Marcus Imbsweiler

Bergfriedhof


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Tiefsee. Der Kopf war rot, rund und groß. Es ließ sich erahnen, welche Ausmaße der dazugehörige Körper hatte. Aber als meine zurückweichenden Vorderleute die Sicht freigaben, war ich doch überrascht. Was für ein Klumpen Fleisch! Solange die Stammtischler saßen, achtete man nicht auf ihre Statur, und sie saßen eigentlich immer.

      »Was ist los?« fragte ich.

      In dem großen Kopf befand sich ein großer Mund, und dieser Mund öffnete sich wie ein Scheunentor. »Du warsch des also«, dröhnte es aus dem Mund. »Du!«

      Eine scheppernde Bassstimme, aber es war kein Mann. Es war eine Frau, und sie schwankte, als sie ihren tonnenschweren Leib auf unseren Tisch zu bewegte.

      »Du also«, keuchte sie. »Wart du nur …«

      »Moment, Moment«, sagte ich.

      Ich konnte mir nicht helfen, in diesem Augenblick musste ich an ein Bilderbuch aus meiner Kindheit denken. Es erzählte, wie die Soldaten Alexanders des Großen von den Elefanten der indischen Heere in Angst und Schrecken versetzt wurden. Alles an der Frau war breit und mächtig, ihre Hüfte, ihre Brust, von den Oberarmen ganz zu schweigen. Auf der Oberlippe sprossen dunkle Bartstoppeln, über dem Kehlkopf schaukelte träge ein mächtiges Doppelkinn. Hinter ihr feixten ihre Freunde, diese Clique von Bergstraßen-Mafiosi, die von ihren Mieteinnahmen leben wie die Maden im Speck und sich trotzdem nur Marias billigsten Landwein leisten.

      »Du warsch der Dorschgegnallde«, grollte die Natur­erscheinung, »vun dem mei Ängelin vazählt hett. Des ahme Schessica!«

      »Was? Wie?«, stotterte ich.

      »Des ahme Schessica.«

      »Jessica?«

      Sie rückte näher. Alles, was im Weg stand – Stühle, Tische, Gäste –, räumte sie mit rudernden Armbewegungen beiseite. »Kommt des Mäde geschdern hemm, flennt Rotz unn Wassa unn vazählt vun so nem Beglobbde uffem Rad, wos iwwerfahre hett. Is de ganze Dah nur noch am Flenne, des ahme Ding!«

      »Das tut mir sehr leid«, stammelte ich hilflos, »aber …«

      »Mensch, er war doch auf der Flucht«, sprang mir Tischfußball-Kurt dankenswerterweise bei. »Die halbe Polizei der Stadt war hinter ihm her.«

      »Schessica«, schnaufte die Frau unbeeindruckt, »mei ahmes Schessica« – und schon befand ich mich in Reichweite ihrer astdicken Arme. Sie schien zum Äußersten entschlossen. Meine Revolutionäre wichen zurück, drückten sich an die Wand, und der mit der Nickelbrille hätte fast seine Zigarette verschluckt. Ich war starr wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. Diese Tonne war doch kein Gegner! Da holte sie auch schon zum Schlag aus. Ich duckte mich, wich zur Seite aus und sprang über ein paar Stühle, bis ich hinter Herbert Deckung fand. Bevor sich entschied, ob mir das Weib nachsteigen würde, trat ihr Maria in den Weg. Und das war keine Selbstverständlichkeit. Denn die glatzköpfige Wirtin war zwei Köpfe kleiner als das tobende Monstrum und dreimal so leicht. Doch die Angst um ihr Mobiliar verlieh ihr Löwenkraft.

      »Basta!«, schrie sie. »Schluss jetzt! Boxe kennt ihr drauße, signorina, aber net in meine trattoria. Finito!«

      Das half. Marias kurpfälzisch-sizilianischer Mischmasch wirkte wahre Wunder; schnaubend zog sich die Dicke zurück, dann gab es eine Flasche Rotwein aufs Haus, und ein paar Minuten später war das Donnergrollen vorüber.

      Wir atmeten auf.

      Bewacht von Maria, blieb Jessicas Großmutter folgsam, wenn auch finstere Verwünschungen murmelnd, vor einem winzigen Weinglas sitzen; ringsum meckerten die Stammtischler vor Freude über den gelungenen Auftritt, bohrten in der Nase und fragten sich, wann sie zum letzten Mal so herzlich gelacht hatten. Wir Helden nahmen still an unserem Tisch Platz, die grimmigen Blicke der Alten brannten wie Feuer auf uns. Eine Zeit lang sprach keiner.

      Auch ich schwieg. Das war das Ende meiner schönen Geschichte. Selbst wenn sie nach der Fortsetzung verlangten, würde ich sie ihnen nicht erzählen, diesen Hasenfüßen. Räterepublik, von wegen. Dach der Alten Aula, lachhaft. Sie würden nie erfahren, was ich auf dem Bergfriedhof und in der Umkleidekabine der Boutique in der Plöck erlebt hatte. Mich so im Stich zu lassen!

      Immer noch herrschte betretene Stille, unterbrochen nur vom Klicken der Feuerzeuge und dem leisen Klirren behutsam abgesetzter Gläser; dann aber merkte ich, dass Herbert in aller Seelenruhe einen Zug getan hatte. Einen verdammt guten Zug. Ich fluchte. Meine Dame war in akuter Gefahr und meine Konzentration dahin.

      »Meine Eröffnung«, sagte Herbert entschuldigend. »Wenn die erst mal verkorkst ist, geht nix mehr.«

      »Man siehts, alter Jammerlappen«, brummte ich.

      Herbert zog nachdenklich an seiner Pfeife, dann nahm er sie aus dem Mund, zeigte auf mein linkes Auge und meinte: »So ganz haben dich die Jessicas dieser Welt aber nicht auffangen können, oder?«

      »Die haben halt nicht die Konsistenz ihrer Großmütter«, flüsterte ich zurück. Die Alte am Stammtisch spitzte bestimmt ihre fetten Ohren. Hätte mein prächtiges Veilchen gerne um ein weiteres ergänzt. Oder mir die Nase krumm geschlagen. Ich verzichtete dankend. Lieber flüstern.

      Ich machte einen Zug mit dem Springer. Gut war er nicht, aber er lenkte ab. Sollten Herbert und die anderen ruhig denken, ich hätte mir die Schrammen beim Sturz zugezogen. Diese Maulhelden ahnten ja nicht, was man in Heidelberg so alles erlebte.

      9

      Zumindest erlebte man etwas, wenn man zum falschen Zeitpunkt durch die Plöck raste und auf eine träge Masse von Schulkindern traf. Lauter Jessicas – aber das wusste ich gestern Mittag noch nicht. Ich saß auf meinem roten Fahrrad und schaute mich um. Wer war bloß auf den unglückseligen Gedanken gekommen, die Straße zum Schulhof zu machen? Und wo befanden sich meine Verfolger?

      Ich sah sie nicht. Wahrscheinlich hatten sie ihren Wagen rechtzeitig zum Stillstand gebracht und kämpften sich nun zu Fuß durch die Menge. Lange würden sie nicht auf sich warten lassen. Ich schob ein paar Halbwüchsige beiseite, blaffte Mädchen in rosa T-Shirts an – ja, glotzt nur blöd, ich bin ein Meteorit! – und hatte endlich wieder freie Bahn. Von meinem Rennrad keine Spur. Unter so vielen Anstrengungen hatte ich es hierher geschleppt, doch nun musste ich es der Ordnungsmacht opfern. Verdammt ärgerlich war das.

      Egal. Ich musste weiter. Rechts und links von mir stob alles auseinander.

      Aber ich kam nicht recht vorwärts. Das Hinterrad schien verzogen zu sein, der Reifen schleifte am Rahmen. Eine Folge des Sturzes wahrscheinlich. So ein Mist! Ich biss auf die Zähne, machte unter äußerster Kraftanstrengung ein wenig Boden gut, fuhr an einer Zeitungswand vorbei, wo ich in früheren, besseren Zeiten oft gestanden hatte. Morgen würde ich wieder dort stehen: in der Zeitung.

      Aber noch war ich frei und unerkannt. Ich fluchte, ich kämpfte, ich schwitzte – und brachte mit Mühe einen guten Steinwurf zwischen mich und die Unglücksstelle. Dann verfehlte mein linker Fuß die Pedale, und ich stürzte hin. Ich rappelte mich sofort wieder auf, aber nun blockierte das Hinterrad vollständig. Was tun?

      In diesem Moment kam mir zum ersten Mal ein Auto entgegen; kein Kleinwagen, sondern eine schwarze Geländemaschine mit Breitreifen und Stoßstangen, die dir auf Safari einen ausgewachsenen Elefanten weghauen. Sehr langsam fuhr der Jeep, zögerlich fast. Das kam mir gerade recht. Ich packte mein Rad, warf es in eine Hofeinfahrt, wartete, bis der Wagen an mir vorübergeschlichen war, und schlüpfte, hinter ihm Deckung suchend, in das nächstbeste Geschäft. Eine helle Klingel ertönte.

      Dann war endlich Ruhe.

      Wohltuende Ruhe.

      Als sich die Ladentür sanft schloss, hielt ich mich irgendwo fest und atmete erst einmal tief durch. Ließ die Lungenflügel arbeiten wie ein vorm Ertrinken Geretteter. Wenn die Rettung auch nicht von Dauer war: Wenigstens diese eine Tür befand sich zwischen mir und meinen Verfolgern. Hier war das Paradies. Fehlte nur noch der Engel mit dem Flam­menschwert, der den beiden Uniformierten den Eintritt verweigerte. Oder eine Schlange oder ein Teufel, egal.

      In meinem Paradies, immerhin, musste man nicht nackt herumlaufen.