führende Klingenteichstraße eingebogen, als sich auch schon eine lange Schlange hupender PKWs hinter mir bildete. Für die schmale Straße war mein Doppelsitzer einfach zu breit.
Ganz ruhig, sagte ich mir, bis nach unten ist es nicht weit, wir haben Samstagmorgen, kein Grund zur Eile. Leider sah der motorisierte Rest der Bevölkerung das anders. Ich glaubte, die Trompeten von Jericho hinter mir zu haben: Es wurde gehupt, Bremsen winselten, einer lehnte sich aus dem Beifahrerfenster und beschimpfte mich. Und was sie mir erst zuriefen, wenn sie mich überholten! Ich sehnte mich in die Stille des Bergfriedhofs zurück.
»Was erwartest du, Max?«, hätte Fatty gesagt. »Spießer sind das. Spießer, wie sie im Buche stehen. Und zwar in keinem schönen Buch.«
Vermutlich hatte er recht. Es waren Spießer, aber sie regten mich auf. Sogar ihre Autos regten mich auf, diese albernen Corollas und Civics und Passat Kombis. Es war immer dasselbe Spiel: Ein Motor heulte auf, man scherte nach links, zog an mir vorbei, gestikulierte und fluchte, dann sah ich nur noch die Hinterfratzen dieser scheußlichen Kleinwagen, regelrechte Metallgrimassen, die Rücklichter blitzten verächtlich, die Stoßstangen waren flach und breit und ähnelten zusammengekniffenen Lippen.
Wie elend lange diese Straße aber auch war! Und ich musste ja vorsichtig fahren.
Irgendwann löste sich meine linke Hand wie von selbst von der Lenkstange, fuhr zur Faust geballt nach oben und ließ den Mittelfinger gen Himmel zeigen. Ich weiß, man soll sich nicht auf das Niveau der anderen herablassen, aber es waren bloß noch ein paar 100 Meter hinab in die Altstadt, und danach gab es zweispurige Straßen, Platz zum Überholen, Abbiegemöglichkeiten. Außerdem tat es verdammt gut.
Hinter mir wurde gehupt.
Ich ließ die Hand in der Luft. Nebenbei gesagt, war es kein kleines Kunststück, sekundenlang freihändig eine steil abfallende Straße hinunterzurollen, mit der Rechten ein unbemanntes Rennrad zu dirigieren und mit der Linken nonverbal zu kommunizieren. Verständnis für diese akrobatische Leistung erwartete ich dennoch nicht.
Eine letzte Kurve, dann war es geschafft. Wieder hupte es hinter mir, lange und aufdringlich. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter und dann noch einen, um mich zu vergewissern. Ein Streifenwagen.
Das war natürlich Pech. Großes Pech sogar. Nicht ein einziger Polizist auf dem Bergfriedhof, und nun saßen sie mir im Nacken: zwei ehrgeizige Ordnungshüter auf der Jagd nach Verkehrssündern. Überm Steuer hing ein junger Sportsmann mit Schnauzbart, angespornt von einer kleinen Blonden, die eine hübsche Zahnreihe blitzen ließ, und beide sahen nicht gerade freundlich aus.
Was tun?
Bremsen? Aufgeben? Selbst wenn ich mich dazu entschlossen hätte – und einfach wäre es nicht geworden, bei meinem Tempo, mitten in der Abfahrt, zwei Fahrräder steuernd –, selbst wenn ich ihren Aufforderungen brav Folge geleistet und angehalten hätte, wären wir keine Freunde geworden. Ich hätte ihnen gestehen müssen, dass der Grund meiner rasanten Fahrt eine Leiche war, die sich in Luft aufgelöst hatte, dass mir ein Unbekannter im Kaschmirmantel die Augen verätzt hatte und dass ich ein Privatflic war, der sich mit anonymen Auftraggebern nachts auf einem Friedhof verabredete, einfach so. Eine nette Unterhaltung wäre das geworden.
Also tat ich nichts. Ich ließ den Dingen, das heißt: den Rädern, ihren Lauf und flitzte das letzte Steilstück der Klingenteichstraße hinab ins Tal, die Kirchtürme der Altstadt bedrohlich nahe vor Augen. Es war ein warmer Aprilmorgen, die Sonne schien mit erstaunlicher Kraft, ich schwitzte, hinter mir hupte es.
Die Klingenteichstraße mündet unten in die viel befahrene Friedrich-Ebert-Anlage, und spätestens dort war es vorbei mit der wilden Jagd. Ich würde an der Ampel halten müssen oder mich wie ein Lemming in die Kreuzung stürzen. Und selbst wenn ich es lebend über die vier Spuren der Anlage schaffte, würden sie mich bekommen. Ich hätte im Bett bleiben sollen.
Noch 200 Meter, noch 150 … Mein Doppelsitzer war kaum zu kontrollieren. Ich flitzte an parkenden Autos und überraschten Fußgängern vorbei, an einer etwas heruntergekommenen Jugendstilturnhalle, in der ich eines vergangenen, eines sehr fernen, sehr schönen Tages einmal Fußball mit einer Gruppe trotzkistischer Philosophen gespielt hatte. Dann kam mir ein Gedanke.
Er kam mir in Gestalt des Klingentores entgegen, eines ebenso pittoresken wie nutzlosen Baus rechts der Straße, vom Stadtteilverein liebevoll gepflegt und vom Tourismus missachtet. Es ist ein schmales Tor, zwei Fahrräder passen mit Mühe hindurch, allerdings hat bei seiner Errichtung im Mittelalter niemand an Fahrräder gedacht, denn der Torweg besteht aus Kopfsteinpflaster, das in einige Treppenstufen übergeht. Daran dachte ich allerdings in diesem Moment nicht. Ich sah nur das Klingentor und die Möglichkeit, meine Verfolger abzuhängen.
Jetzt oder nie! Ich riss meine beiden Fahrräder nach rechts, der Polizeiwagen schoss an mir vorbei und ich mitten durch das Klingentor hindurch. Szenenapplaus. Nun kamen die Stufen. Vier Räder, und alle verloren sie den Bodenkontakt. Ich biss die Zähne zusammen, ohne die Lenkstangen loszulassen. Dann der Aufprall. Keine Ahnung, wie ich es schaffte, aber ich stürzte nicht.
Links und rechts quietschten Reifen. Die Friedrich-Ebert-Anlage. Mein eigenes Bremsmanöver kam zu spät, umso schneller reagierten die übrigen Verkehrsteilnehmer. Wahrscheinlich hatte ihre Ampel gerade erst auf Grün geschaltet, ihr Tempo war nicht besonders hoch. Gleichwie, sie verhinderten eine Katastrophe. Ich schlitterte über die vierspurige Anlage, die Peterskirche vor Augen, bis zum Beginn der Grabengasse. Hinter mir wieder ein Hupkonzert.
Wenn ich nun geglaubt hatte, die Jagd sei zu Ende, dann hatte ich mich geirrt. Einige 100 Meter entfernt, in Höhe der Einmündung der Klingenteichstraße, heulte ein Martinshorn auf. Die beiden Polizisten verschafften sich an der Kreuzung, Gott weiß wie, freie Bahn, bogen verkehrswidrig rechts ab und preschten über die Friedrich-Ebert-Anlage auf mich zu. Verflucht, waren die empfindlich! Ich nahm wieder Fahrt auf, wollte zunächst der Grabengasse folgen, mitten hinein ins Herz der Altstadt, doch dann kam mir eine bessere Idee. Links von der Universitätsbibliothek, die ich inzwischen erreicht hatte, zweigt die Plöck ab, ein schmales Altstadtsträßchen, nur in eine Richtung befahrbar. Genauer gesagt gilt der Einbahnstraßenpfeil für Kraftfahrzeuge, nicht für Fahrradfahrer; wenn ich nun in westlicher Richtung in die Plöck einbog, verhielt ich mich völlig korrekt. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass kein Verkehrsplaner an einen Doppelsitzer gedacht hatte, wie ich einen fuhr.
Im Prinzip war ich gerettet.
Leider nur im Prinzip, denn ich hatte nicht mit der Entschlossenheit meiner Verfolger gerechnet. Vielleicht gehörten sie einer neuen Generation an, der athletische Schnauzbart und seine blonde Kollegin, vielleicht wollten sie sich gegenseitig etwas beweisen, vielleicht auch verwechselten sie die Situation mit einem Videospiel, und ich, Max Koller, war ein Alien auf vier Rädern, den sie so schnell wie möglich wegpusten mussten, um den nächsten Level zu erreichen. Was interessierte da ein ›Durchfahrt-verboten‹ Schild?
Ich war bereits einige Häuser weit gekommen, als ich das Martinshorn hinter mir durch die Plöck schallen hörte. Sie ließen also nicht locker. Sie wollten mich haben, unbedingt.
Ich fuhr weiter. Trat in die Pedale, so schnell ich konnte, die linke Hand bremsbereit, denn die Plöck war schmal und belebt. Vor mir stoben drei junge Mädchen auseinander, als ich sie anbrüllte, eine Gruppe behelmter Mountainbiker, die mir entgegenkam, machte bereitwillig Platz. Fußgänger drückten sich unter wütenden Zurufen an die Hauswände. Wenn mir nur kein Lieferwagen mit quadratischer Vorderfront begegnete! Ein kleines Auto dagegen wäre mir gerade recht gekommen: eines, an dem ich knapp vorbei passte, nicht aber meine Verfolger.
Doch da war kein Auto, bloß die Mountainbiker, die Fußgänger, fassungslose Passanten. Sie hörten das Martinshorn, und sie sahen einen Mann auf zwei Fahrrädern, der von einem Streifenwagen verfolgt wurde. Was sie wohl dachten? Ich hatte keine Gelegenheit, dem nachzugehen, denn im nächsten Moment war meine Jagd zu Ende. Es war kein Auto, das mich stoppte, kein Lieferwagen, auch kein überraschter Tourist.
Sondern eine Schule.
Eine Schule und davor 30, 40 Schüler mit Pausengetränk und Kippe. Sie standen einfach da und glotzten in meine Richtung. Wer hatte denn Schulstunden