stimmte natürlich nicht. Marias breite Pizzateller werden immer bis zum Rand gefüllt. Ihre Pommes-frites-Portionen sind Legende, und daran wird sich so schnell nichts ändern. Das wusste auch Herbert, und deshalb zeigte sich zum ersten Mal so etwas wie Zufriedenheit auf seinem trübsinnigen Antlitz, was er durch seinen Kommentar zu verbergen suchte. Er schnappte sich zwei Pröbchen Ketchup, die Maria in die Mitte des Tischs geworfen hatte, bevor Tischfußball-Kurt sie alle einheimsen konnte, und vergaß für einen Moment sein geliebtes Schachspiel. Kurt moserte noch ein wenig herum, doch seine Lippen glänzten bereits fettig.
»Ich würd auch noch eins nehmen«, sagte ich und hielt Maria mein leeres Bierglas hin. Nickend und stumm die Bestellung memorierend, zog sie sich zurück.
Ich sah ihr nach. Manche Dinge werde ich nie verstehen. Warum tut diese Frau das alles? Warum ist sie so, wie sie ist? Jeden Tag 15 Stunden in einer schäbigen, verqualmten Kneipe, kein Ruhetag, eine Woche Urlaub über Weihnachten, die Klientel fragwürdig, der Verdienst minimal. Einer wie Maria würden die Neuenheimer Wohlstandsbürger nicht einmal die Hand schütteln wollen. Sogar ihre Kundschaft vorne am Stammtisch verachtet sie und kommt nur wegen der günstigen Preise. Maria ist Sizilianerin, sie hat eine Glatze, spricht schlecht Deutsch, und wenn sie irgendwann einmal aufgibt, wird der Englische Jäger sofort in eine Tapas-Bar oder einen Sushi-Treff verwandelt.
Aber sie gibt nicht auf. Für die unteren Einkommensklassen hat die kleine Frau mehr getan als alle Sozialgesetze der letzten 10 Jahre. Sie ist es, die Heidelbergs dritten Stand vor dem Hungertod bewahrt. Inflation, Erhöhung der Mehrwertsteuer, explodierende Preise, sinkendes Durchschnittseinkommen … na und? Marias Fritten kosten immer noch das, was sie kosteten, als ich nach Heidelberg kam. Nur, warum das so ist, konnte mir noch niemand erklären. Weil Maria zum Samariterorden gehört? Weil sie die Gesetze der Marktwirtschaft nicht kapiert hat? Weil sie schwer von Kapee ist? Vielleicht. Nichts davon ist auszuschließen. Vielleicht aber auch, weil sie weiß, dass ihr die paar Cent, die sie ihren Quartalstrinkern und all den anderen Angeschwemmten aus den löchrigen Taschen ziehen könnte, nicht weiterhelfen würden. Oder weil Menschen wie Maria grundsätzlich auf der Verliererseite des Lebens stehen. Ich fände das sympathisch.
Denn, wie es der Zufall will, da stehe ich auch. Kein Mitleid, bitte schön, man muss den Tatsachen ins Auge sehen. Als ich einmal vor der Wahl stand, mit dem attraktivsten Mädchen des Landkreises zum Abschlussball der Tanzstunde oder ohne sie zu einem Europapokalspiel des 1. FC Kaiserslautern zu gehen, baute sich meine Mutter mächtig vor mir auf und fragte mich mit bebender Stimme: Willst du denn ewig auf der Seite der Verlierer stehen, Max? Ich verstand damals nicht, was sie meinte. Die Roten Teufel aber schieden zu Hause gegen eine dieser Knochenbrechermannschaften aus dem Ostblock aus – welche war es noch? Steaua Bukarest? Universitatea Craiova? –, und ich stand heulend in der Westkurve, über die gerade ein Wolkenbruch niedergegangen war. Mein Vater hatte sich an diesem Tag nicht eingemischt, weil er ein grauenhafter Tänzer war und mich als Fünfjährigen in die Kultstätte Betzenberg eingeführt hatte. Seine Stunde schlug zwei Jahre später, als ich durchs Abitur rasselte. Der Sohn eines Pfarrers, und wegen Latein durchgefallen! Das traf ihn tief.
Es traf ihn so sehr, dass er mir wohl am liebsten eine gescheuert hätte. Ich war nämlich zu spät und übernächtigt zur entscheidenden Klausur erschienen und hatte deshalb die nötige Punktzahl verfehlt. Dann aber kam meinen Eltern zu Ohren, dass ich die Nacht vor der Prüfung im Hause des Gemeindebibliothekars, dessen Tochter als läufiges Mädchen galt, zugebracht hatte; und schon regte sich in meinem Vater (der vor seiner theologischen Laufbahn ein echter Schwerenöter gewesen war) ein klein wenig Verständnis für seinen triebgesteuerten Sohn, auch wenn er es nicht zugab. Wieder etwas später jedoch machte ein neues Gerücht die Runde, und dieses besagte, dass es mein bester Freund jener Zeit, unser Schulsprecher, gewesen war, der sich mit dem Mädchen vergnügt hatte, während ich mit ihrem Bruder, dem Sohn des Gemeindebibliothekars also, bis zur Morgendämmerung im Hobbykeller gesessen und gekifft hatte, was die Lunge hergab.
Als mein Vater das hörte, zitierte er mich, schwer getroffen an Körper und Seele, in sein Arbeitszimmer. Er wies auf die vergilbten Fotos, die über seinem Schreibtisch hingen: Schau dir unsere Vorfahren an, sagte er. Sie alle waren Meister darin, erfolglos, nutzlos, verantwortungslos durchs Leben zu stolpern, und nun hast du dich ihrer als würdig erwiesen.
Wieso?, fragte ich. Haben die auch gekifft?
Max, antwortete mein Vater ernst, und man sah, wie schwer es ihm fiel, die richtigen Worte zu finden. Max, sagte er, über unserer Sippe liegt ein Fluch, glaub mir das. Ein Fluch. Wer den Namen Koller trägt, den hat das Schicksal zum Verlierer bestimmt.
Sicher, mein Vater ist Pfarrer, und er hielt sich für die einzige Ausnahme seines unglücklichen Geschlechts. Trotzdem habe ich damals nicht über seine pathetischen Worte gelacht, und genauso wenig lache ich heute darüber. Das Abi holte ich im Folgejahr nach, aber auch das änderte nichts. Leute wie ich mögen schneller sein als ein Streifenwagen, dem Fluch entkommen sie nicht.
Ich betrachtete die Schachfiguren vor mir. Die Partie stand auf Messers Schneide. Meine Türme waren zur Bewegungslosigkeit verurteilt, dafür wurde es für Herberts Dame allmählich eng. Es war ein gutes Gefühl, vor dem Schachbrett sitzen und in Ruhe ein Bier trinken zu können, ein gutes Gefühl, dem Chaos in der Plöck entronnen zu sein – aber was hiervon war mein Verdienst? Was hatte ich dazu beigetragen? Hier lief doch ein Spiel, dessen Regeln mir keiner mitgeteilt hatte. War ich ein Turm, ein Springer? Oder reichte es mal wieder nur zu einem Bauern?
Der schöne Herbert verzog sein Gesicht zu einer leidenden Grimasse. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis er mich matt setzte.
Ich befühlte meine linke Augenpartie. Der Bluterguss über dem Jochbein schmerzte. Es war dreist gewesen, mir in diesen Damenwäscheladen zu folgen und so lange vor der Umkleidekabine zu warten, bis ich aus einem Vorhangspalt herauslugte. Wer tat so etwas? Wer konnte so kräftig und präzise zuschlagen? So präzise, dass ich nicht ohnmächtig geworden war, sondern nur eine Weile bewegungsunfähig auf dem Boden herumgelegen hatte, wie in dicken, wattierten Nebel eingehüllt. Während ich vor mich hinstöhnte, waren in der Ferne gedämpfte Frauenstimmen und das helle Bimmeln der Türklingel zu hören.
Und dann? Irgendwann gelang es mir, mich aufzurappeln. Ich stellte den Hocker wieder hin und ließ mich auf ihn fallen. Rücken und Kopf an die Wand gelehnt, stöhnte ich ein Weilchen weiter, betastete die schmerzenden Stellen und versuchte einen Sinn hinter all diesen absurden Handlungen zu entdecken. Warum hatten es plötzlich alle auf mich abgesehen? Ein Silberrücken mit Pfefferspray, zähnebleckende Streifenpolizisten, ein geheimnisvoller Boxer. Liefen nur noch Verrückte durch die Stadt? War zu viel Testosteron in der Luft?
Es blieb bei diesen stummen Fragen. Keiner antwortete, keiner half mir. Ich richtete mich auf, setzte zwei wacklige Beine in Bewegung, torkelte an der Verkäuferin vorbei und trat hinaus auf die Straße.
Alles ruhig. In der Hofeinfahrt gegenüber lag mein rotes Fahrrad.
Eine halbe Stunde später war ich zu Hause.
»Jaja«, brummte Herbert von der anderen Seite des Schachbretts. »Jaja, schau, schau.« Er wusste längst, dass er das Spiel gewonnen hatte. Zugeben würde er es nicht. Denk doch nur, Max, bei der Eröffnung, bei dem Katastrophenbeginn … Wie soll man da erwarten, dass am Ende … Da hab ich aber noch mal Glück gehabt.
Gegen Herbert zu verlieren, ist keine Schande. Ich machte einen Verlegenheitszug.
Wir saßen zu sechst am Tisch. Die revolutionäre Brigade hatte sich verzogen, nur der lange Nickelbrillentyp leistete uns noch Gesellschaft, unterhielt sich aber hauptsächlich mit seinem Schnaps. Ihm gegenüber kraulte Tischfußball-Kurt seine beiden Dackel, flankiert von einem Intellektuellen mit grauem Rauschebart und einem Zimmermann auf Wanderschaft, der seinen Mund nur für einen gelegentlichen Rülpser öffnete. Maria hatte ein waches Auge auf den Koloss am Stammtisch, während im Hintergrund die drei Penner Skat kloppten; das knutschende Pärchen und der Dicke mit der Limo hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Die Teller mit den Pommes frites wurden mit atemberaubender Geschwindigkeit geleert.
Was sich genau auf dem Bergfriedhof abgespielt hatte, hatte ich meinen Zuhörern verschwiegen. Es genügte, wenn sie wussten, dass mich