Marcus Imbsweiler

Bergfriedhof


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oder Orchesterproben. Egal. Jedenfalls standen sie da, Samstag hin oder her, sie sahen die Gefahr, die sich ihnen näherte, aber sie reagierten nicht. Zumindest nicht schnell genug. Die Ersten ließen ihre Kippe fallen, die Nächsten begannen zu schreien, andere rannten los, wieder andere stolperten ihnen entgegen, sie fielen schon übereinander, bevor ich in sie hineinraste.

      Die Katastrophe war unvermeidlich. Ich konnte nicht ausweichen, überall standen sie, diese 14-, 16-, 17-Jährigen, und bis sich so eine träge Meute mal in Bewegung setzt… Kurz vor dem Aufprall, immer noch hoffend, da würde sich eine winzige Lücke auftun, bremste ich. Zu spät.

      Ich weiß nicht genau, was geschah. Alles wirbelte durcheinander: die Schreie der Jugendlichen, Sirenengeheul und Bremsenquietschen, ich sah bunte Flecken vor mir, rote, schwarze, blaue, Farbtupfer, die wohl von Schulranzen und Jeansjacken herrührten, ließ mein Rennrad los und tauchte ein in diese gigantische Malerpalette. So ähnlich dürften sich Hippies in ihren Kifferträumen gefühlt haben, beim Sprung in prallbunte, dreidimensionale Halluzinationen, beim Planschen im Innern einer Hammondorgel. Sogar eine olfaktorische Seite hatte dieses Erlebnis: Ein intensives, billiges Parfüm wehte mir um die Nase, schrecklich, mit was sich diese Halbwüchsigen begießen! Dann prallte ich gegen weiche Gegenstände, wurde gebremst von Bäuchen und Brüsten, Schenkeln und Hintern und landete schließlich in einer Hecke, die einen kleinen Spielplatz begrenzte. Dort roch es auch; allerdings nicht mehr nach Parfüm.

      Ich schnappte nach Luft und rappelte mich auf. Zwei bleiche Jungs mit Elvis-Tolle starrten mich entsetzt an. In einiger Entfernung quietschten Reifen. Schüler kauerten am Boden, es gab Hilferufe und Tränen, Schulhefte flatterten durch die Luft. Vor mir lag meine rote Mühle, das Vorderrad noch in wilder Drehbewegung. Jemand schrie mich an, einfach so, ohne Sinn und Verstand.

      Ich hasse Schule, dachte ich und hob das Rad auf.

      Sekundenbruchteile später saß ich wieder im Sattel und setzte meine Flucht fort.

      8

      Diese Geschichte machte mich bei Maria zum Helden. Einzubilden brauchte ich mir allerdings nichts darauf. Jeder, der sich mit den Bullen anlegt, wird im Gasthaus Zum Englischen Jäger, so heißt Marias Kneipe offiziell, zum Revolutionär erklärt, da gilt schon ein Sozialhilfeempfänger als Robin Hood. Und von Sozialhilfeempfängern wimmelt es bei Maria. Was hier herumlungert, würde so manchem anständigen Heidelberger schlaflose Nächte bereiten: Penner, gescheiterte Akademiker, linke Jugend, Bettler, Punks und Freaks. Aber auch das genaue Gegenteil dieser Kundschaft, nämlich alt eingesessene Heidelberger, deren Horizont exakt vom einen Ende der Bergstraße bis zum anderen reicht, keinen Meter weiter. Hier begegnen einem Gestalten, denen einfach alles zuzutrauen ist, knorrige Fremdenlegionäre mit Tätowierungen am Hals, vernarbt und schweigsam, am selben Tisch friedliche Trottel, die sich abends von ihrem Betreuer ins Heim bringen lassen, außerdem selbsternannte Propheten, Ökofritzen, Aussteiger, Wanderprediger, Hausbesetzer und Ex-Knackis. Alle vereint ein und derselbe schlichte Wunsch: in Ruhe ein billiges Bier zu trinken und über die oberen Zehntausend herzuziehen.

      Hier war ich goldrichtig.

      Ich traf am Sonntagnachmittag gegen drei ein, um von meinen Abenteuern zu berichten und dem schönen Herbert zu zeigen, wie man Schach spielt. Übrigens gleichzeitig, doch das störte keinen, am wenigsten Herbert. Beim Spielen hat er keine Eile: überlegt, kratzt sich knirschend die Bartstoppeln, überlegt, stopft sich die Pfeife, puhlt in den Zähnen herum, verzieht sich aufs Klo, um dort weiter zu überlegen … Ich quatsche derweil mit Maria, der Glatzköpfigen, bestelle ein Bier nach, lese Zeitung. Irgendwann kehrt Herbert zurück, legt die Pfeife zur Seite, macht eine fatalistische Geste und entschließt sich unter Seufzen und Wehklagen vielleicht zu einem Zug. Je inbrünstiger er dabei jammert, desto sicherer stehe ich vor dem baldigen Matt.

      »Die Eröffnung, Max«, lautet sein Lieblingsspruch. »Schon meine Eröffnung war ein Fiasko.« Heute bekam ich ihn dreimal zu hören.

      Der schöne Herbert ist zwar nicht schön – angeblich war er das nie –, aber bemerkenswert pessimistisch – das war er schon immer –, und er hat nur einen Arm. Ob das eine mit dem anderen zusammenhängt, wage ich nicht zu beurteilen. Vielleicht hat er als Jugendlicher noch ein wenig fröhlicher in die Welt geblickt, bevor ihm ein Blindgänger den rechten Arm bis zur Schulter abriss. Das war im Jahr 48 in Mannheim-Feudenheim, als er und seine Freunde taten, was alle Jungs ihres Alters taten: Sie liefen durch die Gegend, buddelten in der Erde herum und spielten mit den Gegenständen, die sie fanden. Zwei von ihnen überlebten es nicht, Herbert verlor seinen Arm. Da war er sieben. Aus irgendeinem Grund wurden seine Eltern viel zu spät benachrichtigt, und als er aus der Operation erwachte, war lediglich eine Krankenschwester im Raum, die ihm erklärte, worauf Vater und Mutter bei der Pflege zu achten hätten. Meine Mutter ist verschüttet, sagte Herbert, und mein Vater in Stalingrad vermisst; die Schwester wurde blass, doch eine Viertelstunde später standen Herberts Eltern im Zimmer und verpassten ihm eine Ohrfeige. Warum auch immer.

      Herbert erzählt diese Geschichte gerne, um seine Zuhörer zu amüsieren, aber wann er selbst zum letzten Mal herzhaft gelacht hat, weiß keiner. Mit links kommt er prima zurecht, behauptet er. Wird schon stimmen.

      Jedenfalls gaben seine langwierigen Denk-, Kratz- und Pfeifenstopfpausen mir Gelegenheit, häppchenweise von meinem heroischen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu berichten. Die halbe Kneipe lauschte aufmerksam: die Schachkiebitze an unserem Tisch, die Alten vom Stammtisch, zwei langhaarige Motorradfahrer an der Theke und natürlich Maria. Außer Hörweite, auf der anderen Seite des Raumes, saßen noch ein knutschendes Pärchen, drei Penner, von denen einer sanft entschlummert war, und ein träger Dicker, der gelangweilt an seiner Limo nippte.

      Als ich berichtete, wie meine Verfolger mit Blaulicht, aber gegen die Fahrtrichtung in die Plöck eingefallen waren, gab es kein Halten mehr.

      »Sind die jetzt gedopt?«, rief Tischfußball-Kurt begeistert; an der Theke lachten die beiden Motorradfahrer, dass ihre Wampen wackelten. Ein Langer mit Nickelbrille auf der spitzen Nase, den ich für höchstens 35 hielt, stammelte ergriffen: »Wie damals! Wie damals!« und erklärte zu meiner Überraschung, er habe schon 1968 vom Dach der Alten Aula herab zum bewaffneten Kampf und zur Bildung von Bürgerwehren aufgerufen, was ihm drei Wochen Knast eingebracht habe; da wollten die anderen nicht zurückstehen und prahlten mit den 70er-Jahren in Heidelberg, als letztmals Seminare geräumt, Studenten verhaftet und Brandreden gehalten wurden. Der heiße Herbst, jawohl! Berufsverbote, Staatsterrorismus, denen haben wir es aber gezeigt! Das waren noch Zeiten, schrieen die Altrevoluzzer und klopften mir anerkennend auf die Schulter.

      Selbst der schöne Herbert lächelte trübsinnig vor sich hin.

      »Schon gut«, wehrte ich ab. »Im Grunde wollte ich doch nur, dass die zwei mich nicht kriegen …«

      Maria brachte Nachschub an Bier. »Auf die Räterepublik!«, schrie einer. Laune und Umsatz stiegen.

      »Und wie ging es weiter?«, fragte Tischfußball-Kurt, der Mann, der sich ausschließlich von Orangensaft ernährt.

      Ich erzählte von meiner Flucht durch die Plöck und von den Schulkindern, die mir als Puffer dienten.

      »Das ist verdammt typisch«, kom­men­tierte die Nickelbrille. »Typisch für die heutige Jugend. Träge, weiche Masse. Bremst alles ab. Kein revolutionärer Impetus.«

      »Na, ich war froh drum«, sagte ich. »Fliege nach der Vollbremsung in hohem Bogen durch die Gegend, links und rechts kippt das Gemüse zur Seite, rennt auseinander, fängt an zu flennen.«

      Schade, ich war gerade so schön am Fabulieren. Weiter kam ich nicht, denn nun geschah etwas völlig Unerwartetes. Es war nicht ganz so verheerend wie der Blindgänger von Mannheim-Feudenheim, aber ähnlich eindrucksvoll.

      Im ersten Moment hätte ich auf ein fernes Erdbeben getippt. Das Grollen eines geschundenen Planeten, tektonische Verschiebungen unterhalb des Englischen Jägers. Gläser klirrten, Stühle rumpelten, eine leere Flasche fiel zu Boden. Die Revolutionäre an meinem Tisch drehten sich um und hielten den Atem an. Plötzlich wurde es sehr still in der Gaststube.

      Das Epizentrum des Erdbebens schien drüben beim Stammtisch zu liegen.