Marcus Imbsweiler

Bergfriedhof


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Teil des Friedhofs liegt ziemlich einsam, ein paar Meter nur, dann ist er am Ausgang, und wenn er seinen Wagen geschickt geparkt hat, sieht ihn kein Mensch.«

      »Und der Einzige, der von dem Toten weiß, liegt kampfunfähig im warmen Bett. Du bist mir ein schöner Ermittler.«

      Ich sah Fatty zu, wie er mit vorwurfsvoller Miene ein Stück Weißbrot in die Olivenöltunke stippte.

      »Die Schmerzen«, sagte ich, »die Schmerzen waren einfach unerträglich. Schlimm war das. Schlimm.«

      Er hielt inne und betrachtete mich eingehend von oben bis unten, bevor er das öltriefende Stück Brot in den Mund steckte.

      »Schlimm«, wiederholte ich und schaute gequält zur Seite.

      »Schmerzen machen stark«, bemerkte er kauend. Dann leckte er sich gedankenverloren die Finger ab. Er sah aus, als habe er gegen einen zweiten Teller Lamm und Aubergine nichts einzuwenden.

      Lautes Klirren ließ uns hinunter in den Hof schauen. Eine Bewohnerin des Hinterhauses stieg gerade von ihrem Rad, im Lenkerkorb purzelten Bierflaschen in einer Plastiktüte durcheinander. Die Frau war dürr und hässlich und Zahnarzthelferin. Zumindest hatte sie Letzteres mir gegenüber einmal behauptet. Jeder im Block kennt sie, weil sie sich regelmäßig mit ihrem Freund streitet, der großformatige Aktbilder malt und möglicherweise sogar verkauft. Sie streiten lange und laut. Man hört es im Hinterhaus, im Vorderhaus, in den Nachbarhäusern. Einmal kam sogar der Besitzer der Apotheke vis-à-vis, klingelte und fragte, ob er helfen könne. Er hatte Pflaster und Mullbinden mitgebracht. Weswegen die beiden streiten, weiß ich nicht. Jedenfalls nicht wegen der Aktbilder. Der Mann malt immer nur aus dem Gedächtnis; Modelle kann er sich nicht leisten.

      Die dürre Frau stellte ihr Rad ab und nahm die Plastiktüte mit den Bierflaschen aus dem Korb. Sie schlurfte zum Hintergebäude und kramte nach ihrem Hausschlüssel, ohne ihn zu finden. Kurz überlegte sie, dann stellte sie die Tüte auf den Boden und öffnete eine Flasche. Mit den Zähnen. Trinkend blickte sie sich schuldbewusst um; nach oben wanderte ihr Blick allerdings nicht.

      Wir schauten uns schweigend an. Mit den Zähnen, Respekt. Und das von einer Zahnarzthelferin. Vielleicht kam sie billig an Prothesen.

      »Der Tote«, begann Fatty, als die Frau im rückwärtigen Gebäude verschwunden war. »Hast du eine Idee, wer er sein könnte?«

      »Schwer zu sagen.«

      »Kein Anhaltspunkt? Nichts Besonderes an ihm? Beschreibe ihn mal.«

      Achselzuckend stellte ich mein Glas auf den Tisch. »Ich habe ihn ja nur kurz gesehen. Er war im Pensionsalter, über 70 wahrscheinlich, mittelgroß, hageres, fast knochiges Gesicht, markante Nase und die Augen… starr und weit geöffnet halt. Braune Augen. Ein abgetragener Anzug. Dunkle Hosen, dunkle Schuhe, alles recht unansehnlich. Das Einprägsamste waren seine Augen.«

      »Jean-Louis Trintignant.«

      »Da gab es doch mal diesen jüdischen Nobelpreisträger aus New York, der so heißt wie ein Tier, na …?«

      »Katzehundtiger?«, half Fatty freundlich.

      »Nee, was Netteres. Egal. Ich komm schon noch drauf. Übrigens roch er nach Mottenpulver.«

      »Nach Mottenpulver?«

      »Ja, nach Mottenpulver. Kann ich auch nichts dafür. So wie es bei dir riecht, wenn du deinen Kleiderschrank öffnest.«

      »Ich hab noch nie Mottenpulver benutzt. Weiß gar nicht, wie das riecht.«

      »So wie der halt. Vielleicht war es auch etwas anderes, keine Ahnung. Eigentlich kam er mir vor wie ein …« Ich überlegte. »Ja, wie ein Ausländer.«

      »Wie ein Ausländer?«

      »Mhm …«

      »Verstehe ich nicht.« Fatty runzelte die Stirn. »Wie riechen denn Ausländer?«

      »Wieso riechen? Ich habe nicht gesagt, dass er wie ein Ausländer roch.«

      »Natürlich hast du das.«

      »Quatsch, ich habe gesagt, dass er mir wie ein Ausländer vorkam.«

      »Du hast gesagt«, unterbrach mich Fatty, »dass er nach Mottenpulver roch, vielleicht aber auch nach etwas anderem, und du ihn deshalb für einen Ausländer hältst. Und nun frage ich mich, wie er deiner Meinung nach wohl riecht, der genormte Standardausländer? Nach Knoblauch? Nach Mülltonne?«

      »Verdammt, Fatty, dreh mir das Wort nicht im Mund rum!«

      »Ich drehe nicht. Du drehst!«

      »Ich wollte bloß diesen Geruch beschreiben. Einen fremdartigen, ungewöhnlichen Geruch, klar?«

      »Ungewöhnlich ist noch lange nicht ausländisch.«

      Abwehrend hob ich die Hände. »Ich nehms zurück, okay?«

      »Aber Ausländer …«, begann er.

      »Vergiss es!«, schnitt ich ihm das Wort ab.

      Er zuckte die Achseln.

      Pause. Ich goss Wein nach.

      Du meine Güte, ich bin doch nicht fremdenfeindlich! Nur weil ich hin und wieder eine unbedachte Bemerkung fallenlasse? Mein ganzes Dasein besteht aus unbedachten Bemerkungen, und die treffen Ausländer ebenso wie Einheimische. Dass mir bestimmte Menschen fremder sind als andere, Asiaten fremder als Europäer, Osteuropäer fremder als Westeuropäer – das sagt gar nichts. Ich bin nun mal im Südwesten der Bundesrepublik aufgewachsen, und ich lebe dort; das prägt. Ob mir allerdings Bayern, Lausitzer oder Nordfriesen näher stehen als Elsässer, Schweizer oder Luxemburger, wage ich zu bezweifeln, und beim Kochen verhalte ich mich eindeutig undeutsch. Mein Gaumen ist ein heimatloser Geselle. Daran denkt jemand wie Fatty natürlich nicht.

      Trotzdem, das mit der weltoffenen Küche mag stimmen, aber es stellt bloß die eine Seite der Medaille dar. Auf der anderen Seite sind weniger schmeichelhafte Dinge verzeichnet. Zu diesen Dingen gehört meine reflexartige Abwehrhaltung, wenn sich Zugnachbarn einer Sprache bedienen, die ich für Serbisch halte. Dazu gehören meine Aversionen gegen türkische Halbstarke mit Gel im Haar und Goldkettchen an den Handgelenken, die gelangweilt auf dem Bahnhofsvorplatz herumlungern, gegen ihre verschleierten Mütter und ihre rauchenden, Filme glotzenden Väter. Nein, ich bin nicht so offen und tolerant, wie ich es gerne wäre und wie es die öffentliche Meinung verlangt. In der Schülerzeitung schrieb ich einmal, wir bräuchten mehr Exoten in diesem verstaubten Land, ohne Afrikaner oder Asiaten würden wir in unserem eigenen Mief ersticken. Die Provokation gelang prächtig, unser Religionslehrer bekam einen Wutanfall, und in einigen Fächern wurden meine Noten plötzlich schlechter. Aber dann kam der Tag, an dem mein Cousin eine Senegalesin heiratete und ich einsah, dass ich mir in die Tasche gelogen hatte. Mit einer Schwarzen leben? Das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Warum nicht? Ich wagte nicht, genauer darüber nachzudenken. Und wenn man schließlich noch anführt, dass meine Eltern mich mit 14 zum Schüleraustausch in die Bretagne schickten und ich erst nach drei Wochen, nach drei schrecklichen Wochen, in denen ich heulte und mich übergab und heulte und abnahm, zurück nach Hause durfte, dann existiert möglicherweise doch der eine oder andere Hinweis auf eine tief in Max Koller verankerte Fremdenangst.

      Mag sein.

      Nur brauchte ich mir das nicht von einem Friedhelm Sawatzki vorhalten zu lassen. Nicht von einem politisch überkorrekten Kindergärtner mit schlesischen Vorfahren, der stets weiß, welche sozialkritische Stunde geschlagen hat, der mit 15 das Kapital … Aber das erwähnte ich ja schon.

      Zurück zu unserem Abendessen auf einem der brüchigsten Hinterhofbalkone Heidelbergs.

      »Okay«, sagte Fatty versöhnlich. »Lassen wir den Toten in Ruhe, Mottenpulver hin oder her. Schenkst du mir noch mal ein?«

      Ich grinste.

      »Was ist mit deinem Auftraggeber? Wer könnte das gewesen sein?«

      »Keinen blassen Schimmer.«

      »Lass uns logisch vorgehen. Ein Heidelberger? Auswärtiger? Wie sprach