Marcus Imbsweiler

Bergfriedhof


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spät? Kurz vor Mittag?«

      »Wie mans nimmt«, sagte ich düster. »Mir persönlich war nicht klar, wie viele wache Menschen sich um diese Uhrzeit in den Straßen herumtreiben.«

      »Erzieher zum Beispiel. Wenn auch nicht am Samstag. Aber Viertel nach acht kann nur eines bedeuten: dass die Polizei längst alarmiert war und sie den Friedhof großräumig abgesperrt hatte.«

      »Die Polizei? Nein.«

      »Oder die Friedhofsverwaltung, was weiß ich.«

      Ich schüttelte den Kopf.

      »War die Leiche denn noch nicht entdeckt? Das glaube ich nicht.«

      »Welche Leiche?«

      »Wie, welche Leiche? Dein Toter auf dem Grab!«

      »Das Grab war da.«

      »Natürlich war es da!«

      »Aber die Leiche nicht.«

      »Was? Sie war weg?«

      »Ja. Weg. Fort. Perdu. Keine Leiche mehr. Ich habe genauso blöd geschaut wie du jetzt.«

      5

      Die Tendenz zum Zweitrad wird immer stärker, sagt man. Ich besitze vier Räder, dafür kein Auto. In Heidelberg selbst kommt man ganz gut ohne aus, und für berufliche Fahrten ins Umland steht mir Fattys Mini immer zur Verfügung. Fatty selbst würde das eventuell etwas anders formulieren. Vier Fahrräder also, auch wenn sie abwechselnd kaputt sind: ein altes, unansehnliches Rennrad; ein grellrotes Mitbringsel vom Sperrmüll mit einer Teufelsgesichthupe; für schnelle Besorgungen ein Damenrad mit Korb; und ein schönes stabiles Tourenrad, das ich in der Stadt nie verwende. Momentan war das Damenrad platt, die Rennmaschine stand am Bergfriedhof, sodass für die morgendliche Fahrt dorthin nur Nummer zwei, die rote Mähre, infrage kam. Ich saß auf und fuhr los.

      Geschlafen hatte ich gut. Erstaunlich gut sogar. Keine Alpträume, keine längeren Wachphasen. Bloß die Augen hatten geschmerzt, als ich um halb eins ins Bett gefallen war, und sie schmerzten beim Aufwachen immer noch. Dieses verdammte Pfefferspray! Die Lider waren geschwollen, die Wimpern verklebt, alles juckte. Ich legte mir zwei kalte Waschlappen auf die Augen, seufzte auf – und nickte noch einmal ein. Max Koller ist wirklich alles andere als dämmerungsaktiv.

      Gegen sieben schreckte ich hoch. Helles Frühlingslicht fiel durch die offenen Vorhänge. Vertan die Chance, als Erster den Bergfriedhof zu betreten. Die Frühaufsteher unter den Senioren zupften bestimmt schon das Unkraut von den Gräbern, die Friedhofswärter würden ihre Runde drehen. Die Polizei war längst alarmiert, wenn auch nicht durch den Silberrücken. Der hatte sich nach einem stillen Gebet und einem maßvollen Schluck Asbach Uralt zur Ruhe gelegt, um schmunzelnd seiner Pfeffersprayattacke und des übertölpelten Privatdetektivs zu gedenken. Am nächsten Morgen würde er gemütlich frühstücken und während des Studiums der Börsenkurse auf eine ganz bestimmte Radiomeldung warten: Gegen sechs Uhr 30 fanden Wärter des Heidelberger Bergfriedhofs eine bislang unidentifizierte männliche Leiche …

      Ich ging ins Bad und wusch mir ausgiebig das Gesicht. Meine geröteten, geschwollenen Augen ließen sich nur halb öffnen: schmale Sehschlitze, durch die ich mich prüfend betrachtete. Ich war angeschlagen, übernächtigt und schlechter Laune. Am liebsten hätte ich mich wieder ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und von gefüllten Auberginen geträumt. Aber da war noch was.

      Da war ein Mann mit weißen Haaren und Brille, ein Mann ohne Namen, der mich verachtete, weil ich nicht sein gesellschaftliches Niveau besaß. Der die Menschheit in Macher und Marionetten einteilte und mich, die Ermittlermarionette, einen ganzen Abend lang nach Gutdünken hatte herumtanzen lassen. Nur heute Morgen sollte ich nicht tanzen, da sollte ich brav im Bett liegen bleiben. Das war die Rolle, die er sich für mich ausgedacht hatte, und ich ertappte mich dabei, wie ich nach unten schielte, um die Fäden zu entdecken, an denen meine Marionettenglieder hingen.

      So nicht, alter Mann. So nicht. Ich schüttelte mich, zog mir einen Pullover über und verließ meine Wohnung.

      Um Viertel nach acht stellte ich die rote Mühle zu meinem Rennrad neben den Seiteneingang. Unten bollerten die Autos über das Kopfsteinpflaster der Rohrbacher Straße. Ich schwitzte, aber die frische Luft hatte meinen Augen gut getan.

      Eine Weile stand ich nur da und lauschte. Es gab nichts Besonderes zu hören. Auch nicht zu sehen. Nur das Übliche: Fußgänger auf dem Weg in die Stadt, Kinder, die hinter offenen Fenstern spielten, ein Bus, der sich langsam an der Baustelle vorbeiquälte. In den Baumkronen des Bergfriedhofs sangen Vögel, irgendwo hustete jemand laut. Alles wie immer, alles normal, und das fand ich überhaupt nicht normal.

      Wo war die Menschenansammlung, wo waren die Absperrungen, der Notarztwagen, der Leichen­be­statter? Selbst wenn der Mann auf dem Grab keine medizinische Hilfe mehr benötigte und selbst wenn er auf die diskreten Dienste der Pietät Soundso verzichten konnte – schließlich lag er im Prinzip schon dort, wo er hingehörte –, selbst dann vermisste ich jemanden.

      Wo blieb die Polizei?

      Es klickte leicht, als ich den Ständer meines Fahrrads mit dem Fuß umlegte. Ich schloss es ab und steckte den Schlüssel ein. Die ganze Sache kam mir komisch vor. Die Seitentür des Friedhofs stand offen. Ich betrat das Gelände, sah mich um und ging langsam denselben Weg wie gestern Abend um 11. Eine ältere Frau kam mir entgegen, klein und energisch, bestimmt schon seit Stunden wach. Sie nickte mir kurz zu. Nach einigen Metern blieb ich stehen und schaute hinunter ins Parterre des Bergfriedhofs. Morgendliche geschäftige Betriebsamkeit. Verwelkte Blumen wurden auf den Kompost geworfen, neue eingepflanzt, Frauen – kein einziger Mann war zu sehen – harkten, schnitten und putzten, gossen und begutachteten. Ganz in der Nähe spielten drei Kinder zwischen den Gräbern Verstecken, ihre junge Mutter hielt sie nur mühsam im Zaum. Die Sonne lachte vom Himmel. War das derselbe Ort, an dem ich keine 10 Stunden zuvor einen Toten gefunden hatte?

      Ich bog um eine Ecke und sah die Grabplatten von gestern vor mir. Die Gräber – aber keinen Toten. Da war der schmale Weg, da waren die Büsche, die Wurzeln, die Steinplatten, die Namen darauf und sonst nichts. Kein Aufruhr, keine Absperrbänder, kein Polizist und vor allem: keine Leiche. Tabula rasa.

      Ich stand unter den mächtigen, leise rauschenden Kastanienbäumen und kratzte mich im Nacken. Natürlich, wo es keine Leiche gab, brauchte man auch keine Behörden. Aber wer hatte den Mann weggebracht? Und wohin, warum, wann?

      Oder war ich vielleicht, nein, Unsinn. Irrtum ausgeschlossen: Ich war punktgenau an der richtigen Stelle gelandet, hatte exakt den Weg von gestern Abend eingeschlagen. Die Gräber waren nicht zu verfehlen, es waren schließlich die einzigen weit und breit, die man schmucklos, fast unansehnlich gelassen hatte. Rechteckige Grabplatten aus den Kriegsjahren, roh behauen, darüber ein paar schäbige Holzkreuze. Die üblichen mitteleuropäischen Abschiedsworte: Hier ruht in Frieden …, Der Herr spricht …, auf manchen lediglich der Name, die Daten. Spatzen saßen auf einem Kreuz. Ein warmer Frühlingstag, sonnig.

      Eins der drei spielenden Kinder rannte vorbei und stolperte über die eigenen Füße. Wie ein junger Hund, der noch keine Kontrolle über seine tapsigen Gliedmaßen hat. Es rappelte sich auf, lachte über das ganze dreckige Gesicht und rannte zu seiner Mutter zurück. Diesmal unfallfrei. Ich sah ihm nach und rieb mir das Kinn. Verdammt noch mal, wo war der Kerl?

      Wo steckte er? Im Grab vielleicht? Auf welchem hatte er überhaupt gelegen?

      Dann ein Déjà-vu-Erlebnis: das leichte Zittern der Erde, ein rumpelndes Geräusch von unten, aus der Ebene. In der Rohrbacher Straße fuhr die Straßenbahn aus Leimen Richtung Stadt.

      Ich schaute mich um; niemand beachtete mich. Eine Hand am Kinn, wiederholte ich langsam die Schritte, die ich tags zuvor gemacht hatte. Ging noch einmal zurück zum Seiteneingang, kehrte um, versuchte mich an Details der Umgebung zu erinnern. Wie lange hatte ich gebraucht, wo hatte ich gestanden, wo genau war ich gestolpert? Am Ende gelangte ich zu einer der mittleren Grabstellen. Jakob Burkhardt stand auf dem altersdunklen Kreuz. Er war 17 Jahre alt gewesen, als er starb. Sie hatten ihm die gleiche nackte Steinplatte gegeben wie den anderen auch, er hatte ihr Schicksal