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen, den Friedhof zu verlassen. Ich hätte den Toten untersuchen können; irgendein Hinweis auf seine Identität hätte sich bestimmt gefunden. Aber der Silberrücken hatte zum Aufbruch gedrängt. Er wollte fort von der Leiche, runter vom Friedhofsgelände. Mein Geld liege im Wagen, hatte er behauptet. Ich war ihm schließlich gefolgt. Wenn es eine Chance gab, seinem Namen auf die Spur zu kommen, dann jetzt. In seinem Wagen, im Gespräch mit ihm, an seiner Seite. Der Tote würde noch die ganze Nacht auf seinem Grab liegen. Auch wenn es gar nicht sein Grab war.

      So kam es, dass ich in den BMW des Unbekannten eingestiegen war. Wenn ich während der Fahrt nichts über den Mann in Erfahrung bringen konnte, musste ich mir halt das Nummernschild des Wagens merken. Mein Fahrrad blieb einsam an der Friedhofsmauer zurück.

      »Suchen Sie etwas?«, fragte der Alte, als ich mich im Innenraum des Wagens umschaute. Wir näherten uns bereits dem Bismarckplatz.

      »Suchen wir nicht alle irgendetwas?«, murmelte ich und fixierte das verschlossene Handschuhfach. »Sind wir nicht ständig auf der Suche?«

      »Wenn es um Ihr Honorar geht, machen Sie sich mal keine Sorgen. Ist Ihnen Barzahlung recht?«

      In diesem Fall wäre mir ein Verrechnungsscheck mit Namenszug lieber gewesen. Ich öffnete das Handschuhfach, entnahm ihm ein Buch und einige Papiere. Lauter belangloses Zeug, das sah man auf den ersten Blick.

      »Was soll das, Herr Koller?«, protestierte der Alte. »Das bringt doch nichts. Unsere Abmachung war …«

      »Welche Abmachung?«, schnitt ich ihm das Wort ab. Bei dem Buch handelte es sich um die übliche technische Beschreibung des Wagens, die Papiere gingen in die gleiche Richtung. Was tun im Notfall? und So funktioniert Ihr Airbag.

      »Nun lassen Sie doch die Finger von den Sachen!«, schimpfte er.

      Fort mit dem Zeug. Es lagen noch weitere nichtssagende Zettel im Fach. Die neue fondorientierte Mittelkonsole, made in Germany. Ein alter Parkschein, bunte Prospekte, ein kleiner Faltplan der Frankfurter Innenstadt. Nichts, überhaupt nichts. Es war zum Heulen.

      Der BMW kam zum Stehen. Wir waren jenseits des Neckars in Neuenheim angelangt, kurz hinter dem Brückenkopf. Nur wenige Fahrzeuge huschten über die sonst so stark frequentierte Brückenstraße mit ihren rundum erneuerten Straßenbahngleisen.

      »Verdammt noch mal!«, herrschte mich der Alte an, aber nicht einmal diese Erregung schien mir echt. »Wollen Sie nun auf mein Angebot eingehen oder nicht, Herr Koller? Dann hören Sie auf, hier herumzusuchen. Es hat Sie nicht zu interessieren, wer ich bin und was ich ursprünglich von Ihnen wollte. Mein Auftrag lautet: Es hat nie einen Auftrag gegeben, verstanden? Also: Nehmen Sie an, ja oder nein?«

      Ich grinste ihm ins Gesicht. »Es gibt nichts, was ich lieber täte«, sagte ich. »Ich werde meinem Wohltäter ewig dankbar sein und ihm eine Kerze anzünden, sobald ich zu Hause bin.«

      »Ich bin nicht Ihr Wohltäter«, entgegnete er und schnallte sich los. »Ich will bloß meine Ruhe.«

      »Richtig, Sie sind ja ein alter, pflegebedürftiger Mann.«

      Er griff in die Innentasche seines Mantels und hielt mir einen Umschlag unter die Nase. »Das hier sind 5000 Euro, Herr Koller. 5000. Mein Honorar für Ihr Stillschweigen. Ich vertraue Ihnen.«

      Er vertraute mir, wie schön. Ich musterte den Mann. Er hatte ein großes, quadratisches Gesicht, leicht gerötet und von weißen Haaren gekrönt. Eine markante Nase, rechteckige, randlose Brillengläser. Die wässrigen Augen eines Greises. Er benutzte ein würziges Aftershave oder eine Gesichtslotion, und er trug ein blaues, geblümtes Seidentuch. In der Hand hielt er einen Umschlag mit 5000 Euro, für ihn ein Klacks, aber ein satter Betrag für einen arbeitsscheuen Privatflic.

      Zugreifen, sagte eine innere Stimme.

      Und dann? Stillhalten?